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Harninkontinenz

Therapieren statt akzeptieren

06.05.2014  10:13 Uhr

Von Katja Renner / Inkontinenz ist ein Symptom mit vielfältigen Ursachen. Häufig wird sie als Alterserscheinung hingenommen. Dass medikamentöse und nicht-medikamentöse Maßnahmen die Beschwerden lindern und sogar heilen können, ist in der Bevölkerung kaum bekannt.

Als Harninkontinenz bezeichnet man die fehlende oder mangelnde Fähigkeit des Körpers, den Blaseninhalt zu halten und selbstbestimmt zu entleeren. Für die Betroffenen bedeutet das eine enorme Einschränkung der Lebensqualität. Sie schämen sich für ihre Blasenschwäche, ziehen sich ihrem sozialen Umfeld zurück und tabuisieren die Erkrankung. Nicht selten ist die Apotheke die erste Anlaufstelle für ratsuchende Menschen. Dann kann das Apothekenteam die Betroffenen zum Arztbesuch und zu einer ausführlichen Untersuchung ermutigen und ihnen Optionen für eine Behandlung aufzeigen. Ziel ist es, dass jeder Patient eine individuell geeignete Therapie erhält, die seine Lebens­qualität erhöht.

Wer ist betroffen?

 

Die International Continence Society (ICS) definiert Harninkontinenz als jeglichen unfreiwilligen Urinverlust. Stu­dien zur Epidemiologie variieren sehr stark, weil sie fast ausschließlich auf Befragungen beruhen, die mit unterschiedlichen Methoden, basierend auf verschiedenen Definitionen der Inkontinenz und Zielgruppen durchgeführt wurden.

 

Inkontinenz wird immer noch als Seniorenproblem angesehen. Doch auch junge Menschen, zum Beispiel mit Behinderungen, Frauen nach Entbindung oder Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson leiden daran. Die im Volksmund so bezeichnete Blasenschwäche kommt in allen Altersgruppen vor, nimmt im höheren Lebensalter aber zu. Etwa 30 Prozent der Über-80-Jährigen sind betroffen (1). Frauen leiden etwa doppelt bis viermal so häufig darunter wie Männer, wobei sich die Prävalenzraten im hohen Alter annähern. Die Häufigkeit der Belastungsinkontinenz bei Frauen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren wird auf 10 bis 40 Prozent geschätzt (2).

 

Das erhöhte Risiko von Frauen ist unter anderem auf die weibliche Anatomie zurückzuführen. Diese ist auf die Fähigkeit zur Schwangerschaft und Entbindung ausgerichtet: Das Becken hat einen großen Querschnitt, eine schwächere Beckenbodenmuskulatur und mündet in den Vaginaltrakt. Probleme mit der Kontinenz sind nach einer Entbindung relativ häufig, verschwinden aber oft innerhalb eines Jahres. Studien zeigen, dass ein gezieltes Beckenbodentraining das Risiko senken kann (3). Bei Männern über 50 Jahren sind Prostataerkrankungen oder die Prostatektomie (operative Entfernung der Prostata) nach Prostatakarzinom eine häufige Ursache für Inkontinenz.

 

Speicherorgan Blase

 

Die normale Blasenfunktion beruht auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren, bei dem Beckenboden- und Blasenmuskulatur, Gehirn und vegetatives Nervensystem eine wichtige Rolle spielen. Die Blasenwand besteht aus drei Muskelschichten, die zusammen als Detrusormuskel bezeichnet werden. An- und Entspannung der Muskeln werden durch Sympathikus und Parasympathikus gesteuert.

 

Der in den Nieren gebildete Urin gelangt zunächst in das Speicherorgan, die Harnblase. Dort können je nach Fassungs­vermögen bis zu 1000 ml Harn gesammelt werden. Mit steigendem Füllungsvolumen werden neuronale Signale über Dehnungsrezeptoren an das Gehirn geschickt, wo sie als Harndrang wahrgenommen werden. Dieser kann normalerweise eine Zeitlang unterdrückt werden.

 

In der Regel geht ein Mensch sechs- bis achtmal täglich zur Toilette. Bei der Entleerung kontrahiert die Blasenmuskulatur, gleichzeitig erschlaffen der innere Schließmuskel und die Becken­bodenmuskulatur. Nach dem Toilettengang bleiben maximal 5 bis 10 ml Restharn in der Blase zurück.

 

Arzneimittel können Inkontinenz fördern

 

Viele Arzneistoffe beeinflussen die Blasen­funktion und können so eine medikamenteninduzierte Inkontinenz auslösen (4) (Tabelle 1). Wenn ältere Menschen eine Inkontinenz entwickeln oder eine bestehende Blasenschwäche zunimmt, sollte der Apotheker die Medika­tion überprüfen. Dies gilt besonders für Senioren, die mehrere Arznei­mittel einnehmen. Typische Arznei­stoffe mit Wirkung auf die Kon­tinenz sind zum Beispiel Diuretika, die die Flüssigkeitsausscheidung erhöhen. ACE-Hemmer, Calciumantagonisten, Cholinesterase- und MAO-Hemmer erhöhen die Blasenaktivität. Benzodiazepine und α-Blocker sorgen für eine Relaxa­tion der Blasenmuskulatur und fördern so eine Inkontinenz.

 

Bei Verdacht auf eine medikamenteninduzierte Inkontinenz kann bereits die Änderung von Einnahmezeitpunkt und Dosierung die Symptome bessern. Denkbar ist auch eine generelle The­rapie­umstellung auf ein die Kontinenz nicht beeinflussendes Arzneimittel durch den Arzt.

Tabelle 1: Arzneimittelgruppen mit Auswirkungen auf die Kontinenz

Arzneistoffgruppen Beförderte Inkontinenzform
Diuretika (Erhöhung der Flüssigkeitsausscheidung) alle Formen der Inkontinenz
Cholinergika, Cholinesterase-Hemmer, Betarezeptorenblocker, Digitalis-Wirkstoffe, Prostaglandin E1 und E2 Dranginkontinenz
ACE-Hemmer, Benzodiazepine, α-Sympathomimetika, Muskelrelaxanzien Belastungsinkontinenz
Betasympathomimetika, tri- und tetrazyklische Antidepressiva, Neuroleptika, Anticholinergika, Antiemetika, Phenytoin Überlaufinkontinenz

 

Diagnostik als Basis der Therapie

 

Betroffene Menschen gehen oft erst nach einer längeren Leidenszeit zum Arzt oder in die Apotheke und suchen dort Rat. Grundlage einer individuellen und erfolgreichen Therapie ist immer eine ärztliche Diagnostik (4). Ein sorgfältiges Anamnesegespräch verbunden mit einer einfachen Urinuntersuchung stellt die Basis der Diagnostik dar. Zur Beschreibung der Charakteristik des Harnverlustes sind der Fragebogen und die Toiletten- und Trinkprotokolle der Deutschen Kontinenz Gesellschaft gut geeignet (5). Sinnvoll ist es, wenn der Patient vor dem Arztbesuch zwei bis drei Tage lang ein Trink- und Miktionsprotokoll führt.

 

Eine weitergehende fachärztliche Diagnostik ist angezeigt, wenn der Hausarzt Hinweise auf eine schwere oder komplizierte Harninkontinenz feststellt oder der Therapieerfolg ausbleibt. Urologische Untersuchungsmethoden sind die Zystoskopie (Blasenspiegelung) bei Verdacht auf Tumoren, die Uroflowmetrie zur Harnflussmessung, die Sonografie der Blase und das Miktions-Zysto-Urethrogramm, eine Röntgenuntersuchung. Urodynamische Tests ermöglichen Rückschlüsse auf eine Belastungsinkontinenz. Eine vaginale gynäkologische Untersuchung dient dazu, eine Gebärmuttersenkung oder einen -vorfall (Prolaps) zu erkennen oder auszuschließen.

 

Inkontinenzbeschwerden werden erfolgreich behandelt, wenn bekannt ist, welche Art von Inkontinenz vorliegt. Besonders häufig sind die Belastungs- und die Dranginkontinenz sowie Mischformen (Tabelle 2).

Tabelle 2: Einteilung der Inkontinenzformen nach ICS (8)

Formen Definition, Symptomatik
Belastungsinkontinenz unwillkürlicher Harnverlust bei körperlicher Anstrengung (Husten, Lachen, Niesen, Sport) ohne Harndrang
Dranginkontinenz (überaktive Blase) unwillkürlicher Harnverlust in Kombination mit starkem Harndrang, mit oder ohne Detrusorinstabilität
Mischinkontinenz unwillkürlicher Harnverlust mit Harndrang, aber auch bei körperlicher Anstrengung
Sonderformen neurogene Inkontinenz (Reflexinkontinenz) extraurethrale Inkontinenz (bei Fisteln) Überlaufinkontinenz Giggle-Inkontinenz

 

Belastungsinkontinenz sicher erkennen

 

Unwillkürlicher Urinverlust beim Husten, Niesen oder sportlicher Aktivität: So beschreiben Frauen ihre Probleme, wenn eine Belastungsinkontinenz (früher Stressinkontinenz genannt) vorliegt (Grafik, oben). Sie ist die häufigste Inkontinenzform bei Frauen (6) und entsteht durch eine Funktionsschwäche des Schließmuskelsystems und der Beckenbodenmuskulatur.

 

Hormonelle Veränderungen während der Menopause und der Verlust der Elastizität der Beckenbodenmuskulatur mit zunehmendem Lebensalter sind Gründe dafür, dass das Risiko für eine Belastungsinkontinenz bei Frauen deutlich größer ist als bei Männern. Dazu kommt oftmals eine Schwäche der Bänder, die Muskeln und Organe des Unterleibs zu halten. In der Folge senkt sich die Blase (Deszensus) und begünstigt Probleme des Schließmechanismus.

 

Bei Männern tritt eine Belastungsinkontinenz viel seltener auf, zum Beispiel nach einer radikalen Prostataentfernung, wenn das Schließmuskelgewebe bei der Operation verletzt wurde (7).

 

Zur Bestimmung des Schweregrads der Inkontinenz empfiehlt die Deutsche Kontinenz Gesellschaft einen Vorlagenwiegetest (1-Stunden-Pad-Test; Messung des Urinverlusts in eine spezielle Slipeinlage nach definierten Übungen) (8). Ansonsten gibt es die Klassifikation in drei Schweregrade in Anlehnung an Ingelmann-Sundberg (9). Urinverlust beim Husten, Niesen, Pressen und Lachen ist danach eine Belastungsinkontinenz des Schweregrads I. Bei Grad II geht der Harn bereits beim Heben, Aufstehen oder Laufen ab, bei Grad III sogar im Liegen. Abzuklären ist außerdem, ob der Urinverlust ohne vorheri­gen Harndrang auftritt.

 

Physiotherapie als Basis

 

Grundsätzlich kann die Belastungsinkontinenz konservativ oder operativ behandelt werden. Bei einem ausgeprägten Deszensus oder Prolaps kann eine sofortige operative Therapie erforderlich sein; ansonsten haben konservative Methoden Vorrang (8). Dies sind Gewichtsreduktion, Physiotherapie, Einsatz von stützenden Hilfsmitteln und Medikamente.

Das A und O gegen die Belastungsinkontinenz ist die Entlastung und Stärkung des Beckenbodens. Physiotherapeuten oder Hebammen bieten professionelles Training an. Biofeedback und Elektrostimulation können das Training unterstützen. Mithilfe von in die Scheide eingeführten Vaginalkonen, die bei normalen Alltagsaktivitäten gehalten werden müssen, kann nach und nach die Aktivität der Muskulatur gesteigert werden. Außerdem helfen Pessare oder Vaginaltampons, die durch den schwachen Beckenboden gesenkten Organe zu stützen.

 

Die erste Wahl zur Pharmako­therapie der Belastungsinkontinenz ist Duloxetin. Der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer ist für diese Indikation auch zugelassen. Duloxetin erhöht den Muskeltonus der quergestreiften Muskulatur am Harnröhren­schließmuskel. Die empfohlene Dosierung liegt bei zweimal täglich 40 mg. Tritt nach zweiwöchiger Einnahme der Zieldosis keine Besserung ein, ist die Perspektive für einen spä­teren Wirkungs­eintritt eher schlecht und eine Fortsetzung der Gabe sollte überdacht werden.

 

Zur Vermeidung von Nebenwirkungen wird eine einschleichende Dosierung (zweimal täglich 20 mg über zwei Wochen) angeraten. Eine Untersuchung zur Einnahme unter »Alltagsbedingungen« zeigte eine hohe Nebenwirkungsrate, insbesondere Übelkeit (24 Prozent) und zentralnervöse Beschwerden. Dies führte zu einem sehr hohen Anteil an Therapieabbrechern von 66 Prozent innerhalb von vier Wochen (10).

 

Laut Leitline zur Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau soll allen postmenopausalen Frauen mit Harninkontinenz eine lokale Estrogentherapie empfohlen werden (11). Die Therapiedauer und der beste Applikationsmodus sind noch unklar und individuell mit dem Arzt zu besprechen.

 

Versagen konservative Methoden, werden heute in erster Linie minimal­invasive Eingriffe ausgeführt. Bei der Kolposuspension nach Marshall-Marchetti wird der Blasenhalsbereich angehoben und neu fixiert, wodurch die Harnröhre bei Druckanstieg unter Belastung verschlossen bleibt. Andere Methoden sind die Schlingensuspen­sion des mittleren Harnröhrenbereichs oder die paraurethrale Injektion von Substanzen, die die Urethralschleimhaut unterfüttern (12).

Fragen für das Beratungsgespräch

Modifiziert nach (18)

 

  • Verlieren Sie bei Husten, Niesen oder sportlicher Belastung unwillkürlich Urin, ohne dass Sie zuvor ­einen Drang verspürt haben?
  • Wie häufig müssen Sie am Tag oder in der Nacht auf die Toilette?
  • Spüren Sie manchmal einen ­plötzlichen, unkontrollierbaren Harndrang, sodass Sie es kaum zur Toilette schaffen?
  • Wie lange haben Sie bereits die ­Beschwerden?
  • Welche Maßnahmen haben Sie ­bereits ergriffen?
  • Hat Ihr Arzt schon eine Diagnose gestellt?
  • Welche Medikamente nehmen ­ Sie dauerhaft gegen welche Erkrankungen ein?

Dranginkontinenz

 

Anders als bei der Belastungsinkontinenz verspüren Patienten mit Dranginkontinenz bereits bei geringer Blasenfüllung einen ausgeprägten Drang, sodass sie häufig schon auf dem Weg zur Toilette Harn verlieren. Auslöser ist eine Überaktivität des Detrusors, der für die Entleerung zuständig ist. Normalerweise senden Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand erst bei halber Füllung ein Signal an das Gehirn, um das Dranggefühl auszulösen. Bei der Dranginkontinenz, auch Reizblase genannt, kontrahiert sich die Muskulatur bereits, wenn die Blase nur wenige Milliliter enthält; dadurch steigt der Druck zur Entleerung an. Die Ursache der vermehrten Detrusor-Kontraktionen liegt einerseits in einer erhöhten Empfindlichkeit von Muskarin­rezeptoren und andererseits in einer mangelhaften Hemmung von Harndrangimpulsen (12).

 

Die Dranginkontinenz kann Teil des sogenannten Syndroms der überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) sein, das wiederum durch schwer unter­drückbaren Harndrang charakterisiert ist. Eine OAB kann jedoch auch ohne Inkontinenzsymptomatik bestehen (4).

 

Bei Menschen mit Blasentumoren, schweren Blaseninfektionen oder neurodegenerativen Erkrankungen (Morbus Parkinson, Multiple Sklerose und Morbus Alzheimer) ist die Dranginkontinenz häufig eine Sekundärerkrankung. Im Alter sind Männer und Frauen gleichermaßen betroffen. Insgesamt betrachtet ist die Dranginkontinenz bei Männern in jedem Alter die vorherrschende Inkontinenzform.

Giggle- und Überlaufinkontinenz

Bei der Giggle- oder auch Kicher-Inkontinenz (Enuresis risoria) tritt bei kräftigem Lachen ein unkontrollierter Urinverlust auf. Diese seltene Form der Dranginkontinenz ist überwiegend bei Mädchen – bei Jungen oder Erwachsenen praktisch nie – zu beobachten. Als Ursache wird vermutet, dass die zentralnervöse Hemmung des Miktionsreflexes nicht optimal funktioniert.

 

Die Überlaufinkontinenz tritt zum Beispiel bei gutartiger Prostatavergrößerung oder Harnabflussstörungen auf. Die Blase ist ständig bis zum Rand gefüllt; erst wenn der ­Verschlussdruck überschritten wird, entleert sie sich tröpfelnd. Auch neurologische Erkrankungen können die Ursache einer Überlaufblase sein. Die Gefahr ist, dass es zu einem Rückstau in die Nieren mit Funktionsverlust der Nieren kommen kann. Die Therapie fokussiert auf die Beseitigung der Entleerungs­störung.

Gegen den Drang

 

Die Therapie der Dranginkontinenz erfolgt laut Leitlinie (13) entsprechend der Diagnostik nach einem Stufenschema. Basis der Therapie sind wie bei der Belastungsinkontinenz das Toilettentraining, Führen eines Miktionskalenders und Beckenbodentraining (Stufe 1). Die Kombination von Beckenbodentraining und Elektrostimulation ist dabei am wirkungsvollsten (13).

 

In der symptomatischen Pharmakotherapie (Stufe 2) sind Anticholinergika, die die Muskarinrezeptoren der afferenten und efferenten Bahnen des vegetativen Nervensystems blockieren, Mittel der ersten Wahl. Sie senken die Miktionsfrequenz und erhöhen das Harnvolumen bei der Entleerung. Anticholinergika werden als Monotherapie eingesetzt oder mit anderen Maßnahmen, zum Beispiel der lokalen Estrogentherapie bei Frauen, kombiniert.

 

Leiden Männer unter einer benignen Prostatahyperplasie zusammen mit einer Dranginkontinenz, wirkt die Kombination aus Anticholinergikum und Alpharezeptorenblocker besser als eine Monotherapie oder Placebo (14). Auch die Kombination eines Anticholinergikums mit einem 5α-Reduktase­hemmer ist möglich. Vor der Gabe von Anticholinergika sollte eine Blasenauslassobstruktion ausgeschlossen werden, da sonst das Risiko eines akuten Harnverhalts besteht.

Fallbeispiel: Verordnungskaskade bei Dranginkontinenz

Eine 68-jährige Frau wünscht gegen ihre Zahnfleischentzündung Kamistad-Gel. Außerdem legt sie ein Rezept über Amitriptylin 25 mg N3 vor. Der Apothekerin ist bekannt, dass die Patientin seit einiger Zeit Oxybutynin wegen ihrer Dranginkontinenz einnimmt.

 

Es stellt sich heraus, dass die Patientin das trizyklische Antidepressivum erst seit vier Wochen im Rahmen einer Schmerztherapie von ihrem Neurologen bekommt. Besonders lästig seien die Schmerzen in der Nacht gewesen, sodass sie sich häufig mit Schlaftabletten (Doxylamin-haltiges Präparat) behelfe, berichtet die Frau. Seit der Einnahme von Ami­triptylin habe sie ständig einen trockenen Mund, was sie sehr belaste und auch schmerzhaft sei.

 

Dies ist ein Paradebeispiel für eine Verordnungskaskade, bei der Arzneimittel unerwünschte Wirkungen erzeugen, die dann ihrerseits wieder behandelt werden sollen. Aufgrund der Potenzierung der anticholinergen Wirkungen von Oxybutynin, Amitriptylin und Doxylamin succinat hat sich der Speichelfluss stark reduziert. Nach Inter­vention der Apothekerin beim Arzt wird Oxybutynin durch das nebenwirkungsärmere Darifenacin ersetzt. Außerdem rät die Apothekerin der Patientin generell von der Einnahme des bisherigen Schlafmittels ab und empfiehlt ein Baldrian-Präparat. Um die Mundtrockenheit zu bessern, gibt sie den Tipp, regelmäßig Xylit-haltige Kaugummis zu kauen und Mundspülungen zur Intensivierung der Zahnhygiene anzuwenden.

Anticholinergika als Mittel der Wahl

 

Eine Metaanalyse (15) kommt nach Aufarbeitung von 83 randomisierten pro­spektiven Studien zu folgender Bewertung: Anticholinergika sind bei der Behandlung der überaktiven Blase wirksam, sicher und verträglich. Sie verbessern die Lebensqualität des Betroffenen. Generell werden die neueren Wirkstoffe besser vertragen und scheinen etwas wirksamer zu sein. Die einmal tägliche Gabe sollte bevorzugt werden. Schwere Nebenwirkungen traten nicht signifikant häufiger auf als unter Placebo. Am häufigsten waren Mundtrockenheit und Juckreiz.

 

Die Wirkstoffe (Tabelle 3) unterscheiden sich in ihrer Selektivität bezüglich der Muskarinrezeptor-Subtypen. Für die Kontraktion der glatten Muskulatur im Verdauungstrakt sind M3-Rezeptoren verantwortlich. Weil Propiverin, Tolterodin und Fesoterodin eine ähnliche Affinität zu allen Muskarinrezeptoren – also auch zu den M1-, M4- und M5-Rezeptoren im zentralen Nervensystem und M2-Rezeptoren am Herzen – haben, können hier potenziell häufiger unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auftreten. In dieser Beziehung günstiger sind Darifenacin und Solifenacin, weil sie selektiver an M3-Rezeptoren wirken. Retardierte Präparate sollten bevorzugt werden, da sie besser verträglich sind.

 

Einer der älteren Wirkstoffe ist Oxybutynin, den es in verschiedenen Darreichungsformen (unretardierte, retardierte Tabletten, transdermales System, in USA auch als Gel) auf dem Markt gibt. Die mehrmals tägliche Gabe unretardierter Tabletten gilt wegen der schlechten Adhärenz und der UAW nicht mehr als Erstlinientherapie.

 

Typische anticholinerge Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, Tachykardie und Übelkeit. Bei nicht tolerablen UAW ist eine Umstellung auf einen anderen Wirkstoff innerhalb der Anticholiner­gika-Gruppe möglich und kann Besserung erreichen.

Tabelle 3: Anticholinergika zur Behandlung der Harninkontinenz

Wirkstoff, Handelspräparate (Beispiele) Dosierung (mg/Tag) gemäß Fachinfo Interaktionen/ Metabolisierung Besonderheiten
Darifenacin (Emselex®) 7,5 bis 15 Metabolisierung über CYP3A4 und CYP2D6; Höchstdosis bei gleichzeitiger Gabe von CYP3A4- oder CYP2D6-Inhibitoren: 7,5 mg; starke CYP3A4-Inhibitoren sind in Kombination nicht empfohlen selektiver M3-Rezeptor-Antagonist; bei schwerer Leberinsuffizienz nicht empfohlen
Fesoterodin- fumarat (Toviaz®) 4 bis 8 Metabolisierung zum aktiven Metaboliten 5-Hydroxymethyl-tolterodin; bei gleichzeitiger Gabe von CYP2D6- und CYP3A4-Inhibitoren mit 4 mg beginnen bei schwerer Leberinsuffizienz nicht empfohlen
Oxybutynin- hydrochlorid (Dridase®, Kentera® TTS) 7,5 bis 20 Metabolisierung nach oraler Gabe durch CYP-Enzyme, besonders CYP3A4; Vorsicht bei gleichzeitiger Gabe von starken CYP3A4-Inhibitoren bei transdermaler Anwendung keine First-Pass-Metabolisierung im Gastrointestinaltrakt und in der Leber; Vorsicht bei schwerer Leber- oder Niereninsuffizienz
Propiverin- hydrochlorid (Mictonorm®, Mictonorm Uno ®) 30 bis 45 Höchstdosis 15 mg bei gleichzeitiger Gabe von potenten Inhibitoren der flavinhaltigen Monooxigenase (FMO) wie Methimazol und potenten Inhibitoren von CYP 3A4/5; laut In-vitro-Daten: mögliche Interaktionen mit CYP3A4-Inhibitoren
Solifenacin-succinat (Vesikur®) 5 bis 10 Metabolisierung über CYP3A4; Höchstdosis bei gleichzeitiger Gabe von CYP3A4-Inhibitoren wie Ritonavir, Nelfinavir oder Itraconazol auf 5 mg senken; pharmakokinetische Interaktionen mit anderen Substraten von CYP3A4 (wie Verapamil, Diltiazem) und mit CYP3A4- Induktoren (wie Rifampicin, Phenytoin, Carbamazepin) möglich kompetitiver muskarinerger Rezeptorantagonist mit geringer M3-Selektivität; bei schwerer Leberinsuffizienz nicht empfohlen
Trospiumchlorid (Spasmex, Spasmolyt®, Urivesc®) 30 bis 45/60 kein Einfluss auf die metabolische Aktivität von CYP-Enzymen Affinität zu M1-, M2- und M3-Rezeptoren, bei stark eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance 10 bis 30 ml/min/1,73 m2) sollte die Tagesdosis von 20 mg nicht überschritten werden
Tolterodin (R,R) -tartrat (Detrusitol®) 2 bis 4 gleichzeitige systemische Behandlung mit starken CYP3A4-Inhibitoren (wie Makrolidantibiotika, Antimykotika und Antiproteasen) nicht empfohlen spezifischer Muskarinrezeptor- Antagonist; QT-Zeit-Verlängerung möglich

Bei Patienten mit Engwinkelglaukom, Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Miktionsproblemen (zum Beispiel bei Abflussstörungen) und Myasthenia gravis sind Anticholinergika kontraindiziert. Bei alten Menschen oder Patienten mit Polymedikation ist die Gesamtmedikation zu beachten. Interaktionen von Anticholinergika, zum Beispiel mit trizyklischen Antidepressiva, Amantadin oder Neuroleptika, können zu kognitiven Störungen, akutem Harnverhalt oder Verwirrtheit führen. Trospiumchlorid, Dari- und Solifenacin scheinen eher keine negativen Effekte auf die Kognition älterer Patienten zu haben (16).

 

Die PRISCUS-Liste (17) weist bei (un-)retardiertem Oxybutynin und unretardiertem Tolterodin auf kognitive Beeinträchtigung, Mundtrockenheit und ZNS-Störungen hin. Mundtrockenheit ist auch eine häufige UAW bei Solifenacin.

 

Was tun bei Therapie­resistenz?

 

Versagen konservative Therapiemethoden, sollten laut Stufenplan bei Patienten mit Dranginkontinenz invasive Methoden zum Einsatz kommen. Die Infiltration des Harnblasenmuskels mit Botulinum-A-Toxin ist ein minimalin­vasives Verfahren. Das verdünnte Toxin wird in zehn bis 30 Areale der Blasenwand injiziert. Ein Wirkungseintritt ist innerhalb von 14 Tagen durch Blockade der motorischen Endplatte (efferent) und der C-Fasern (afferent) zu erwarten. Wegen der begrenzten Wirkdauer sind wiederholte Injektionen möglich (13).

 

Zugelassen ist diese Methode bei neurogener Inkontinenz, zum Beispiel bei querschnitts-
gelähmten Menschen. Bei Patienten mit erhöhter Detrusor­aktivität setzen Ärzte Botulinumtoxin off label ein. Die sakrale Neuromodulation und die Blasenaugmentation sind die letzten Therapieoptionen, wenn alle zuvor beschriebenen Maßnahmen nicht zum Erfolg führen. /

Die Autorin

Katja Rennerstudierte Pharmazie an der Rheinischen Friedrich Wilhelm Universität, Bonn, und wurde an der Universität Köln promoviert. Seit 1996 ist sie in öffentlichen Apotheken tätig, zuletzt seit zehn Jahren in der Park-Apotheke in Wassenberg. Sie arbeitet seit 2000 als Dozentin für verschiedene Apothekerkammern und die ABDA. Ihr Schwerpunkt ist die praxisnahe Fortbildung zu Themen wie Depression, Kinder- oder Atemwegserkrankungen sowie zu Arzneimitteln in der Schwangerschaft. Sie ist Mitglied des Fort- und Weiterbildungsausschusses der Apothekerkammer Nordrhein und gehört zum Projektteam von ATHINA. Dr. Renner veröffentlichte zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und ist Buchautorin.

 

Dr. Katja Renner, Patersgraben 9, 41849 Wassenberg
E-Mail: k.k.renner(at)t-online.de

Literatur

  1. Hunskaar, S., et al., Epidemiology and natural history of urinary incontinence. Int. Urogynecol. J. Pelvic Floor Dysfunct. 11 (2000) 301-319.
  2. Hunskaar, S., et al., The prevalence of urinary incontinence in women in four european countries. BJU int. 93 (2004) 324–330. 
  3. Dupuis, O., Madelenat, P., Rudigoz, R. C., Fecal and urinary incontinence after delivery: risk factors and prevention. Gynecologie, obstétrique et fertilité 32 (6) (2004) 540-548. 
  4. RKI, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 39, Harninkontinenz (2007) 22.
  5. www.kontinenz-gesellschaft.de
  6. Schär, G., Harninkontinenz bei Frauen – ein häufiges und oft schweres Lebensqualitätsproblem. Schweiz. Med. Forum 6 (2006) 442-447.
  7. Vickers, A., et al., Cancer control and functional outcomes after radical prostatectomy as markers of surgical quality: analysis of heterogeneity between surgeons at a single cancer center. Eur. Urol. 59 (2011) 317-322.
  8. Dannecker, C., et al., Harninkontinenz der Frau: Teil 1 der Serie Inkontinenz. Dtsch. Ärztebl. Int. 107 (24) (2010) 420-426.
  9. Krzeski, T., Result of Ingleman-Sundberg method in the treatment of stress incontinence in women. Pol. Przegl. Chir. 33 (1961) 1425-1432.
  10. Duckett, J. R., et al., Tolerability and efficacy of duloxetine in a nontrial situation. BJOG 114 (2007) 543–547.
  11. AWMF, Interdisziplinäre S2e-Leitlinie: Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau. Kurzfassung. AWMF-Register-Nr. 015-005, Juli 2013. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015_005l_S2e_Belastungsinkontinenz_2013-07.pdf
  12. Bilharz, C., Inkontinenz im Alter. Dt. Apoth. Ztg. 26 (2013) 2662-2667.
  13. AWMF, S2k-Leitlinie: Die überaktive Blase – AWMF-Register-Nummer: 015-007, Stand 2010. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015-007l_S2k_Ueberaktive_Blase.pdf
  14. Lee, J. Y., et al., Comparison of doxazosin with or without tolterodine in men with symptomatic bladder outlet obstruction and an overactive bladder. BJU Int. 94 (2004) 817-820. 
  15. Chapple, C. R., et al., The Effects of Antimuscarinic Treatments in Overactive Bladder: An Update of a Systematic Review and Meta-Analysis. Eur. Urol. 54 (2008) 543-562.
  16. Robinson, D., Cardozo, L. Antimuscarinic drugs to treat overactive bladder. BMJ 27 (2012) 344: e2130. 
  17. www.priscus.net
  18. Schlatter, C., Inkontinenz. Pharm. Ztg. Nr. 35 (2010) 3166-3175.

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