Arzneimitteltherapie mit Feingefühl |
24.04.2017 15:33 Uhr |
Von Florian Maurer / Neugeborene unterscheiden sich in ihrer Physiologie von Erwachsenen in zahlreichen Punkten. Nach der Geburt entwickeln sie sich rasant weiter, um sich ihrer neuen Umgebung anzupassen. Ihre besonderen Bedürfnisse und die laufenden Veränderungen müssen bei einer Pharmakotherapie berücksichtigt werden.
Eine durchschnittliche Schwangerschaft dauert 40 Wochen (280 Tage), in der Regel gerechnet vom ersten Tag der letzten normalen Menstruation (p. m.: post menstruationem). Die tatsächliche Dauer von der Empfängnis an gerechnet ist etwa zwei Wochen kürzer (p. c.: post conceptionem). Das Gestationsalter entspricht der Dauer der Schwangerschaft und wird in ganzen Wochen und Tagen ausgedrückt, zum Beispiel 36 Wochen und drei Tage. Es beschreibt auch den Grad der Organreife und ist daher für die klinische Beurteilung eines Neugeborenen und bei der Dosisfindung einer Arzneimitteltherapie relevant (1).
Einteilung der Neugeborenen | nach Geburtsgewicht |
---|---|
mit extrem niedrigem Geburtsgewicht, ELBW-infant (extremely low birth weight) | < 1000 g |
mit sehr niedrigem Geburtsgewicht, VLBW–infant (very low birth weight) | 1000 bis 1499 g |
mit niedrigem Geburtsgewicht, LBW-infant (low birth weight) | 1500 bis 2499 g |
Einteilung der Frühgeborenen | nach Gestationsdauer (Anteil in Prozent) |
extrem unreif | < 28 Wochen (5) |
sehr unreif | < 32 Wochen (10) |
spät | < 36 Wochen (85) |
Termin- und frühgeboren oder übertragen
Als Neugeborenes wird ein Kind in den ersten Wochen nach der Geburt bezeichnet. Das Teilgebiet der Kinderheilkunde, das sich mit diesem Lebensabschnitt beschäftigt, ist die Neonatologie. Nach den ersten vier Wochen bis zum vollendeten zwölften Lebensmonat werden die Kinder als Säuglinge bezeichnet (2, 3). Je nach Gestationsalter bei der Geburt unterscheidet man: frühgeborenes Kind bei weniger als 37 Wochen, termingeborenes Kind mit 37 bis 42 Wochen und übertragenes Kind mit mehr als 42 Wochen.
Untergewichtige Neugeborene werden zudem nach ihrem Geburtsgewicht eingeteilt, wobei der Grund für Untergewicht neben einer Frühgeburt (untergewichtig aufgrund der nicht abgeschlossenen Reifung) auch eine Mangelernährung des Feten sein kann. Diese kann zum Beispiel durch Störungen der Plazentafunktion entstehen (2). Bei Frühgeborenen wird zudem nach Gestationsalter unterschieden (Tabelle 1) (1, 4, 5).
Die große Mehrheit aller Frühgeburten findet nach der 32. Schwangerschaftswoche (SSW) statt. In hochspezialisierten neonatologischen Zentren ist es heute möglich, Frühgeborene ab einem Geburtsgewicht von 500 g am Leben zu halten, was etwa einem Gestationsalter von 24 Wochen entspricht. Jedoch sind die Risiken für Folgeschäden hoch. Nur etwa ein Drittel der extrem unreifen Frühgeborenen (weniger als 28 Wochen) entwickelt sich ohne körperliche und/oder geistige Beeinträchtigungen (5, 6).
Die Rate der Frühgeburten liegt weltweit etwa bei 10 Prozent der Lebendgeburten (Tabelle 2). Leider sind Frühgeburten häufig mit Komplikationen verbunden, die durch die Unterentwicklung der Organe zustande kommen und besonders die Lunge, die Retina und das Herz-Kreislauf-System betreffen. Auch Infektionen stellen ein großes Problem dar (8).
Off-label beim Neugeborenen
Das Baby ist da! Jetzt müssen seine Organfunktionen noch reifen.
Foto: Fotolia/Olesia Bilkei
Manche Medikamente, die bei Erwachsenen sicher eingesetzt werden können, haben sich bei Neugeborenen als problematisch herausgestellt. So können zum Beispiel Sulfonamide bei ihnen zu einer schweren Schädigung des zentralen Nervensystems führen (Kernikterus), Chloramphenicol Schockzustände auslösen und das Konservierungsmittel Benzylalkohol zu Vergiftungen führen.
Die wenigsten Medikamente sind für Neugeborene und insbesondere für Frühgeborene zugelassen. Ausnahmen sind beispielsweise Paracetamol, Surfactant-Präparate und intravenöses Ibuprofen zum Schluss eines offenen Ductus arteriosus Botalli. Eine Arzneimittelgabe erfolgt daher häufig im Rahmen eines individuellen Heilversuchs außerhalb der Zulassung (Off-label) oder sogar Off-license, das heißt, das Arzneimittel ist in keiner Indikation in Deutschland zugelassen (2, 9). Mehr Sicherheit würden Erkenntnisse aus klinischen Studien an Kindern liefern, jedoch ist deren Durchführung aus ethischen Gründen schwierig. Sie kommen nur in Betracht, wenn sich die Erkenntnisse auf keinem anderen Wege gewinnen lassen (Kasten auf der folgenden Seite).
Jede Therapie muss wegen der großen individuellen Unterschiede und der sich rasch verändernden Physiologie des Neugeborenen engmaschig kontrolliert und gegebenenfalls die Dosis angepasst werden (2, 12, 13, 14). Eine konsequente Meldung von Nebenwirkungen wäre wünschenswert, um den Daten- und Erfahrungsschatz laufend zu erweitern; jedoch sind die Melderaten in Deutschland vergleichsweise niedrig. Weiteres Problem: Zwar sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie Hautreaktionen oder respiratorische Symptome gut erkennbar, Wirkungen auf die Stimmung oder kognitive Fähigkeiten jedoch praktisch nicht. Auch mögliche Spätfolgen lassen sich nur in aufwendigen Langzeitstudien erkennen (2, 15).
Die sogenannte Kinderverordnung (Better Medicines for Children) trat 2007 in Kraft und hat das Ziel, die Arzneimittelsicherheit bei Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Bei allen Neuzulassungen und Indikationserweiterungen muss das pharmazeutische Unternehmen den EMA-Ausschuss für Kinderarzneimittel informieren. Dieser beurteilt, ob das Medikament für die pädiatrische Verwendung geeignet ist und damit eine klinische Prüfung an Kindern gemäß einem pädiatrischen Prüfkonzept erfolgen muss. Im Gegenzug erhält der Hersteller einen verlängerten Patentschutz. Zudem können bereits aus dem Patentschutz entlassene Arzneimittel in kindergerechter Dosierung und Formulierung erneut patentgeschützt zugelassen werden.
Diese »Paediatric Use Marketing Authorisation« (PUMA) genannte Zulassung wurde bis zum Herbst 2016 erst für die drei Arzneistoffe erteilt: für Midazolam (Buccolam®), Propranolol (Hemangiol®) und Glycopyrroniumbromid (Sialanar®) (2, 10, 11). So müssen sich Neonatologen weiterhin auf eigene Erfahrungen und Angaben in der Literatur verlassen, die überwiegend auf empirischem Wissen beruhen.
Heterogen und hoch variabel
Neugeborene stellen eine besonders verletzliche Gruppe der pädiatrischen Patienten dar, die zudem sehr heterogen ist. Denn diese Gruppe umfasst sowohl Frühgeborene als auch übertragene Kinder bis zu einem Alter von vier Wochen nach der Geburt. Der Reifegrad kann folglich um mehrere Wochen variieren und das Körpergewicht kann sich um den Faktor 10 unterscheiden (Geburtsgewichte von 0,5 bis 5 kg).
Die rasante Entwicklung und Veränderung des Körpers führt zu einer großen Variabilität der Pharmakodynamik und -kinetik von Arzneistoffen. Fachleute sprechen sogar von »aiming at a moving target« (15).
Zu Unterschieden in der Pharmakodynamik ist wenig bekannt. Jedoch kann sich insbesondere eine veränderte Rezeptordichte auf das Verhältnis von Plasmaspiegel und Wirkung auswirken. Ein Beispiel ist die bei Neugeborenen reduzierte Mineralocorticoid-Rezeptordichte in der Niere, was zu einer relativen Aldosteron-Resistenz führt (2, 18).
Deutlich mehr Wissen gibt es zu Veränderungen in der Pharmakokinetik. Ein pharmakokinetisches Modell zur präzisen Vorhersage der Plasmakonzentrationen, zum Beispiel von Sildenafil in Neugeborenen, zeigte, dass die Berechnungsparameter in den ersten drei Tagen fast stündlich angepasst werden müssen, da sich die CYP450-Enzyme so schnell verändern (16). Dies ist nur ein extremes Beispiel für die Besonderheiten der Physiologie der Neugeborenen. Es ist offensichtlich, dass die Berechnung der Dosis nicht einfach über eine Anpassung der Erwachsenendosis an das Körpergewicht des Neugeborenen erfolgen kann und eine geeignete Dosis für einen neuen Arzneistoff kaum vorhergesagt werden kann (15).
Risikofaktoren | Beispiele und Erläuterung |
---|---|
Infektionen der Vagina (bei 50 Prozent der Frühgeburten) | Gardnerella vaginalis, Streptokokken Gruppe B, führen zu vorzeitigem Blasensprung, vorzeitigen Wehen |
Mehrlingsschwangerschaften | Zwillinge, Mehrlinge, Risiko 5- bis 10-fach erhöht |
Erkrankungen der Mutter | Gestose, Eklampsie, Anämien, Diabetes mellitus |
anatomische Gründe | Uterusfehlbildungen, Zervixinsuffizienz |
physische und psychische Überforderung | Stress, hohe Arbeitsbelastung, langes Stehen |
Alter der Mutter | Alter unter 17 oder über 38 Jahre |
Lebensstil der Mutter | Rauchen, Alkohol-/Drogenkonsum, niedriger sozialer Status |
kindliche Ursachen | Fehlbildungen (bei 15 bis 30 Prozent der Frühgeborenen), intrauterine Wachstumsretardierung und Sauerstoffmangel |
Veränderte Resorption
Bei oraler Gabe von Arzneistoffen in Form von Lösungen oder Suspensionen spielt der im Vergleich zum Erwachsenen erhöhte pH-Wert von über 4 im Magen des Neugeborenen eine wichtige Rolle. So ist die Bioverfügbarkeit säurelabiler Arzneistoffe erhöht, zum Beispiel bei Penicillin G. Schwach saure Arzneistoffe wie Phenobarbital liegen vermehrt ionisiert vor und werden wesentlich schlechter resorbiert.
Die Koordination der Kontraktionen der glatten Muskulatur im Magen-Darm-Trakt verbessert sich zwar in der ersten Woche nach der Geburt rasch, jedoch bleiben Magenentleerung und Darmmotilität bis zum vierten Monat reduziert. Dadurch ist die Resorption nach oraler Gabe verlangsamt und Plasmaspitzenkonzentrationen werden erst mit Verzögerung erreicht. Fettlösliche Arzneistoffe wie Itraconazol oder Vitamin E werden wegen der verminderten Produktion von Gallensäuren schlechter resorbiert.
Die Haut der Neugeborenen, insbesondere die der Frühgeborenen, weist ein dünneres Stratum corneum auf und die Epidermis ist stärker hydriert und durchblutet. Daher ist die perkutane Resorption in der Regel erhöht. Zudem ist das Verhältnis von Körperoberfläche zu Körpermasse wesentlich höher. Die systemische Exposition nach topischer Anwendung ist daher relativ erhöht. Die Bioverfügbarkeit nach intramuskulärer Gabe ist etwas höher, da die Muskeln stärker kapillarisiert sind.
Rektal applizierte Arzneistoffe werden ähnlich gut resorbiert wie bei älteren Kindern. Aufgrund des häufigeren Stuhlgangs in den ersten Lebenswochen ist auf eine ausreichend lange Verweildauer eines Suppositoriums im Rektum zu achten (14, 15).
Verteilung
Die Verteilungsräume sind beim Neugeborenen durch die besondere Körperzusammensetzung charakterisiert. So ist der Anteil des gesamten und des extrazellulären Körperwassers erhöht, der Anteil an Körperfett ist bei der Geburt niedrig (bei Frühgeborenen 1 bis 2 Prozent, bei Termingeborenen 15 Prozent) und nimmt erst langsam mit jedem Monat zu (Abbildung 1). Eine rein gewichtsadaptierte Dosierung würde zu niedrigeren Plasmaspiegeln hydrophiler beziehungsweise zu erhöhten Plasmaspiegeln lipophiler Arzneistoffe führen.
Die Konzentration an Plasmaproteinen ist bei Neugeborenen niedriger, was zu gesteigerten freien Spiegeln von Arzneistoffen mit hoher Plasmaproteinbindung führt. Zudem können endogene Stoffe wie freie Fettsäuren und das häufig nach der Geburt erhöhte Bilirubin Arzneistoffe von den Bindungsstellen verdrängen und die freien Spiegel weiter erhöhen. Aber auch der gegenteilige Effekt ist möglich, wenn Arzneistoffe eine starke Affinität zu Plasmaproteinen haben. So verdrängen Sulfonamide Bilirubin aus der Albuminbindung. Der dadurch verursachte Anstieg an freiem Bilirubin kann zu einem gefährlichen Kernikterus führen. Daher sind Sulfonamide beim Neugeborenen kontraindiziert.
An Plasmaproteine gebundene Arzneistoffe sind in der Regel vor Metabolisierung und renaler Ausscheidung geschützt, wodurch ein gewisser Depoteffekt zustande kommt. Dieser ist bei Neugeborenen wegen der geringeren Plasmaproteinbindung vermindert. Die Blut-Hirn-Schranke ist durchlässiger und zentrale Wirkungen, zum Beispiel bei Opioiden, in der Regel stärker (9, 12, 14, 15).
Metabolismus-Enzyme noch unreif
Beim Frühgeborenen sind sämtliche Enzymsysteme kaum entwickelt. Auch beim reifen Neugeborenen müssen sich viele erst vollständig ausbilden. So ist zum Beispiel CYP3A4 bei der Geburt nicht vorhanden; es ersetzt nach und nach die fetale Isoform CYP3A7. Diese ist wiederum bei den meisten Erwachsenen nicht mehr nachweisbar. Die verschiedenen CYP-Systeme reifen unterschiedlich schnell heran (Abbildung 2).
Über die Enzyme der Phase-II-Metabolisierung ist weniger bekannt. Insbesondere die Aktivität der Glucuronosyltransferase ist beim Neugeborenen stark eingeschränkt. Dieses Enzym ist an der Eliminierung von Morphin beteiligt und seine Aktivität vervierfacht sich im Gestationsalter von 29 bis 42 Wochen. Daran muss die Morphin-Dosis bei Frühgeborenen angepasst werden, um eine adäquate Schmerztherapie zu erreichen (17).
Generell kann für die meisten Arzneistoffe von einer verlängerten Halbwertszeit ausgegangen werden, was je nach erwünschtem Verlauf des Blutspiegels verlängerte Dosierungsintervalle oder erniedrigte Einzeldosierungen erfordert (12, 14).
Renale Elimination
Die Niere ist mit einem Gestationsalter von 36 Wochen anatomisch voll entwickelt. Der renale und intrarenale Blutfluss verändert sich aber nach der Geburt. Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) liegt bei reifen Neugeborenen bei 2 bis 4 ml/min/1,73 m2, kann bei Frühgeborenen aber auch nur Werte von 0,6 bis 0,8 ml/min/1,73 m2 erreichen. Die GFR steigt in den ersten Wochen rasant und dann stetig an, bis zwischen dem achten und zwölften Monat Erwachsenen-Werte erreicht werden (Abbildung 3). Ähnlich verhält es sich mit der tubulären Sekretion.
Diese raschen physiologischen Veränderungen nach der Geburt müssen bei Arzneistoffen mit überwiegend renaler Elimination beachtet werden, um Höhe und Zeitintervalle der Dosierung richtig zu bestimmen. Ein Beispiel: Wenn Aminoglykoside bei schweren Infektionen eingesetzt werden, kann sich die empfohlene Dosis zwischen einem Gestationsalter von 30 bis 38 Wochen verdoppeln (1, 2, 14).
Häufige Indikation: Schmerzen
Indikationsgebiete, bei denen Arzneimittel beim Neugeborenen häufig eingesetzt werden, sind zum Beispiel Schmerzen, Infektionen und Fieber. Aber auch zur Prophylaxe, zum Beispiel von Vitamin-K-Mangel, bekommen die ganz Kleinen Medikamente.
Neugeborene vor Schmerzen zu bewahren, ist nicht nur aus ethischen Gründen erforderlich, sondern kann physische und psychische Spätfolgen durch wiederholte Schmerzerfahrungen vermeiden. Je unreifer das Neugeborene, umso mehr schmerzhafte Eingriffe, zum Beispiel das Legen von Venenkathetern und Blutabnahmen, sind in der Regel nötig.
Bereits ab der 25. Schwangerschaftswoche ist das aufsteigende nozizeptive System funktionstüchtig, während das absteigende schmerzhemmende System selbst beim reifen Neugeborenen noch nicht vollständig ausgebildet ist (2, 19). Zur Beurteilung der Schmerzkontrolle werden Parameter wie Gesichtsbewegungen, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung des Blutes und Dauer des Weinens herangezogen.
Insbesondere bei kurzen schmerzhaften Eingriffen wie der Entnahme von Kapillarblut aus der Ferse, Venenpunktionen und intramuskulären Injektionen kann die orale Gabe von Saccharose- oder Glucoselösung wenige Minuten vor dem Eingriff Schmerzen effektiv lindern. Die optimale Dosis und der Wirkmechanismus sind nicht bekannt. Üblich sind wenige Milliliter einer etwa 20-prozentigen Zuckerlösung (5, 19, 20, 21).
Je unreifer ein Kind geboren wird, umso mehr schmerzhafte Eingriffe muss es meist erleiden. Eine gute Analgesie ist unerlässlich.
Foto: Your Photo Today
Effektiv sind auch nicht pharmakologische Methoden wie das Saugen am Schnuller (gegebenenfalls in Zuckerlösung getaucht) und der Haut-zu-Haut-Kontakt mit der Mutter über mindestens 15 Minuten. Bei der sogenannten »Kangaroo mother care« wird das Kind mit Hautkontakt auf der Brust getragen. All diese Maßnahmen sind umso effektiver, je reifer das Neugeborene ist, denn die Wirkung wird vermutlich über das körpereigene schmerzhemmende System vermittelt. Dieses entwickelt sich erst im Lauf der ersten Lebenswochen voll (19, 20, 21, 22, 23, 24).
Lokalanästhetika können bei oberflächlichen Eingriffen eingesetzt werden. Zugelassen für Neugeborene ist ein Gel, das eine Kombination aus 2,5 Prozent Lidocain und 2,5 Prozent Prilocain enthält (EMLA®; 5, 21, 25). Lidocain kann auch subkutan vor interventionellen Maßnahmen eingesetzt werden.
Paracetamol reduziert akute Schmerzen beim Neugeborenen nicht ausreichend und wird daher nur begleitend zur postoperativen Schmerztherapie eingesetzt. Dadurch kann häufig die Menge an Opioiden reduziert werden. Die Gabe erfolgt rektal oder intravenös und die Dosierungen orientieren sich an Dosis-Wirkungs-Studien zur antipyretischen Wirkung von Paracetamol. Es ist das Mittel der Wahl für die Schmerztherapie zu Hause. Das sonst auch für Kinder geeignete Ibuprofen soll in den ersten drei Lebensmonaten nicht eingesetzt werden. Ausnahme ist die Behandlung des offenen Ductus arteriosus Botalli (2, 19, 21, 23).
Bei mittelschweren bis starken Schmerzen kommen Opioide zum Einsatz, insbesondere Morphin und Fentanyl. Die postoperative Schmerzreduktion durch Opioide bei Neugeborenen ist gut belegt, allerdings ist die Datenlage zur Schmerzkontrolle während der Operation unklar. Da die atemdepressive Wirkung bei Neugeborenen stärker ausgeprägt ist und zudem die Halbwertszeit sehr variabel und schwer vorhersehbar ist (Fentanyl zum Beispiel bei Frühgeborenen 18 +/-9 Stunden, reifes Neugeborenes 3 bis 8 Stunden; 26), sind eine laufende Überwachung und gegebenenfalls Anpassung erforderlich. Die Datenlage zu möglichen Spätfolgen einer Opioidtherapie, unter anderem auf die Entwicklung des Zentralnervensystems, ist derzeit widersprüchlich. Daher ist die Indikation streng zu stellen (2, 19, 21).
Vitamin K ist schlecht plazentagängig, sodass im fetalen Blut niedrigere Spiegel als im mütterlichen Blut zu finden sind. Als wichtiger Co-Faktor für die Synthese von Gerinnungsfaktoren kann ein Mangel zu hämorrhagischen Erkrankungen des Neugeborenen führen (Vitamin-K-Mangel-Blutungen). Sie kommen in verschiedenen Formen vor und treten in der ersten bis zur zwölften Woche auf.
Durch die prophylaktische Gabe von Vitamin K kann die Inzidenz auf unter 0,5 Fälle pro 100 000 Neugeborenen gesenkt werden. Die Gabe erfolgt oral mit je 2 mg am ersten Lebenstag im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung U1, zwischen dem dritten und dem zehnten Lebenstag (U2) und erneut zwischen der vierten und sechsten Lebenswoche (U3). Die intramuskuläre Gabe ist etwas wirksamer, jedoch schmerzhaft und invasiv. Daher wird sie meist nur bei schlechtem Allgemeinzustand und Resorptionsstörungen des Neugeborenen angewandt sowie gewichtsadaptiert bei Frühgeborenen. Der frühere Verdacht einer Risikoerhöhung für Leukämien oder andere Tumoren bei intramuskulärer Gabe hat sich nicht bestätigt (30).
Vitamin-D-Prophylaxe
Für die optimale Mineralisierung des schnell wachsenden Knochensystems des Neugeborenen ist eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D entscheidend. Diese setzt sich aus dem mit der Nahrung zugeführten Anteil und dem bei der Einstrahlung von UVB-Licht vom Körper selbst gebildeten Anteil zusammen. Wegen des eher geringen Vitamin-D-Gehalts der Muttermilch reicht die Zufuhr über das Stillen meist nicht aus. Eine extensive Sonnenexposition bei Neugeborenen und Säuglingen sollte vermieden werden. Daher wird eine tägliche orale Gabe von 400 bis 500 I.U. ab der zweiten Lebenswoche empfohlen.
Die Einnahme sollte mindestens bis zum Frühjahr des Folgejahres fortgeführt werden, das bedeutet je nach Geburtstermin für mindestens zwölf bis 18 Monate. Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g sollten in den ersten Lebensmonaten täglich 800 bis 1000 IE Vitamin D erhalten (31).
Erhebliches Risiko für Infektionen
Das fetale Immunsystem kann etwa ab der 16. SSW intrauterine Virusinfektionen wie eine Rötelninfektion soweit kontrollieren, dass diese nicht mehr zum Tod oder zu Organschäden führen. Mütterliche IgG-Antikörper gelangen ab der 14. SSW über die Plazenta ins fetale Blut und erreichen bis zur 36. SSW Konzentrationen wie im mütterlichen Blut. Diese humorale Leihimmunität (Nestschutz) schützt das Kind je nach Abbaukinetik einige Wochen (Enteroviren) bis über ein Jahr (Masernvirus) postnatal. Zudem erhalten gestillte Kinder mit der Muttermilch IgA-Antikörper auf die Schleimhäute übertragen.
Dennoch stellen Infektionen für das Neugeborene ein erhebliches Risiko dar, das mit kürzerer Gestationsdauer und niedrigem Geburtsgewicht steigt. Die klinischen Symptome können sich rapide verschlechtern. Eine schnelle Diagnosestellung und umgehende Einleitung der Therapie ist für die Prognose entscheidend.
Early-onset-Infektionen beginnen vor dem fünften Lebenstag und werden in der Regel durch Erreger im mütterlichen Genitaltrakt verursacht, zum Beispiel durch Gruppe-B-Streptokokken. Bei Late-onset-Infektionen (ab dem fünften Lebenstag) stammen die Erreger häufig aus der Umgebung des Kindes. Diese Abgrenzung lässt erste Rückschlüsse auf das zu erwartende Keimspektrum zu (1, 3, 27). Bei Verdacht auf bakterielle Infektionen sollte die antibiotische Therapie sofort nach der Blutabnahme zur Keimbestimmung beginnen.
Der Arzt wählt die Antibiotika empirisch nach dem zu erwartenden Erregerspektrum und dem Infektionsort; zum Beispiel sind Aminoglykoside schlecht liquorgängig und daher nicht geeignet bei Meningitis. Prinzipiell können alle gängigen Antibiotika beim Neugeborenen eingesetzt werden. Bei Substanzen mit potenziell schweren Nebenwirkungen wie Vancomycin (Nephrotoxizität) und Aminoglykosiden (Ototoxizität) sollte der Blutspiegel über ein Therapeutisches Drug Monitoring überprüft werden. Sobald der Erreger bekannt ist, kann auf eine kalkulierte Therapie umgestellt werden. Gegebenenfalls erfolgt eine Mundsoor-Prophylaxe mit Nystatin (1, 9, 15, 27, 28).
Alle Schwangeren sollten gegen Ende der Schwangerschaft auf eine Besiedelung des Anogenitaltrakts mit Gruppe-B-Streptokokken untersucht werden. Bei positivem Befund kann das Risiko einer Übertragung dieser Keime auf das Neugeborene bei der Geburt stark reduziert werden, wenn die Mutter während des Geburtsvorgangs intravenös Penicillin G erhält (3).
Fiebersenkung
Eine Körpertemperatur über 38,5 °C (rektal gemessen) sollte bei Neugeborenen und Säuglingen unter drei Monaten ärztlich abgeklärt werden. Insbesondere bei hohem Fieber besteht der Verdacht auf eine bedrohliche Infektion durch Viren oder Bakterien.
Zur Fiebersenkung ist Paracetamol das Mittel der Wahl. Es kann nach Körpergewicht dosiert werden. Aufgrund der langjährigen Erfahrungen gibt es Dosierempfehlungen für alle Reifegrade und Applikationsformen (siehe Packungsbeilagen) (1, 3, 29).
Coffein bei Apnoen
Coffein wird bei Frühgeborenen zur Stimulation des Atemzentrums eingesetzt.
Foto: Fotolia/Ramona Heim
Coffein ist ein Methylxanthin und blockiert Adenosinrezeptoren, vorwiegend im ZNS. Während es beim Erwachsenen Ermüdungserscheinungen beseitigen soll, wird es beim Frühgeborenen zur Stimulation des Atemzentrums eingesetzt. Es ist das Mittel der Wahl zur Behandlung von Apnoen. Coffein kann helfen, eine mechanische Atemunterstützung zu vermeiden oder deren Dauer zu verkürzen.
In der europäischen Union ist das Präparat Peyona® für Frühgeborene zugelassen. Die Applikation erfolgt intravenös oder oral, wobei es bei oraler Gabe praktisch vollständig resorbiert wird. Ist die Gabe von Coffein auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nötig, kann der Arzt eine Coffeinlösung zur Einnahme als Rezeptur verordnen, da Peyona® nur in Ampullen und nicht über den Großhandel erhältlich ist. Es empfiehlt sich, auf die geprüfte NRF-Rezeptur 3.1. »Coffeincitrat-Lösung 20 mg/ml« zurückzugreifen. Diese oder eine ähnliche Rezeptur wird aus Kostengründen auch häufig in Krankenhausapotheken für die orale Gabe auf den neonatologischen Stationen angefertigt.
Die Halbwertszeit beträgt beim Neugeborenen drei bis vier Tage (zum Vergleich: beim Erwachsenen etwa vier bis sechs Stunden). Daher reicht die einmal tägliche Gabe. Die übliche Erhaltungsdosis liegt bei 2,5 bis 5 mg/kg Coffein pro Tag. Bei der Prüfung auf Plausibilität der verordneten Dosierung sollte der Apotheker darauf achten, dass 10 mg des gut löslichen Coffeincitrats etwa 5 mg Coffeinbase entsprechen (1, 32, 33). /
Literaturempfehlungen für die Apotheke
Literatur
Florian Maurer studierte Pharmazie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und erhielt 2008 seine Approbation. Nach einem Jahr als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pharmakologie der LMU ging er in die USA. Dort wurde er am Department Physiology and Biophysics der University of Colorado in Denver mit einer Arbeit zum Thema Schallverarbeitung im Hirnstamm promoviert. Seit 2014 arbeitet er als Krankenhausapotheker am Klinikums rechts der Isar.
Dr. Florian Maurer
Krankenhausapotheke des Klinikums rechts der Isar
Technische Universität München
Ismaninger Straße 22
81675 München
E-Mail: florian.maurer@gmx.net