Kein Kinderkram |
18.03.2015 09:26 Uhr |
Von Maria Pues, Bad Homburg / Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen nimmt zu. Allein mit Tropfen, Tabletten oder Operationen lassen sich die Beschwerden nur in wenigen Fällen lindern. Stattdessen sind Verständnis für die Entstehung chronischer Schmerzen und ein multimodales Vorgehen gefragt.
Chronische Schmerzen beeinträchtigen Heranwachsende und ihre Angehörigen in erheblichem Ausmaß und in vielfacher Weise. Schulbesuche unterbleiben, betroffene Kinder und Jugendliche treffen ihre Freunde seltener, Eltern fehlen immer wieder am Arbeitsplatz, um ihre Kinder zu betreuen, Geschwister reagieren eifersüchtig, wenn ihnen weniger Aufmerksamkeit zuteil wird. Dass sich meist selbst nach umfassender Diagnostik keine organische Ursache finden lässt, beruhigt Betroffene und ihre Eltern selten – im Gegenteil. Je schwieriger der Auslöser zu finden ist, umso heimtückischer und schwerer müsse er sein, so eine häufige Befürchtung. Dies ist aber ebenso ein Irrtum wie die Annahme, Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen hätten nur »Schulbauchweh« oder »Mathekopfschmerz«.
Ständig Kopfweh, ständig Bauchweh: Bei Kinder mit chronischen Schmerzen gibt es häufig mehrere Schmerzlokalisationen.
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Definitionsgemäß spricht man von chronischem Schmerz, wenn dieser seit mindestens drei Monaten permanent oder mindestens einmal im Monat wiederkehrend auftritt. Hiervon sind in Deutschland geschätzt rund 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche betroffen. Für sie sind niedergelassene Kinderärzte und Kinderkliniken der richtige Ansprechpartner. Rund 5 Prozent der Betroffenen, das entspricht knapp 360 000 Kindern, leiden unter starken Schmerzen mit einer erheblichen Beeinträchtigung im Alltag. Sie benötigen meist eine spezialisierte Kinderschmerztherapie. Bestimmte Beschwerden treten dabei in bestimmten Altersgruppen gehäuft auf. So äußern kleinere Kinder eher Bauchschmerzen, ältere Kinder und Jugendliche klagen eher über Kopfschmerzen. Auch Muskel- und Gelenkschmerzen kommen vor. Häufig gibt es auch mehrere Schmerzlokalisationen.
Keine Einbildung
»Keinesfalls darf man chronische Schmerzen als rein psychisches Ereignis oder gar als Einbildung missverstehen, nur weil sich keine organische Erkrankung finden lässt, die Art und Ausmaß der Symptome erklärt«, sagte Professor Dr. Boris Zernikow vom Kinderschmerzzentrum an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln bei einer Veranstaltung der Medizinischen Gesellschaft Bad Homburg. Chronischer Schmerz verändere vielmehr Verknüpfungen im Schmerzzentrum des Gehirns. Es handele sich um eine »zentrale Sensibilisierung, einen neurobiologischen Prozess, der sich mit Arzneimitteln nicht beeinflussen lässt«. Die Behandlung erfolgt daher multimodal in Form einer biopsychosozialen Intervention. Sie berücksichtigt körperliche Veränderungen, psychische Faktoren wie Angst oder Fokussierung und den Einfluss des sozialen Umfeldes wie etwa elterliche Sorgen oder auch Vernachlässigung. Die Intervention kann, je nach Ausprägung der Beschwerden, ambulant oder stationär erfolgen (lesen Sie dazu auch Chronische Schmerzen bei Kindern: Vielschichtige Ursachen, PZ 23/2014).
Chronischer Schmerz unterscheidet sich von Akutschmerz in verschiedener Hinsicht. So ist die Intensität von akutem Schmerz mehr oder weniger abhängig von der des auslösenden Reizes (lesen Sie dazu auch Wahrnehmung: Schmerz ist subjektiv). Nozizeptoren in der Peripherie melden das Geschehen an das Gehirn, das entsprechende Maßnahmen einleitet. Die Erinnerung merkt sich diese für das nächste Mal, etwa: Hände weg von heißen Herdplatten.
Anders als Akutschmerz hat chronischer Schmerz keine Warnfunktion, sondern täuscht eine Gefahrensituation nur vor, was seinerseits die Sensibilität für neue vermeintliche Alarmsignale erhöht. Lernen, Gefühle und Erfahrungen spielen dabei eine Rolle. Ein akuter Schmerz kann, muss aber nicht als Ausgangspunkt beteiligt sein. Der Hintergrund: Das Gehirn speichert nicht nur sinnvolle Dinge, sondern mitunter scheinbar wahllos wundervolle ebenso wie schreckliche Musik, traumhaft schöne ebenso wie peinliche Erlebnisse, Wohlgefühle ebenso wie Schmerz – Dinge, die einen besonders guten oder besonders schlechten, darum aber stets einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Hinzu kommt, dass das Gedächtnis verschiedene Ereignisse miteinander verknüpfen kann, etwa ein trauriges Erlebnis und dabei ursächlich unabhängig erfahrenen Kopfschmerz. Wie andere entsprechend abgespeicherte Erinnerungen kann der Schmerz später durch bestimmte Auslöser (auch positiver Art) wieder zu neuem Leben erweckt werden.
Chronischen Schmerzen liegen Veränderungen im Schmerznetzwerk des ZNS zugrunde, die sich durch Medikamente nicht beeinflussen lassen.
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Was bei akutem Schmerz hilft, zum Beispiel Schonung, Zuwendung und Ruhe, kann sich bei chronischem Schmerz daher als Verstärker erweisen, berichtete Zernikow weiter. Einerseits gibt es kein schmerzauslösendes Ereignis wie eine Verletzung, das diese Maßnahmen sinnvoll macht. Andererseits bestätigen und verstärken solche Maßnahmen den Schmerz als unbewusst erlerntes Verhalten. Besonders deutlich wird das bei funktionellem Bauchschmerz. Zernikow empfiehlt Eltern betroffener Kinder, bei Bauchweh auf Kakao, Kuscheln und Pantoffelkino zu Hause zu verzichten und stattdessen die Kinder in den Kindergarten und zur Schule zu schicken. »Kakao, Kuscheln und Pantoffelkino müssen aber nicht abgeschafft werden«, betonte er. Dafür sollte regelmäßig und für die Kinder verlässlich Zeit sein – aber stets unabhängig von Bauchweh.
Anders als bei den meisten chronischen Schmerzen kommen im akuten Migräneanfall sinnvollerweise auch Arzneimittel zum Einsatz: nicht steroidale Antihreumatika und Triptane. »Dabei muss man die geltenden Ansichten über die Wirkungsweise der Triptane vermutlich überdenken«, sagte Zernikow unter Verweis auf aktuelle Studien. Demnach erweiterten sich im Migräneanfall Blutgefäße im Gehirn nicht, und Triptane verengten diese nicht. Für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen seien durch die europäische Arzneimittelbehörde EMA Sumatriptan und Zolmitriptan zugelassen; die US-amerikanische FDA habe Almotriptan und Rizatriptan zugelassen. »Viele Migräne-Patienten leiden außerdem auch unter Spannungskopfschmerz«, informierte Zernikow. Hier sei es für Betroffene wichtig, diese beiden Kopfschmerzarten unterscheiden zu lernen, da Triptane nur bei Migräne wirksam sind und auch nur dann angewendet werden dürfen.
Zernikow sprach sich gegen eine medikamentöse Migräneprophylaxe bei Kindern aus. So sei die Studienlage zum Nutzen verschiedener Arzneimittel wie Betablocker, Calcium-Antagonisten oder Topiramat sehr uneinheitlich. Zudem spreche gegen eine solche Prophylaxe, dass durch die tägliche Einnahme der Bahnung von Verhaltensweisen Vorschub geleistet werde, der Schmerz nur passiv erlebt werde und mit Nebenwirkungen zu rechnen sei. Häufig gelinge es aber, durch Lebensstilmaßnahmen die Zahl der Anfälle zu reduzieren. /
Informationen, nicht nur für Eltern und Kinder: www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de
Video des Deutschen Kinderschmerzzentrums: Den Schmerz verstehen – und was zu tun ist in 10 Minuten! www.youtube.com/watch?v=KpJfixYgBrw
Lesetipp für Betroffene und Eltern: Rote Karte für den Schmerz: Wie Kinder und ihre Eltern aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen, 3. Auflage 2014, ISBN-13 978-3896706881