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Eisenspeicherkrankheit

Aderlass als Standardtherapie

08.04.2008  17:38 Uhr

Eisenspeicherkrankheit

Aderlass als Standardtherapie

Von Christiane Berg

 

Der Patient muss bluten. Der mittelalterlich wirkende Aderlass ist die wichtigste Therapie der Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose), eine der häufigsten erblichen Stoffwechselstörungen.

 

Gerade 40 Jahre alt bekam Christel D. starke Schmerzen in beiden Händen. Ihr Hausarzt diagnostizierte Rheuma, obwohl die Rheumafaktoren negativ waren. Die Blutuntersuchungen zeigten stark erhöhte Leberwerte. »Zwar erhielt ich Rheumamedikamente. Doch jedes Mal, wenn der Arzt mich sah, machte er eine eindeutige Handbewegung. Er hatte mich als Alkoholikerin abgestempelt«, so die heute 64-Jährige. Stets sei sie den Tränen nah gewesen und habe es gemieden, anderen Menschen bei der Begrüßung der Hand zu geben. »Der Schmerz hätte mich in die Knie gezwungen. Meine Hände haben sich angefühlt, als seien sie gerade in einer Tür gequetscht worden.«

 

Ihre Tochter ist Arzthelferin. Sie sprach mit ihrem Chef über die Beschwerden ihrer Mutter, der sie in die nächste Universitätsklinik überwies. Dort wurde die Diagnose Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit) gestellt. Sofort wurde die erforderliche Therapie, der Aderlass, eingeleitet. Zunächst einmal in der Woche. Später ging es in größeren Abständen weiter. Heute kann Christel D. mit ihrer Erkrankung leben und benötigt nur noch zwei bis drei Aderlässe pro Jahr. Die erhöhten Leberwerte haben sich normalisiert. Die rechtzeitige Diagnose und konsequente Behandlung haben sie vor den verheerenden Spätfolgen der Hämochromatose bewahrt und ihr eine normale Lebenserwartung und Lebensqualität gesichert.

 

Einer von 200 ist betroffen

 

Die hereditäre Hämochromatose ist eine der häufigsten autosomal-reszessiv vererbten Stoffwechselstörungen. Sie ist durch eine erhöhte Eisenaufnahme aus der Nahrung im oberen Dünndarm gekennzeichnet. Allein in Deutschland trägt circa einer von zwei- bis dreihundert Bundesbürgern das für die Krankheit verantwortliche homozygote Erbgut in sich, zumeist ohne es zu wissen. Nur circa 20 bis 50 Prozent und hier in der Überzahl Männer entwickeln im Laufe ihres Lebens behandlungsbedürftige Symptome. »Lediglich ein Teil der Betroffenen bildet klinisch relevante Organschäden aus, doch ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen«, sagte Privat-Dozent Dr. Dr. Peter Nielsen von der Hämochromatose-Ambulanz des Universitätsklinikums Eppendorf gegenüber der PZ.

 

Im Laufe der Krankheit steigt bei einem Patienten der Gesamtkörpereisengehalt (siehe Kasten) von circa 3 bis 5 Gramm auf das Zwei- bis Zehnfache an. Das überschüssige Eisen wird in die Organe eingelagert und schädigt diese, insbesondere die Leber, Bauchspeicheldrüse, Schilddrüse und das Herz. Frühes Krankheitszeichen ist oftmals große Müdigkeit. Schwere Verlaufsformen gehen häufig mit einer metallisch-gräulichen Hautpigmentierung einher. Leberschädigungen können sich in schweren Fällen zu einer Leberzirrhose weiterentwickeln. Selten kommt es zu einem Diabetes mellitus oder einer Kardiomyopathie.

Eisenstoffwechsel

Der menschliche Körper enthält etwa 3 bis 5 Gramm Eisen. Im Dünndarm wird täglich etwa 1 mg aus der Nahrung resorbiert, was ausreicht, um die täglich verlorene Menge von 1 mg zu ersetzen. Der größte Teil des aufgenommenen Eisens wird für die Bildung des Blutfarbstoffs Hämoglobin verwendet, ein kleiner Teil für das ebenfalls hämhaltige Myoglobin. Ein Anteil von etwa 10 bis 15 Prozent wird gebunden an das Speicherprotein Ferritin gelagert, vor allem in der Leber, Milz und dem Knochenmark. Der Ferritinspiegel im Blut ist ein aussagekräftiges Maß für den Eisenspeicher des Organismus, er liegt bei erwachsenen Männern zwischen 18 und 360 µg/l und bei Frauen zwischen 9 und 140 µg/l.

 

Ein sehr geringer Anteil des Eisens liegt gebunden an das Transportprotein Transferrin vor. Dieses bringt dreiwertiges Eisen vom Resorptionsort zu den Speicherorganen, wo es an Transferrin-Rezeptoren bindet und so in die Zellen aufgenommen wird. Die normale Eisen-Transferrin-Sättigung des Erwachsenen liegt bei etwa 25 bis 30 Prozent. Der Normwert für den Transferrinspiegel beträgt zwischen 200 und 400 mg/dl.

Bei Männern treten erste Symptome zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf. Frauen sind meist erst in den Wechseljahren betroffen, da sie durch die Menstruation über einen selbstregulierenden Mechanismus zur Eisenausscheidung verfügen. Bei 25 bis 30 Prozent der Patienten werden auch die Gelenke, vor allem die kleinen Gelenke der Hand, angegriffen. »Die mit der Arthropathie verbundene Knorpel- und Knochendestruktion entwickelt sich unabhängig vom Grad der Eisenüberladung. Sie tritt auch in vermeintlich leichten Fällen auf. Oftmals einziges Krankheitszeichen wird sie symptomatisch mit schmerz- und entzündungshemmenden Antirheumatika therapiert«, erläuterte Nielsen.

 

Schwachstelle Leber

 

Die hereditäre Hämochromatose wird in Nordeuropa, USA und Australien bei über 90 Prozent der Patienten durch eine C282Y-Mutation des Hämochromatose-Gens HFE auf Chromosom 6 ausgelöst. Das HFE-Genprodukt bindet an den Transferrin-Rezeptor, der den Eisen-Transferrin-Komplex aus dem Blut aufnimmt. Wie genau der HFE-Defekt die Krankheit auslöst, ist noch ungeklärt. Inzwischen sind noch andere HFE-Mutationen als Ursache der Eisenspeicherkrankheit sowie vier weitere Formen der Hämochromatose bekannt, die jedoch in der ärztlichen Praxis selten vorkommen.

 

Lange Zeit ging die Wissenschaft davon aus, dass die Hämochromatose eine Erkrankung des Darmes ist. Mit der Entdeckung des Proteins Hepcidin konnte vor Kurzem gezeigt werden, dass nicht der Darm, sondern die Leber die Schwachstelle ist. Das dort gebildete Hepcidin spielt eine wichtige Rolle bei der Eisenaufnahme im Darm. Über eine Reihe von Zwischenschritten fördert unter anderem HFE die Bildung des aus 23 Aminosäuren bestehenden Proteins. Kann Hepcidin aufgrund eines Gendefekts nicht in ausreichender Menge gebildet werden, wird zuviel Eisen aus der Nahrung aufgenommen. Es sammelt sich ein Überschuss an. Die neuen Erkenntnisse zu den Entstehungsmechanismen der Eisenspeicherkrankheit könnten den Weg zur Entwicklung neuer Therapieansätze bahnen.

 

Auch wenn es wie ein Rückgriff auf das Mittelalter wirkt: Trotz moderner Grundlagenforschung bleibt die Therapie derzeit die alte. Nach wie vor geht es darum, die Körpereisenspeicher zu entleeren, was am effektivsten durch Aderlass erreicht wird. Nach der Diagnose werden dem Patienten anfangs einmal pro Woche 300 bis 500 ml Blut entnommen, bis der Ferritinspiegel als wichtiger Marker unter 30 µg/l liegt. Dadurch werden die überschüssigen Eisenspeicher in Leber, Muskulatur und Knochenmark vollständig abgebaut. Zur Aufrechterhaltung eines normalen Eisengehaltes genügen dann in der Regel zwei bis vier Aderlässe pro Jahr - allerdings lebenslang.

 

Aderlass und Blutwäsche

 

Nielsen betonte, dass der Aderlass extrem wirksam, sicher und kostengünstig ist. Eine Behandlung mit dem Antidot Deferoxamin (Desferal®) erfolgt nicht zuletzt aus Kostengründen nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel, wenn eine fortgeschrittene Kardiomyopathie besteht oder schwerkranke Patienten den Volumen- und Proteinverlust durch einen Aderlass nicht verkraften. Deferoxamin bindet Eisen im Serum und Gewebe und wird über Galle und Urin ausgeschieden. Aufgrund der kurzen biologischen Halbwertszeit von nur fünf bis zehn Minuten wird das Medikament mithilfe eines tragbaren Infusionssystems als Dauerinfusion über fünf bis sieben Tage pro Woche (> acht Stunden/Tag oder Nacht) kontinuierlich in das Unterhautgewebe verabreicht.

 

Mit Deferasirox (Exjade®) wurde vor Kurzem ein neuer oraler Eisenchelator für Patienten mit sekundären Hämosiderosen, also zum Beispiel Eisenüberladung nach Polytransfusionstherapie, zugelassen. Zurzeit laufen Studien zur Anwendung bei Hämochromatose. Nielsen: »Wie auch immer die Ergebnisse aussehen werden. So oder so wird der Aderlass aus finanziellen Gründen seinen Stellenwert in der Therapie behalten.«

 

Mit hohen Kosten ist auch die Erythrozytapherese verbunden, bei der das Blut des Patienten aus der Armvene entnommen und in ein geschlossenes, einmal verwendbares Schlauchsystem geleitet wird. Nach Zusatz eines Antikoagulanz wird es zentrifugiert, sodass sich die Blutbestandteile entsprechend ihrer Dichte in Schichten auftrennen. Im Unterschied zum Aderlass werden dem Patienten die Plasmaproteine im Anschluss daran zurück infundiert. Auch die Erythrozytapherese kommt nur in Einzelfällen, etwa bei Patienten mit starken Leberschäden, zum Einsatz. Als Folge einer Leberzirrhose kann es in schweren Fällen zu einem hepatozellulären Karzinom (HCC) kommen. Daher sind bei diesen Risikopatienten engmaschige Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung des HCCs mit regelmäßiger Sonografie und Bestimmung spezifischer Tumormarker alle sechs Monate unumgänglich.

 

Frühe Diagnose lebenswichtig

 

»Eine frühe Diagnose ist lebenswichtig. Doch werden richtungsweisende Laborwerte meistens erst dann beobachtet, wenn bleibende Schäden schon vorliegen«, sagte Nielsen. Die Verdachtsdiagnose Hämochromatose werde meist erst bei einer deutlichen Erhöhung des Serumspiegels von Ferritin als Eisenspeicherprotein gestellt. Dieser Spiegel korreliert mit der Menge des gespeicherten Körpereisens. Er liegt bei der Mehrheit der symptomatischen Patienten deutlich über 1000 µg/l.

 

Ferritin ist als Einzelparameter unspezifisch, da er auch bei entzündlichen Erkrankungen wie beispielsweise chronischer Virushepatitis, alkoholischer Hepatitis und rheumatoider Arthritis erhöht sein kann. Auch sind Patienten beschrieben worden, die trotz eines erhöhten Eisenspeichers einen normalen Serumferritinwert aufwiesen. Durch kombinierte Bestimmung des Serumferritinwerts und der Transferrinsättigung, die bei der Mehrzahl der Hämochromatose-Patienten über 60 Prozent liegt, können jedoch 94 Prozent der Betroffenen identifiziert werden.

 

Der Hämochromatose-Gentest zum Nachweis oder Ausschluss der HFE-Mutationen C282Y und H63D beziehungsweise S65C wird heute an zahlreichen Zentren durchgeführt. Die Mutationen H63D und S65C sind mit einer milderen Verlaufsform assoziiert. Durch die genetische Untersuchung erübrigt sich zumeist eine Punktion der Leber, die allerdings bei einem Ferritinwert über 1000 µg/l dringend erforderlich wird. Weltweit zählt Hamburg neben Turin und San Francisco zu den wenigen Standorten, an denen auch die nicht invasive Lebereisenbestimmung bei Hämochromatose mithilfe eines Biomagnetometers praktiziert wird. Bei der Messung wird die Störung eines von außen angelegten, aber hochkonstanten Magnetfeldes durch das paramagnetische Speichereisen in der Leber des Patienten aufgezeichnet und direkt in die Eisenkonzentration umgerechnet.

 

»Der Ausprägungsgrad der Hämochromatose ist extrem variabel. Durch Messung der magnetischen Suszeptibilität, also Reaktionsfähigkeit der Leber, können Risikopatienten gut von weniger betroffenen Patienten unterschieden werden. Zudem kann der Fortgang der Aderlasstherapie jederzeit auch für den Patienten sichtbar verifiziert werden«, so Nielsen. Der Mediziner betont, dass ausgehend von jedem neuen Patienten eine Familienuntersuchung zumindest der Geschwister durchgeführt werden sollte, die bei dem rezessiven Erbgang der Hämochromatose statistisch zu 25 Prozent ebenfalls homozygot betroffen sein können. Dringend empfiehlt auch die Hämochromatose-Vereinigung Deutschland (www.haemochromatose.org) den Gentest bei Verwandten ersten Grades als Familienscreening.

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