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Reisemedizin

Generation Silberlocke auf Achse

25.03.2014  16:45 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Die rüstigen Rentner von heute sind alles andere als immobil. Im internationalen Reiseverkehr wächst der Anteil an Senioren stetig. Viele von ihnen haben zumindest eine Vorerkrankung. Das schließt Fernreisen meist nicht aus, erfordert aber eine gründliche Vorbereitung.

»Unvorbereitetes Wegeilen bringt unglückliche Wiederkehr.« Dieser Satz Goethes aus »Wilhelm Meisters Wanderjahre« ist wahrscheinlich das am häufigsten bemühte Zitat auf reise­medizinischen Fortbildungen. So auch beim Forum Reisen und Gesundheit, das das Centrum für Reisemedizin am Rande der Internationalen Tourismusbörse Anfang März in Berlin veranstaltete.

 

Insbesondere Reisende mit Vor­erkrankungen sollten Goethes Worte beherzigen. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren gestiegen und wächst weiter, weil vor allem immer mehr Senioren unterwegs sind. Schätzungen zufolge sind bis zu 30 Prozent der inter­na­tional Reisenden mindestens 60 Jahre alt. Diese fühlen sich zwar in der Regel fit, kommen aber nur in weniger als 40 Prozent der Fälle ohne regelmäßige Me­di­ka­men­ten­ein­nah­me aus, wie Professor Dr. Robert Steffen von der Universität Zürich informierte.

 

»Ältere brauchen länger, um sich im Urlaub an die ungewohnte Temperatur, Luft­feuch­tig­keit und gegebenenfalls die Höhe zu akklimatisieren. Deshalb sollten sie dafür von vorneherein mehr Zeit einplanen«, sagte Steffen. Infolge der sogenannten Immunseneszenz verfügen Senioren meist über ein schwächeres Immunsystem als junge Menschen. Ob das für die Immunantwort auf Impfungen eine praktische Relevanz habe, sei allerdings fraglich. »Man sollte hier keineswegs in Nihilismus verfallen und Impfungen nicht geben, weil man keine ausreichende Impfantwort erwartet«, so Steffen. Im Gegenteil: Ältere seien anfälliger für Infektionserkrankungen wie Influenza und Pneumokokken-Pneumonie und sollten daher gegen die entsprechenden Erreger geimpft werden.

 

Das gilt genauso für Menschen mit erworbener oder angeborener Immunschwäche, eine reisemedizinisch beratungsintensive Patientengruppe. Sie bauen aufgrund ihrer Grunderkrankung einerseits nach Impfungen niedrigere Antikörpertiter auf, sind aber aus demselben Grund besonders auf deren Schutzwirkung angewiesen, wie Dr. Fritz Holst vom Tropen- und Reisemedizinischen Zentrum Marburg ausführte. Ob eine Booster-Impfung angezeigt ist, lässt sich anhand einer Antikörperbestimmung entscheiden. Damit für beides noch Zeit bleibt, sollten immungeschwächte Patienten spätestens drei Monate vor Reiseantritt ihren Arzt kontaktieren.

 

Impfungen mit Totimpfstoffen sind bei immunsupprimierten Patienten also nicht nur erlaubt, sondern dringend zu empfehlen. Sie werden von dieser Patientengruppe nicht schlechter vertragen als von Menschen ohne Immunschwäche, so Holst. Lebendimpfungen können nicht in jedem Fall verabreicht werden, da sie bei ausgeprägter Immunschwäche die entsprechende Erkrankung auslösen können. So sei etwa der orale Typhus-Lebendimpfstoff bei Immunschwäche kontraindiziert. Gegen Gelbfieber, Masern-Mumps-Röteln, Varizellen und Herpes zoster könne dagegen bei leichter bis mittelschwerer Immunschwäche geimpft werden. »Das Problem besteht allerdings oft darin, die Schwere des Immundefekts abzuschätzen«, so der Mediziner. Dazu gebe es keine Laborparameter, nur klinische Erfahrungen.

 

Bei HIV-Infizierten ist die CD4- Zellzahl ausschlaggebend. »Patienten mit einer CD4-Zellzahl von mehr als 500 pro Mikroliter brauchen keine Sonderbehandlung und können geimpft werden wie ein gesunder Reisender«, sagte Holst. Bei Werten zwischen 200 und 500 CD4-Zellen/μl könnten asymptomatische HIV-Patienten Lebend­impfungen erhalten, bis zu 30 Prozent der Patienten mit CD4-Zahlen zwischen 200 und 300/μl erreichten aber keine ausreichenden Antikörpertiter. Betrage die CD4-Zahl unter 200/μl, seien weder Lebendimpfungen noch Risikoreisen erlaubt und Totimpfungen schlechter wirksam.

 

Reisen trotz Herz-Kreislauf-Problemen

 

Mit großem Abstand die häufigsten Diagnosen bei älteren Reisenden sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Welche davon eine Kontraindikation für das Urlaubmachen darstellen, erklärte Dr. Ilse Janicke vom Herzzentrum Duisburg. Als Kardiologin und Pilotin ist sie dafür prädestiniert, denn Reisetauglichkeit ist in dieser Patientengruppe in der Regel gleichbedeutend mit Flugtauglichkeit.

 

Die Reiseflughöhe eines Passagierflugzeugs beträgt üblicherweise bis zu 13 500 Meter. In der Kabine herrscht ein Druck wie auf 2400 Meter Höhe, die Luft ist mit maximal 14 Prozent Feuchtigkeit sehr trocken. Durch den niedrigen Luftdruck sinken der arterielle Sauerstoffdruck im Blut im Vergleich zu Meereshöhe von 95 mmHg auf 68 mmHg und die Sauerstoffsättigung von 97 auf 90 Prozent. »Ein gesundes Herz kann das problemlos kompensieren, ein krankes unter Umständen nicht so gut«, so Janicke.

Patienten, die auf einem Flug Probleme bekommen können, lassen sich mithilfe einer einfachen Übung identifizieren: »Wer ohne Beschwerden in der Ebene 50 Meter weit gehen oder zehn bis zwölf Stufen steigen kann und wessen Herzerkrankung stabil ist, kann fliegen«, sagte die Kardiologin. Wer diesen Test nicht besteht, muss nicht in jedem Fall auf die Flugreise verzichten, braucht aber unter Umständen persönliche Assistenz am Flughafen und/oder Extra-Sauerstoff über den Wolken.

 

Welche Voraussetzungen für die Reise erfüllt sein müssen, legt der behandelnde Arzt auf einem sogenannten Meda-Formular fest. Meda steht für medical fitness for air travel. Auf dem Formular werden Angaben zum Gesundheitszustand von und Betreuungshinweise für kranke Fluggäste festgehalten. Den ersten Teil füllt der Reiseveranstalter aus, den zweiten der behandelnde Arzt. Die meisten Fluggesellschaften stellen das Meda-Formular auf ihren Websites zum Download bereit.

 

Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten sich Janicke zufolge etwa vier bis sechs Wochen vor Reiseantritt einem kardiologischen Check-up unterziehen. Dabei könne etwa bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) und stabiler Angina Pectoris die individuelle Belastungsgrenze mittels Belastungs-EKG ermittelt werden. Bis zu 80 Prozent der dabei erreichten Pulsfrequenz könne sich der Patient auch unterwegs belasten, ohne einen Angina-Pectoris-Anfall befürchten zu müssen.

 

Verstärkte Wirkung in der Höhe

 

Wie alle chronisch Kranken sollten KHK-Patienten die regelmäßige Einnahme ihrer Medikamente auch in fremder Umgebung nicht vergessen. Eine Besonderheit dabei: »In der Höhe, also auch im Flugzeug, wirkt das Ni­trospray stärker. Ein Hub reicht«, sagte Janicke. Darüber hinaus sei zu beachten, dass Vasodilatatoren, α1- oder Betablocker die Belastbarkeit in der Höhe reduzieren können.

 

Patienten mit einem Blutdruck von über 160/90 mmHg sollten sich nicht längere Zeit in der Höhe aufhalten. Bei Werten über 200/120 mmHg besteht keine Flugtauglichkeit, doch kommt bei einer derartigen Blutdruckentgleisung ein Wegfahren normalerweise sowieso nicht infrage. Ansonsten stellt auf Reisen meist nicht die Hyper-, sondern eine Hypotonie die größere Gefahr dar: »Für Hypertoniker, die medikamentös gut eingestellt sind, besteht das Hauptrisiko in einem Blutdruckabfall durch Überdosis der Dauermedikation«, erklärte Janicke. Gründe hierfür können etwa Durchfall oder hitzebedingtes vermehrtes Schwitzen sein. In diesen Fällen sollten Patienten nach vorheriger Absprache mit ihrem Arzt gegebenenfalls die Dosis reduzieren.

 

Auch bei Herzrhythmusstörungen spricht aus kardiologischer Sicht meist weniger gegen eine Fernreise, als betroffene Patienten befürchten, so Janicke. Die antiarrhythmische Medikation sollte allerdings nicht innerhalb der letzten vier Wochen vor Reiseantritt geändert werden, da ein Präparatewechsel Rhythmusstörungen triggern kann. Eine gegebenenfalls notwendige Malaria-Prophylaxe sollte bevorzugt mit Atovaquon-Proguanil (Malarone®) erfolgen, da mit diesem Präparat im Gegensatz zu anderen Wirkstoffen keine kardialen Interaktionen bekannt sind. /

Info-Reise-Set

Die Deutsche Herzstiftung hat für Herzpatienten ein Set aus Informationsmaterialien zusammengestellt, das Interessierte auf www.herzstiftung.de/sicher-reisen (externer Link) kostenlos bestellen können. Es enthält Reisetipps für Herzpatienten, eine Checkliste zur Reisevorbereitung (direkter Download möglich), einen mehrsprachigen medizinischen Sprachführer für den Herznotfall im Ausland sowie einen Notfallausweis für Herzpatienten.

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