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Versorgungsforschung

Depressionen werden oft nicht erkannt

30.05.2011  17:17 Uhr

Von Liva Haensel, Berlin / In Deutschland leiden rund acht Millionen Menschen an depressiven Erkrankungen. Erkannt wird die Krankheit, die oftmals als Müdigkeit oder Ausgelaugt-Sein betrachtet wird, jedoch längst nicht immer. Eine neue Studie zeigt, wo Lücken in der Versorgung bestehen.

Zwei Jahre lang dauerte es, bis Thomas Müller-Rörich erfuhr, dass er krank war und es eine Therapie für ihn gab. Sein Hausarzt, ein Homöopath und »ein Mediziner, dem ich absolut vertraue«, fand nicht heraus, dass Rörich depressiv war.

Erst ein Kollege des Mediziners, der den Arzt im Urlaub vertrat, diagnostizierte schließlich die Depression. Danach verbrachte Rörich, heute Vorsitzender der Deutschen Depressionsliga, einige Zeit in einer Klinik – und war entsetzt über die hohen Kosten dort, die er als Privatpatient tragen musste. Die Be­hand­lungskosten beliefen sich auf rund 10 000 Euro. »Ein Wahnsinn«, sagt er heute.

 

Kosten von 4,5 Milliarden Euro

 

Die Tatsache, dass Depressionen bei Patienten oft gar nicht, nicht korrekt oder erst sehr spät erkannt werden, veran­lass­te die Bundesärztekammer nun dazu, den Ursachen auf die Schliche zu kommen.

 

Die Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten kostet das Krankheitsbild pro Jahr 4,5 Milliarden Euro. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) führt daher bis Jahresende ein Forschungsprojekt durch, das mithilfe anonymisierter Krankendaten von Depressiven deren Krankenverläufe untersucht. Teilergebnisse stellte die beteiligte Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) jetzt in Berlin gemeinsam mit dem Psychopharmakahersteller Lilly vor. Sie zeigen, dass zwar 98 Prozent der Patienten in den untersuchten Jahren 2005 bis 2007 ambulant versorgt wurden, aber nur 40 Prozent davon tatsächlich in fachlich geeigneter Behandlung waren.

 

Für knapp 3,3 Millionen der insgesamt zehn Millionen Versicherten der beteiligten Krankenkassen wurden eine oder mehrere psychische Erkrankungen dokumentiert. 22 Prozent der Betroffenen waren deswegen zeitweilig arbeitsunfähig.

 

Oftmals laufe der Erstkontakt über den Hausarzt, der dann weiter entscheide, so wie es bei Thomas Müller-Rörich passierte. Warum Depressive nicht gleich zum Psychiater gehen oder sich in die Hände eines Psychologen begeben, die für sie geeigneter wären, hat mehrere Ursachen.

 

Eine davon sei die »niedrigere Hemmschwelle« bei einem Hausarzt, sagte Rörich. Noch immer sei das Thema Depression tabuisiert, obwohl mittlerweile in der Bevölkerung ein Wandel zu beobachten sei. Die Studie zeige auch, dass Hausärzte besser geschult werden müssten, gab Projektleiter Professor Dr. Wolfgang Gaebel vom Klinikum der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu. Dort wird im Laufe des Jahres das »Curriculum der psychischen Grundversorgung« eingeführt, das Allgemeinmediziner weiterbilden soll. Ob diese das Angebot dann auch annehmen, sei indes eine andere Frage.

 

Das sogenannte Hausarztmodell, seinerzeit unter der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt vorangetrieben, soll weiter von den Krankenkassen gestärkt werden – das scheint dazu im Widerspruch zu stehen.

 

Streit ums Hausarztmodell

 

»Wir rütteln nicht an diesem Prinzip«, sagte DAK-Chef Professor Dr. Herbert Reb-scher. Lange Krankheitswege kosteten automatisch mehr Geld. Ökonomisch sei das Hausarztmodell reiner Unsinn, erklärte dagegen Professor Dr. Matthias Graf von der Schulenburg. Der Ökonom der Leibniz Universität Hannover: »Bis heute ist das nicht kostengünstiger, es war damals bloß politisch getriggert.«

 

Den Depressiven nützen diese Streitigkeiten wenig. Depressive Erkrankungen nehmen weiter zu und befinden sich nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer heute auf Platz zwei direkt nach Diabetes. Die Erkrankten leiden oft still vor sich hin. Angebote im Internet, Programme von Selbsthilfegruppen oder Plakataktionen mit Telefonnummern und Kontaktadressen sollen schneller Hilfe geben.

 

Die endgültigen Ergebnisse der Studie werden voraussichtlich 2012 vorgestellt. Sie sollen die Versorgung psychisch Kranker über einen Zeitraum von drei Jahren detailliert beschreiben. Erwartet werden Hinweise auf Probleme wie Über-, Unter- und Fehlversorgung bei der Behandlung depressiver Menschen. Auch die Ergebnisse der Therapie werden gemessen. Kriterien sind die Dauer der Arbeitsunfähigkeit oder die stationäre Wiederaufnahmerate. Die DAK-Patienten wissen übrigens nichts von der Studie, die ihre individuellen Krankheitsakten auswertet – wenngleich in anonymisierter Form. /

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