Pharmazeutische Zeitung online
Umstrittene Hypothese

Multiple Sklerose als Venenerkrankung

30.05.2011  17:20 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Eine neue Theorie zur Krankheitsentstehung der Multiplen Sklerose hat in der Fachwelt heftige Diskussionen ausgelöst. Mittlerweile zeigt sich jedoch immer deutlicher: Die sogenannte CCSVI-Hypothese steht auf tönernen Füßen – auch wenn es im Internet reihenweise Berichte von angeblichen Wunderheilungen gibt.

Im Jahr 2009 stellte der italienische Gefäßchirurg Paolo Zamboni die Theorie auf, dass eine Störung des venösen Blutflusses im Gehirn für die Entstehung der Multiplen Sklerose (MS) verantwortlich ist (doi: 10.1016/j.jns.2008.11.027). Hintergrund dieser als CCSVI (chronische cerebrospinale venöse Insuffizienz) bekannt gewordenen Hypothese war die Beobachtung, dass MS-Herde im Gehirn häufig entlang der Venen angeordnet sind. Zamboni zufolge behindern Venen­stenosen bei MS-Patienten den Blutabfluss aus dem Gehirn und führen zu einer chronischen Blutstauung, in etwa so wie bei einer chronischen Insuffizienz der Beinvenen. In den Stauungsbereichen im Gehirn überwinden Erythrozyten leicht die gestörte Blut-Hirn-Schranke und werden anschließend von Makrophagen abgebaut, was zur Ab­lagerung von Eisen führt. Diese Eisenablagerungen sind laut CCSVI-Hypothese der Trigger für die MS-typischen lokalen Entzündungsreaktionen. Eine Erweiterung der betroffenen Gefäße mittels Ballondilatation oder Stents führe dementsprechend zu einer Besserung der MS-Symptomatik.

Die CCSVI-Hypothese war auf der Jahrestagung der US-amerikanischen neurologischen Fachgesellschaft AAN auch in diesem Jahr Diskussionsthema. Aber: »Es mehren sich die Stimmen, die die CCSVI nicht als Ursache der MS ansehen«, berichtete Professor Dr. Friedemann Paul von der Berliner Charité bei einer von der Firma Merck unterstützten Veranstaltung in Berlin. Paul zufolge ist die Mehrheit der Experten mittlerweile der Auffassung, dass Zambonis Theorie nicht haltbar ist. »Die Hypothese, dass die CCSVI die bisher unentdeckte monofaktorielle Ursache für MS ist, kann als widerlegt angesehen werden«, erklärte Paul.

 

CCSVI mögliche Folge der MS

 

CCSVI ist also wohl nicht die Ursache, könnte aber eine Folge der MS sein. Denn bei der Diagnosestellung sei eine CCSVI in der Regel nicht vorhanden, sie trete erst im späteren Verlauf der MS-Erkrankung auf. »Erste Daten, wonach es eventuell bei länger und schwerer erkrankten Patienten mehr venöse Auffälligkeiten gibt als zu Beginn der Erkrankung, könnten darauf hindeuten, dass es zu Veränderungen im venösen System als Konsequenz der MS kommt«, sagte Paul. Zu diesem Zeitpunkt komme aber auch eine weitere mögliche Erklärung für die Gefäßverengungen in Betracht, nämlich ganz einfach das höhere Lebensalter der Patienten. Paul fasste zusammen: »Eine Empfehlung für eine therapeutische Gefäßintervention als kausale Behandlung der MS kann aus den vorliegenden Daten nicht abgeleitet werden.«

 

Diese wissenschaftlich sachliche Einschätzung wird jedoch nicht von allen Betroffenen geteilt. »Geben Sie einmal CCSVI bei Youtube ein. Sie werden erstaunt sein, was Sie da zu sehen bekommen«, sagte der Neurologe. In zahlreichen Videos werde dort die Gefäßerweiterung als Wundermittel gegen MS angepriesen. »Diese Anbieter sind allesamt unseriös. Kein einziger kann seine angeblichen Erfolge wissenschaftlich belegen«, so Paul. Dennoch forderten viele Internet-Communities und Selbsthilfegruppen die Kostenübernahme für gefäßerweiternde Therapien bei MS. In Kanada habe es deswegen sogar schon Demonstrationen gegeben.

 

Hierzulande hat die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft bereits 2009 in einer Stellungnahme Zweifel an der CCSVI-Hypothese angemeldet. Die von Zambonis Arbeitsgruppe vorgestellten Studienergebnisse entbehrten einer soliden wissenschaftlichen Methodik und seien damit wertlos und sogar ethisch bedenklich. Auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie warnte 2010 vor gefäßerweiternden Interventionen bei MS. Solche Eingriffe seien unnötig und gefährlich, Zambonis zugrunde liegende Theorie sei wissenschaftlich nicht haltbar, hieß es. / 

Mehr von Avoxa