Der Rationierung Paroli bieten |
29.04.2008 16:57 Uhr |
Der Rationierung Paroli bieten
Von Christian Lahm
Das dritte Berliner Roche-Forum widmete sich einem brisanten und hoch aktuellen Thema: dem Solidargedanken in der Medizin der Zukunft. Wird das Volksgut Gesundheit zerrieben zwischen dem Anspruch auf Solidarität und der Wirklichkeit leerer Kassen?
Gesundheit braucht intelligente Prioritäten, kritische Leistungs-Inanspruchnahme und offenen Dialog. So lasse sich am nachhaltigsten der politisch noch immer weitgehend tabuisierten wie ignorierten Rationierung in der medizinischen Versorgung Paroli bieten.
Auf diesen gemeinsamen Nenner waren die Statements von Wissenschaft und Industrie beim dritten Berliner Roche Forum in Berlin zu bringen. Thema: »Der Solidargedanke in der Medizin der Zukunft: zwischen Anspruch und Finanzierbarkeit«. Nachdrücklich forderte der CDU-Politiker Dr. Heiner Geißler, offen Methoden der Priorisierung zu erörtern. Der richtige Ort dafür sei der Bundestag, auf keinen Fall Kommissionen, die mit nicht betroffenen Experten besetzt seien.
Kritisches Gesundheitsbewusstsein
In einem leidenschaftlichen Plädoyer warb Roche-Vorstandschef Dr. Hagen Pfundner dafür, in der Bevölkerung ein kritisches Gesundheitsbewusstsein vergleichbar dem für besseren Klima- und Umweltschutz zu schaffen.
Am Ende könnte »Lust auf Gesundheit« einen ähnlichen Stellenwert haben wie engagiertes Eintreten für eine intakte Umwelt. Wohlüberlegte Inanspruchnahme von Leistungen helfe zum einen, die Finanzierung von Deutschlands hervorragendem Gesundheitssystem sichern, zum anderen könne sie kritisches Umdenken fördern. Denn: Gelinge es, wissenschaftlich zweifelhafte Behandlungen zu eliminieren, gebe es mehr Ressourcen, um innovative Therapien zu bezahlen, so Pfundner.
Ein Leistungskatalog zur Grundversorgung könne der Lösungsansatz sein, aus-ufernden Kosten vorzubeugen. Selbstkritisch fügte Pfundner mit Blick auf die eigene Branche hinzu, dass die »Treffsicherheit unserer Arzneimittel« zu verbessern sei. Wenn die Krankenkassen sie zahlen sollen, müssten sie therapeutisch »effizienter, nicht unbedingt billiger« werden.
Ebenso überzeugt von der guten Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems äußerten sich neben dem Barmer-Vorstandsvorsitzenden Dr. Johannes Vöcking und Ex-Sachverständigenratschef Professor Dr. Friedrich-Wilhelm Schwartz der Gesundheitsökonom und Mediziner Professor Dr. Michael Schlander vom Institut für Innovation im Gesundheitswesen in Eschborn.
Für Schlander sind die ökonomischen Probleme weniger eine Frage der Finanzierbarkeit als die Frage danach, in wel-chem Umfang Therapien (erforderlich/gewünscht) von der Solidargemeinschaft zu zahlen sind. Der Betriebswirt hält die Folgekosten des demographischen Wandels wie des medizinischen Fortschritts bei moderat steigenden Krankenversicherungs-Beiträgen für finanzierbar.
Schwäche des Systems
Unter der Prämisse eines jährlichen Wirtschaftswachstums von einem Prozent, so Schlanders Modellrechnung, seien auch in den nächsten 30 Jahren die berechenbaren Lasten wegen der alternder Bevölkerung und des medizinischen Fortschritts zu finanzieren, ohne persönliche Finanzspielräume anzutasten. Die Schwäche des heutigen Finanzierungssystems sei, wie alle Sachverständigen beklagen, seine Abhängigkeit von Arbeitseinkommen.
Vöcking sieht beim derzeit »schwer verkraftbaren Nebeneinander von Verschwendung und Rationierung« Einsparpotentiale von bis zu 50 Prozent, allein wenn richtige Gesundheitsprävention betrieben würde.
In einer Zeit, da die Rationierung von Gesundheitsleistungen auf der Ebene von Arzt und Patient gelebt werde, hält Vöcking soziale Gerechtigkeit für unabdingbar. Dabei müssten Bürger stärker in Entscheidungen mit einbezogen werden. Der Medizinethiker und Chirurg Professor Dr. Gerd Nagel (Stiftung Patientenkompetenz, Schweiz) mahnte an, die Urteilsfähigkeit von Patienten zu stärken.
Kompetent informierte Versicherte seien viel häufiger bereit, im Krankheitsfall die eigenen Heilungsprozesse motiviert mitzusteuern oder zumindest die persönliche Lebensqualität zu verbessern, sagte Nagel. Dies setze jedoch mehr Transparenz im deutschen Gesundheitssystem voraus, so der frühere Ratsweise Professor Schwartz von der Medizinischen Hochschule Hannover.
So zu tun, als könne Rationierung in Frage gestellt werden, sei töricht. Rationierung finde längst statt, sogar beim medizinisch Notwendigen, stationär wie ambulant. Darüber zu reden werde indes nicht einfacher, solange »wichtige Personen« im Gesundheitswesen das Problem leugnen.