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Agranulozytose

Ungeklärte Nebenwirkung mit tödlicher Konsequenz

23.03.2009  14:55 Uhr

Pharmaka, die eine Agranulozytose auslösen können (Auswahl, nach [2])

Indikation, Arzneimittelklasse Wahrscheinlichkeitsgrad der UAW
Level-1-Evidenz Level-2-Evidenz
Analgetika, nicht-steroidale Antirheumatika Diclofenac, Metamizol, Ibuprofen Paracetamol, Naproxen, Piroxicam
Antiarrhythmika Chinidin Ajmalin, Amiodaron
Antibiotika, Antiinfektiva, Antimykotika Ampicillin, Cefotaxim, Cefuroxim, Flucytosin, Fusidinsäure, Imipenem/Cilastatin, Nafcillin, Oxacillin, Penicillin G, Chinin Abacavir, Amoxicillin-Clavulansäure, Cefepim, Ceftriaxon, Cefalexin, Proguanil, Clarithromycin, Dapson, Hydroxychloroquin, Indinavir, Isoniazid, Mebendazol, Nitrofurantoin, Norfloxacin, Piperacillin, Terbinafin, Co-trimoxazol, Vancomycin, Zidovudin
Antiepileptika Phenytoin Carbamazepin, Lamotrigin
Zytostatika Flutamid, Imatinib, Rituximab
Antirheumatika Infliximab Goldverbindungen, Penicillamin, Sulfasalazin
Thyreostatika Propylthiouracil Carbimazol, Thiamazol
Kardiaka Clopidogrel, Methyldopa, Ramipril, Spironolacton Bezafibrat, Captopril, Ticlopidin
Magen-Darm-Mittel Cimetidin, Metoclopramid Famotidin, Mesalazin, Omeprazol, Pirenzepin, Ranitidin
Psycho-pharmaka Clozapin, Fluoxetin Clomipramin, Desipramin, Doxepin, Imipramin, Maprotilin, Levomepromazin, Mianserin, Olanzapin, Thioridazin, Ziprasidon
andere Calciumdobesilat Dapson, Acitretin, Allopurinol, Deferipron, Prednison, Promethazin

Der sofortige empirische Einsatz von Breitbandantibiotika gegen das Fieber und eine drohende Sepsis hat sich seit den 1980er-Jahren durchgesetzt und zu einem deutlichen Rückgang der Todesfälle geführt (6). Mit dem Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktor G-CSF (Filgrastim; Beispiel: Neupogen®) und dem Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierenden Faktor GM-CSF (Molgramostim; Beispiel: Leucomax®) stehen seit einigen Jahren zusätzlich hämatopoetische Wachstumsfaktoren zur Verfügung, die die Regenerationszeit der Granulozyten verkürzen (1). Aufgrund der geringeren Nebenwirkungsraten wird heute fast nur noch G-CSF in einer mittleren Dosierung von täglich 5 µg/kg/Körpergewicht intravenös oder subkutan appliziert (6). Dank dieser verbesserten Behandlung, die etwa 65 Prozent der Patienten bekommen, sank die Letalität in Europa von 10 bis 16 Prozent auf etwa 5 Prozent ab (1). Dennoch bleibt diese Therapie aus Kostengründen Patienten mit schlechter Prognose vorbehalten.

 

Insgesamt ist festzuhalten, dass diese schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) durch eine strenge Indikationsstellung, die Verfügbarkeit der G-CSF sowie ein stringentes Blutbildmonitoring heute gut therapierbar ist. Nichtsdestotrotz verharrt die Gesamtzahl der arzneimittelinduzierten Agranulozytose mit circa 1,6 bis 9,2 Fällen pro eine Million Einwohner in Europa auf hohem Niveau (1).

 

Als Risikofaktor konnte hohes Alter mit gleichzeitiger Komedikation identifiziert werden (7). Dies gilt auch für Patienten mit Autoimmunerkrankungen, Niereninsuffizienz oder bei gleichzeitiger Gabe von Captopril oder Probenecid (1). Der Einfluss von Geschlecht und Rasse wird nach wie vor kontrovers diskutiert (7).

 

Mechanismen weitgehend unklar

 

Die Suche nach den Auslösern einer arzneimittelinduzierten Leukopenie oder einer Agranulozytose wird dadurch erschwert, dass oft nur Kasuistiken mit oft leichtem und reversiblem Krankheitsverlauf zur Verfügung stehen. Eine Pharmakopolytherapie, speziell beim geriatrischen Patienten, erschwert die eindeutige Identifikation der verantwortlichen Arzneistoffe im klinischen Alltag zusätzlich. So ist die Pathogenese dieser Blutbildveränderung noch weitgehend ungeklärt. Dennoch legt die Datenlage immunologisch-allergische Ursachen auf der einen und toxische Ursachen auf der anderen Seite nahe.

 

Bei der allergisch bedingten Typ-I-Agranulozytose fungiert das Pharmakon als auslösendes Hapten. Im Verbund mit Plasmaproteinen bilden sich Vollantigene aus, die die Bildung von Antikörpern induzieren (3). Durch Adsorption an Granulozyten kommt es zur Komplementaktivierung, die die Zelllyse zur Folge hat. Diese Schädigung der Granulozyten ist zeit- und dosisunabhängig.

 

Charakteristisch für die Typ-II- oder toxische Agranulozytose ist ihr zeit- und dosisabhängiger Verlauf. Neben allergischen und toxischen Faktoren können eine genetische Disposition oder die Kombination mehrerer Ursachen eine Rolle spielen. So wird bei Clozapin einerseits die Entstehung eines toxischen reaktiven Metaboliten diskutiert. Dieses Nitrenium-Ion soll zu einer Verarmung der Leukozyten an Glutathion und ATP führen und schlussendlich eine Apoptose der Zellen auslösen (3). Außerdem wird für Clozapin die Bildung von Antikörpern gegen das menschliche Leukozyten-Antigen (HLA) der Knochenmarksvorläuferzellen und damit eine immunologische Ursache diskutiert (7).

 

Die bisher nur unzureichend geklärten Mechanismen der arzneimittelinduzierten Agranulozytose zeigen, wie wichtig eine an der Arzneimittelsicherheit orientierte Grundlagenforschung ist. Ein systematisches Drug-Monitoring bei allen potenziell verdächtigen Pharmaka wäre geeignet, Dosis-Effekt- und Dosis-Zeit-Beziehungen aufzustellen und Risikopatienten (Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Grunderkrankungen, Komedikation) für eine Agranulozytose zu identifizieren.

 

In einer Arbeitsgruppe der Autoren wird die Frage untersucht, ob die agranulozytoseauslösende Wirkung von Arzneistoffen, insbesondere Psychopharmaka, auf die Interaktion mit speziellen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren zurückzuführen ist. Im Zentrum des Interesses steht der Histamin-H4-Rezeptor, der in myeloischen Stammzellen exprimiert wird (8). Konkret geht es um die Frage, ob eine Blockade des H4-Rezeptors durch Psychopharmaka die myeloische Stammzelldifferenzierung hemmt. In diesem Fall könnten die Forscher bei der Arzneistoffentwicklung künftig schon von Anfang an berücksichtigen, ob ein Molekül an den H4-Rezeptor bindet. Der Ausschluss derartiger »Anti-Targets« könnte die Arzneimittelsicherheit erhöhen.

 

Ferner untersucht das Autorenteam die Frage, welche Rolle der ebenfalls in myeloischen Zellen exprimierte Histamin-H2-Rezeptor bei der arzneimittelinduzierten Agranulozytose spielt (9).

 

Klassiker Metamizol

 

Mit dem Markteintritt von Metamizol 1922 (Novalgin®) wurde die Agranulozytose erstmals als arzneimittelinduzierte UAW beschrieben. Der ausgezeichneten antipyretischen und analgetischen Wirkung der Pyrazol-Derivate Metamizol und Phenylbutazon steht immer das Risiko der Blutbildschädigung gegenüber. Aufgrund dieser und anderer schwerer allergischer Nebenwirkungen wird Phenylbutazon in Deutschland nur noch zur symptomatischen Behandlung von Schmerz und Entzündung bei akuten Schüben der chronischen Polyarthritis und Morbus Bechterew eingesetzt.

 

Den Zusammenhang zwischen Schmerzmitteleinnahme und Agranulozytose untersuchte erstmals die Internationale Agranulozytose- und Aplastische Anämie Studie (IAAAS). Von 1981 bis 1984 wurden in Spanien, Bulgarien, Israel, Ungarn, Deutschland Schweden und Italien insgesamt 22,3 Millionen Menschen beobachtet. Für Metamizol wurde eine Inzidenz von 1,1 Agranulozytose-Erkrankungen pro 1 Million exponierter Personen pro Behandlungswoche festgestellt (10). Dies entspricht in absoluten Zahlen einem Verhältnis von einem Agranulozytose-Fall bei 20.000 Metamizol-Anwendern (11). Annähernd gleichlautende Zahlen legte auch das damalige Bundesgesundheitsamt (BGA) vor, um 1981 Metamizol-enthaltende Kombinationspräparate vom Markt zu nehmen. Kritisch zu bedenken bleibt allerdings, dass beim Meldeverfahren der IAAAS und des BGA bestenfalls 5 Prozent der tatsächlichen Fälle erfasst wurden. Somit muss man von einem weit höheren Agranulozytose-Risiko von bis zu 1:1000 Anwendern ausgehen (11).

 

Besonders problematisch ist, dass diese Schädigung vermutlich auch auf einem allergischen Prozess beruht, der sich bei kleinsten Dosen einstellen kann und sich bei Absetzen der Medikation nicht sofort zurückbildet. Man geht heute von einer circa zweiwöchigen Einnahmedauer aus, bis eine Immunantwort ausgelöst wird. Bei einer Reexposition kann eine allergische Reaktion dann schon bei geringen Dosen sofort auftreten (12).

 

Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Metamizol im Stufenschema der WHO zur Schmerztherapie gar nicht aufgeführt. In Deutschland hat es nur noch die Zulassung zur Behandlung starker Schmerzen nach Verletzungen oder Operationen, Koliken und Tumorschmerzen sowie bei sonstigen Schmerzen, wenn andere Maßnahmen nicht indiziert sind. Die hohe Mortalität im Fall einer Agranulozytose hat dazu geführt, dass Pyrazolon-Derivate außerhalb der geschilderten Indikationen nicht eingesetzt werden dürfen. Die Tatsache, dass Metamizol, anders als die nicht-steroidalen Antiphlogistika, keine gastrointestinalen Nebenwirkungen auslöst, hat zu einem Wiederanstieg der Verordnungszahlen und damit der UAW-Meldungen geführt, der mit Sorge betrachtet wird (13).

 

Neben Metamizol werden heute insgesamt 125 Pharmaka unterschiedlicher Struktur und Indikation weltweit für diese UAW verantwortlich gemacht (14). Die Tabelle zeigt eine Auswahl der in Deutschland vermarkteten Substanzen. Dabei wird nach der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten dieser Nebenwirkung unterschieden. Level-1-Evidenz bedeutet, dass unter allen von 1966 bis 2006 in MEDLINE und EMBASE publizierten Fällen mindestens ein »sicherer« Agranulozytose-Fall (nach WHO-Definition) vorliegt; Level-2 bedeutet, dass mindestens ein »wahrscheinlicher« Agranulozytose-Fall bekannt ist.

 

Bei den Analgetika und Antibiotika sind auch häufig verordnete Substanzen mit dem Risiko der Agranulozytose behaftet. Die Thyreostatika vom Thionamid-Typ stehen exemplarisch für eine Arzneimittelklasse, in der alle Substanzen dieses Risiko besitzen. Die Beispiele Sulfasalazin und Infliximab zeigen, dass nicht nur altbewährte Substanzen, sondern auch neue innovative Stoffe aus der Gruppe der Biologicals mit dieser Nebenwirkung belegt sind.

 

Weltweit sind mehr als die Hälfte aller gemeldeten Fälle, bei denen Arzneistoffe »sicher« oder »wahrscheinlich« eine Agranulozytose ausgelöst haben, auf wenige Pharmaka zurückzuführen. Dies sind Carbimazol, Clozapin, Dapson, Metamizol, Thiamazol, Penicillin G, Pro­cainamid, Propythiouracil, Rituximab, Sulfasalazin und Ticlopidin (14).

 

Spezialfall Clozapin

 

Mit Clozapin stellt das erste »atypische Neuroleptikum« auch heute noch den Goldstandard dieser Medikamentenklasse dar. Von anderen Substanzen hebt es sich im klinischen Bereich positiv ab durch ein erweitertes antipsychotisches Wirkspektrum, bessere Wirksamkeit bei schizophrener Negativsymptomatik, weniger EPS (extrapyramidal-motorische unerwünschte Arzneimittelwirkungen) und weniger Katalepsie (Erstarren in einer Körperhaltung) (15). Getrübt wird dieses positive Bild durch seine Auswirkungen auf das Blutbild. Clozapin, aber auch die gesamte Klasse der Psychopharmaka haben eine Inzidenz von etwa 0,8 Prozent für Agranulozytosen und rund 3 Prozent für Leukopenien. Daher sollten sie im Mittelpunkt einer kritischen Therapieüberwachung stehen (16). Deshalb schreibt das BfArM als Voraussetzung für einen Therapiebeginn ein Differenzialblutbild mit unauffälligen Leukozytenzahlen (mehr als 3500/µl Blut) vor. Weiterhin wird eine wöchentliche Kontrolle der Leukozyten und neutrophilen Granulozyten während der ersten 18 Wochen und danach mindestens alle vier Wochen während der gesamten Therapiedauer gefordert. Die amerikanische Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration (FDA) mit annähernd identischen Sicherheitsmaßnahmensubsummiert das Vorgehen unter dem Slogan »No blood, no drug«.

 

Neben den regelmäßigen Blutbildkontrollen ist bei Therapiebeginn eine Dosistitration aufgrund der kreislaufdepressiven Wirkung zwingend vorgeschrieben. Man beginnt mit einer »Testdosis« von 12,5 mg Clozapin pro Tag und erhöht schrittweise um 25 bis 50 mg bis zu einer maximalen Tagesdosis von 1000 mg (17). 

 

In einzelnen Kasuistiken konnte eine Koinzidenz zwischen Dosissteigerung und einer Agranulozytose beobachtet werden (16). Erst nach Erreichen einer »Schwellendosis« von circa 200 mg Clozapin/Tag brechen die Leukozytenzahlen dramatisch ein. Diese Schwellendosis war in allen Fällen bei Auftreten der Agranulozytose erreicht oder überschritten. Bei Annahme einer linearen Beziehung zwischen Dosis und Plasmakonzentration (18) lassen diese Daten einen Zusammenhang zwischen Clozapin-Plasmakonzentration und Agranulozytose vermuten. Allerdings wurden die Plasmakonzentrationen in den zitierten Fallbeispielen nicht systematisch bestimmt. Dieses Ergebnis steht außerdem im Widerspruch zu Analysen, die keinen Zusammenhang erkennen konnten (19). Eine endgültige Klärung dieser Frage wird erschwert durch die nur geringe Dosislinearität, die durch eine große interindividuelle Varianz der Clozapin-Pharmakokinetik bedingt ist.

 

Problematisch ist, dass die ermittelte »kritische Schwellendosis« für die UAW Agranulozytose am unteren Rand des optimalen therapeutischen Dosisbereichs von 200 bis 400 mg Clozapin/d (20) liegt. Damit ist die Maximaldosis von 1000 mg/d nicht optimal nutzbar. Tagesdosen über 200 mg sollten in jedem Fall von einer engmaschigen Kontrolle der Granulozytenzahlen begleitet werden. Wie notwendig ein therapiebegleitendes Monitoring ist, unterstreicht die Tatsache, dass Blutbildveränderungen in Einzelfällen noch 22 Monate nach Therapiebeginn diagnostiziert werden konnten. Dennoch wurde klar belegt, dass die Mehrzahl der Agranulozytose-Fälle einen bis drei Monate nach Therapiebeginn auftritt und nach einer Einnahmedauer von mehr als sechs Monaten nur ein geringes Risikopotenzial gesehen wird (21).

 

Psychopharmaka mit Risiko

 

Neben dem Extremfall Clozapin sollten prinzipiell alle Psychopharmaka kritisch überwacht werden. Die Auswertung aller Agranulozytose- und Ganulozytopenie-Fälle, die in einem Qualitätssicherungsprogramm in 32 psychiatrischen Versorgungskrankenhäusern von 1992 bis 2005 gemeldet wurden, liefert aktuelle Daten (16).

 

Erwartungsgemäß nimmt Clozapin in dieser Auswertung mit 13 Agranulozytose- und fünf Leukopenie-Fällen die Spitzenposition ein. In absteigender Reihenfolge folgen Carbamazepin, Olanzapin, Mianserin, Levomepromazin und Quethiapin. Für die mit Clozapin strukurverwandten Pharmaka Olanzapin und Mianserin erscheint die Häufung beider UAW wenig überraschend, obwohl in der Literatur ein erhöhtes Agranulozytose-Risiko für Olanzapin verneint wird (22). Allerdings wurde für diesen Arzneistoff nur ein Fall einer Agranulozytose gemeldet und dabei wurde das Neuroleptikum nicht als Monotherapie eingesetzt.

 

Relevanz für den Apotheker

 

Die Todesfälle unter Clozapin (Leponex®) veranlassten den Hersteller Novartis, das sogenannte »Reversverfahren« einzuführen. Das Fertigarzneimittel durfte nur unter Beachtung der Richtlinien und mit regelmäßigen Kontrollen des Blutbildes verordnet werden. Erst wenn der Arzt schriftlich bestätigte, dass er die Richtlinien zur Kenntnis genommen hatte, konnte die Apotheke das Präparat direkt beim Hersteller unter Nennung des Verordners beziehen.

 

Diese stringente Handhabung wurde seit 2005 durch die erneute Verfügbarkeit von Leponex beim Großhandel und den Markteintritt verschiedener Generika aufgeweicht. Während Novartis an einem modifizierten »Reversverfahren« festhält, werben Generika-Anbieter damit, dass dieses umständliche Verfahren durch die Therapierbarkeit derartiger Blutbildstörungen überflüssig geworden sei (23). Zwar ist die Rückseite der Packung mit einem dicken Hinweis auf das Agranulozytose-Risiko bedruckt, de facto wird die Verantwortung für das Erkennen einer Blutbildstörung aber auf den Patienten abgewälzt.

 

Während also das etablierte Sicherungssystem für Clozapin unterlaufen wird, existiert es für andere Substanzen mit großer Marktbedeutung wie Metamizol nicht. Diese Handhabung steht im Gegensatz zu der aktuellen Forderung einiger Autoren, ein Blutbildmonitoring gerade für die Hochrisikopharmaka Clozapin, Ticlopidin, Sulfasalazin, Cotrimoxazol, Metamizol und die Thyreostatika routinemäßig vorzunehmen (1). Ein solches Blutbildmonitoring ist ohne Probleme in jeder Hausarztpraxis mit einer Pappenheim-Färbung und Auszählung des Differenzialblutbildes möglich.

 

Ergänzend zu einer engmaschigen Überwachung der Leukozytenzahlen müssen Arzt und Apotheker die Patienten bei der Abgabe aller Pharmaka, die mit dem Risiko einer Agranulozytose einhergehen, über die möglichen Gefahren informieren. Der Patient sollte wissen, dass eine gründliche Körperhygiene, insbesondere der Zähne und im Mund-Rachen-Raum, präventiv wirksam ist, da dies die Infektionsgefahr vermindert. Ebenfall sinnvoll ist es, Menschenansammlungen zu meiden, um die Exposition gegenüber Mikroorganismen möglichst gering zu halten.

 

Schon beim Frühwarnzeichen einer grippeähnlichen Erkrankung sollte der Apotheker den Patienten an den Hausarzt verweisen, damit dieser das Blutbild kontrolliert. Zusätzlich sind die Überprüfung der Indikation und die Einhaltung der korrekten Dosierungen von großer Bedeutung. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass beim allergischen Typ der Agranulozytose schon geringe Dosen ausreichen, diese gefährliche UAW auszulösen.

 

Fazit: Kritische Indikationsstellung, gute Patientenaufklärung beim Arzt und Apotheker, Selbst- und Fremdbeobachtung der gefährdeten Patienten sowie regelmäßige Blutbildkontrollen tragen wesentlich dazu bei, die Inzidenz der Agranulozytose auch ohne zusätzliche gesetzliche Maßnahmen deutlich zu reduzieren. Jeder Arzt und Apotheker sollte Verdachtsfälle sofort an die Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker oder der Ärzte oder an das BfArM melden. Dadurch werden wichtige Daten zum Agranulozytose-Risiko von Arzneistoffen erhoben und die Arzneimittelsicherheit erhöht.

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Die Autoren

Walter Fuchs studierte Pharmazie in Regensburg und wurde am Lehrstuhl für Physiologie promoviert. Anschließend war er als Pharmakokinetiker in der Pharmaindustrie in der Klinischen Forschung tätig. Dr. Fuchs leitet zwei Apotheken und ist als Referent für pharmazeutische Unternehmen und die Bayerische Landesapothekerkammer tätig. Als Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg hat er die Vorlesungsreihe Humanbiologie aufgebaut und wirkt an der Lehre in Klinischer Pharmazie mit. Sein Forschungsschwerpunkt liegt derzeit auf der Aufklärung lebensbedrohlicher Nebenwirkungen von Psychopharmaka.

 

Ekkehard Haen studierte Medizin und Biochemie und wurde 1982 zum Dr. med. und 1998 zum Dr. rer. nat. promoviert. 1993 habilitierte er sich im Fach Pharmakologie und Toxikologie und wurde 2000 zum Professor ernannt. Seit 1997 leitet er die Klinische Pharmakologie/Psychopharmakologie der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Regensburg und ist seit 2007 Akademischer Direktor. Professor Haen ist Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie sowie für Klinische Pharmakologie und seit 1998 außerordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.

 

Roland Seifert studierte Medizin und wurde 1986 promoviert. 1991 schloss er die Facharztausbildung für Pharmakologie und Toxikologie ab und habilitierte sich 1992 an der Freien Universität Berlin. Es folgten mehrjährige Forschungsaufenthalte in den USA. Von 2004 bis 2008 war Professor Seifert Lehrstuhlinhaber für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Regensburg und baute dort das Curriculum Klinische Pharmazie/Pharmakotherapie für Pharmaziestudenten auf. Seit 2008 ist er Direktor des Instituts für Pharmakologie der Medizinischen Hochschule Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind Histaminrezeptoren und zyklische Nukleotide.

 

 

Für die Verfasser:

Dr. Walter S. Fuchs

Bavaria-Apotheke

Raiffeisenstraße 19

93077 Bad Abbach

BavariaApotheke(at)t-online.de

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