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MS bei Kindern

Mehr Läsionen, mehr Schübe

14.03.2018  09:34 Uhr

Von Brigitte M. Gensthaler, München / Bei Multipler Sklerose (MS) im Kindes- und Erwachsenenalter scheint es sich grundsätzlich um die gleiche Erkrankung zu handeln. Es gibt aber altersabhängige Besonderheiten. So haben pädiatrische Patienten mehr Läsionen im Gehirn und eine höhere Schubrate.

MS ist die häufigste neurologische ­Erkrankung bei jungen Erwachsenen. ­Allerdings entwickeln etwa 3 bis 5 Prozent aller Patienten bereits vor dem 17. Lebensjahr Symptome. Dann sprechen Mediziner von einer pädiatrischen MS. Vor dem 10. Lebensjahr ist die ­Erkrankung sehr selten, aber sie kann in Einzelfällen schon im Kleinkindalter beginnen.

 

Keine benigne Erkrankung

 

Im Vergleich zu Erwachsenen haben pädiatrische Patienten mehr Läsionen im Gehirn, die in der Magnet­resonanz-Tomografie (MRT) sichtbar werden, und eine höhere Schubrate. »Die Schubrate ist bei Kindern zu Beginn oft doppelt so hoch, dennoch galt die pädiatrische MS lange als benigne«, informierte Dr. Astrid Blaschek bei einem Symposium der Firma Merck in München. Die Kinderneurologin betreut die MS-Sprechstunde an der Haunerschen Kinderklinik der LMU München und ist Mitautorin der aktuellen S1-Leitlinie »Pädiatrische Multiple Sklerose«.

 

Der Grund für die Fehleinschätzung: Da sich die Symptome bei Kindern schneller und vollständiger zurückbilden, steigt der Behinderungsgrad langsamer an. Jedoch erreichen die ­Patienten durchschnittlich nach etwa 20 Jahren Krankheit auf der »Expanded Disability Status Scale« (EDSS) einen Wert von 4. Das bedeutet eine einschränkende Behinderung des Alltagslebens. »Aufgrund des frühen Erkrankungsbeginns sind die Patienten dann im Durchschnitt erst 34 Jahre alt«, verdeutlichte die Ärztin. Problematisch seien auch kognitive Defizite, die bei Kindern und Jugendlichen auftreten können.

 

Die Verlaufsformen der pädiatrischen MS entsprechen denen bei Erwachsenen. Ärzte unterscheiden das klinisch isolierte Syndrom (CIS), die schubför­mige remittierende MS (RRMS) und die sekundär progrediente MS (SPMS). Am weitaus häufigsten bei Kindern und ­Jugendlichen ist der primär schub­förmige Verlauf, der gekennzeichnet ist durch akute Schübe mit neuro­logischen Symptomen, einer Remission und einem progressionsfreien Intervall. Die mittlere Schubrate beträgt laut Leit­linie bei der pädiatrischen MS 1,9 im ersten Jahr nach Manifestation, 0,7 im zweiten Jahr und 0, 4 im dritten Jahr. Die SPMS ist ein zweites Krankheits­stadium mit schleichender Zunahme der Behinderung, häufig ohne zusätzliche Schübe. Bei früher Manifestation tritt der Übergang in die sekundäre Progredienz in der Regel nach 10 bis 20 Jahren ein. Sehr selten bei Kindern sind primär progrediente Verläufe (PPMS). Dabei kommt es von Anfang an zu einer kontinuierlich zunehmenden Behinderung ohne Schübe.

 

Frühzeitig therapieren

 

Die Therapie bei Kindern erfolge in Anlehnung an die Erwachsenen-Therapie, sagte Blaschek. Ein Schub sollte möglichst bald, also innerhalb von zwei bis fünf Tagen nach Symptombeginn behandelt werden. In der Regel bekommt das Kind drei bis fünf Tage lang intra­venös einmal täglich 20 mg/kg Körpergewicht Methylprednisolon (Maximal­dosis 1 g/Tag) unter Magenschutz. Tritt keine Besserung ein, wird diese Steroid-Pulstherapie wiederholt.

 

Eine anschließende immunmodulierende Therapie soll die Schubrate und -schwere reduzieren sowie bleibende Behinderungen möglichst verhindern oder wenigstens hinauszögern. Daher soll diese Therapie möglichst rasch nach Diagnosestellung beginnen. In der Praxis sei das nicht einfach, berichtete Blaschek. »Pädiatrische Patienten mit MS fühlen sich nicht krank und wollen nicht an Krankheit und Therapie denken. Wir müssen dem Kind und den Eltern erklären, wie wichtig die Therapie auch nach einem Schub ist.«

 

Für Jugendliche sei es meist am wichtigsten, dass sie die Therapie möglichst nicht bemerken und am Wochenende mit ihren Freunden ausgehen können. »Jugendliche bevorzugen Therapien, die zum Beispiel am Dienstag, Donnerstag und Sonntag angewendet werden, sodass sie Freitag und Samstag ihre Freizeit genießen können.«

 

Auch für Dr. Lukas Cepek, nieder­gelassener Neurologe in Ulm, bildet der Stufenplan der MS-Therapie die Basis der Arzneimittelauswahl. Bei Patienten mit leichten oder mittelschweren Verlaufsformen wird zunächst eine Therapie mit einem Interferon-Präparat (IFN-β1b oder IFN-β1a) oder Glatirameracetat eingeleitet. In Deutschland sind alle Präparate ab zwölf Jahren zugelassen. Das IFN-β1a-Präparat Rebif® darf sogar schon bei Patienten ab zwei Jahren ­gespritzt werden, informierte der Arzt. Wichtig ist eine gewichtsadaptierte Dosierung.

Laut Blaschek reagieren Kinder meist gut auf die Injektabilia. »Wenn sie auf Interferone ansprechen, dann wirken diese gut. Ein Nicht-Ansprechen sieht man relativ rasch.« Weitere Medikamente wie Dimethylfumarat, PEG-INF-β1a, Teriflunomid und Alemtuzumab, die für Erwachsene mit milder bis moderater Verlaufsform zugelassen sind, haben keine Kinderzulassung.

 

Sprechen die Patienten auf die Basis­therapie nicht ausreichend an oder haben sie eine hochaktive Verlaufsform, müssen die Ärzte die Therapie eskalieren, zum Beispiel mit Natalizumab, Fingolimod und Alemtuzumab. Das ist immer ein Off-Label-Einsatz, denn diese Medikamente sind in Deutschland nicht für Patienten unter 18 Jahren zugelassen. Laut Blaschek und Cepek liegen die meisten Erfahrungen für Natalizumab vor. Die Therapie führt in der Regel zum weitgehenden Stillstand der Krankheitsaktivität. Problematischste Nebenwirkung ist eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML).

 

Derzeit laufen Therapiestudien bei Kindern und Jugendlichen mit Dimethyl­fumarat, Teriflunomid und Fingolimod, informierte Blaschek. Die Phase-III-Studie PARADIGMS mit oralem Fingolimod wurde im Herbst 2017 veröffentlicht. Eingeschlossen waren 215 Patienten im Alter von 10 bis 17 Jahren. Nach Angaben des Herstellers Novartis führte die perorale Behandlung zu einer 82 Prozent geringeren Schubrate im Vergleich zu intramuskulär verabreichtem IFN-β1a. Außerdem sei die Zahl an Läsionen im Gehirn stärker zurückgegangen und das Gehirn habe weniger Volumen verloren. Noch ist aber Fingolimod für Kinder nicht zugelassen. /

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