Gesundheitssystem wird entstaatlicht |
03.04.2012 17:17 Uhr |
Von Arndt Striegler, London / Jahrhundertreformen gibt es nicht nur im deutschen Gesundheitswesen im Vierjahrestakt. Auch in England versucht sich die Regierung derzeit an einer grundlegenden Strukturveränderung – und erntet dafür nicht nur Lob.
Der staatliche britische Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) erfährt tiefgreifende Reformen. Nach monatelangem Streit verabschiedete das Londoner Unterhaus Ende März ein Reformpaket, das Zahnarzt- und Hausarztpraxen sowie Kliniken grundlegend verändern soll. Apotheker beobachten die Entwicklung mit großem Interesse.
Die Pläne zur Entstaatlichung des NHS haben zu massiven Protesten in der Bevölkerung geführt.
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Ziel der NHS-Reformen ist es laut Gesundheitsminister Andrew Lansley, den staatlichen Gesundheitsdienst unbürokratischer zu machen und die Rolle der Hausärzte weiter zu stärken. Großbritannien hat seit 1948 ein staatliches Gesundheitssystem, das auf dem Primärarztprinzip basiert. Erste Anlaufstelle für den Patienten ist der Hausarzt. Dieser überweist zum Facharzt oder in die Klinik. Fachärzte praktizieren in den Krankenhäusern und nicht in freier Praxis. Die freie Arztwahl der Patienten ist erheblich eingeschränkt.
Mit den jüngsten Reformen will die konservativ-liberale Koalition unter Premierminister David Cameron den NHS-Hausärzten mehr Freiheiten einräumen. Erstmals in der 64-jährigen NHS-Geschichte sollen sie mehr oder weniger eigenständig über ihre Budgets verfügen dürfen. Dann würden die rund 100 000 NHS-Hausärzte über Milliardenausgaben entscheiden. Der Hausarzt soll für seinen Patienten direkt im Krankenhaus Operationen oder fachärztliche Konsultationen einkaufen. Das werde den Wettbewerb fördern, so der Gesundheitsminister.
Ärztliche Berufsverbände, Zahnärzte und Gewerkschaften sind ebenso skeptisch wie die britischen Patientenverbände. »Es besteht die Gefahr, dass mehr Wettbewerb und damit die Involvierung privater Leistungsanbieter das Prinzip der staatlichen Gesundheitsversorgung, die grundsätzlich für jeden Bürger kostenlos ist, untergräbt«, so eine Sprecherin des britischen Ärztebundes (British Medical Asssiaction BMA) gegenüber der PZ in London. Und: »Wir fürchten uns vor einer schleichenden Privatisierung des Gesundheitswesens.«
Der britische Apothekerverband (Royal Pharmaceutical Society, RPS) beobachtet den gesundheitspolitischen Reformeifer der Regierung Cameron ebenfalls mit großem Interesse und mit einiger Sorge. »Das sind sehr tiefgreifende Reformen und sie werden starke Auswirkungen und Folgen auf alle Gesundheitsberufe haben.«
Gesundheitsexperten bewerten die jetzt vom Oberhaus nach rund 50 Stunden Parlamentsdebatte und 14-monatiger Beratungsphase verabschiedeten Reformen als Jahrhundertwerk. »Die Umwälzungen sind so enorm, dass man sie sogar aus dem Weltall sehen kann«, spottete die Tageszeitung »Times«.
Die Regierung Cameron will mit den Reformen Einsparungen von »mindestens zehn Milliarden Pfund (rund 13 Milliarden Euro) in den nächsten zehn Jahren« erzielen. Rund 20 000 Verwaltungsstellen sollen wegrationalisiert werden. Gleichzeitig versprach der Gesundheitsminister mehrfach, dass die direkte Patientenversorgung nicht gekürzt werde. Der NHS ist heute mit jährlichen Ausgaben von rund 104 Milliarden Pfund der größte Kostenblock im britischen Staatshaushalt.
Mehr Flexibilität
Allerdings geht es bei der Reform um mehr als nur ums Geld. Unter anderem ist geplant, die bisherige enge und wenig flexible Vernetzung von Haus- und Fachärzten, Kliniken und ambulanten Pflegediensten zu entzerren und so die Arbeit der Ärzte flexibler zu gestalten sowie die Patienten stärker an Entscheidungen zu beteiligen. Der Patient soll mehr Mitspracherecht bekommen, in welche Klinik er überwiesen wird. Nach der Hoffnung der Regierung wird diese neue Form der Marktwirtschaft dazu führen, dass Kliniken, die gut arbeiten, mehr Patienten bekommen. Mehr Patienten bedeuten auch mehr Geld aus dem Gesundheitsetat.
Allerdings fürchten Berufsverbände und Gewerkschaften eine »schleichende Privatsierung« des Dienstes. Erst kürzlich wurde das erste NHS-Krankenhaus vollständig privatisiert: Das Hinchingbrooke Hospital (Grafschaft Cambridgeshire) wird seit Kurzem als Privatklinik geführt. Den NHS-Fachärzten bereitet dies Sorgen. Heute verfügt jeder zehnte Patient in Großbritannien über einen privaten Krankenversicherungsschutz.
Kritiker sagen, die Reform komme zur falschen Zeit. Der NHS muss wegen der Wirtschaftskrise deutlich sparen. Es sei deshalb fraglich, ob derart große Strukturreformen in Zeiten des Geldmangels tatsächlich machbar seien, so der britische Ärztebund. /