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OTC

Angriff auf die Pole-Position

16.03.2016  09:11 Uhr

Von Thomas Glöckner / Das Geschäft mit rezeptfreien Arzneimitteln entwickelt sich zu einem der stärksten Treiber für Übernahmen in der Pharmaindustrie. Für eine bessere Position im Markt nehmen Konzerne sogar höhere Schulden in Kauf.

Olivier Brandicourt, Vorstandschef des französischen Pharmakonzerns Sanofi, verfolgt große Pläne. Er will »eine wettbewerbsfähige Position in den Bereichen erarbeiten, in denen wir führend sein können«. Dabei soll ihm das Geschäft mit verschreibungsfreien Medikamenten von Boehringer Ingelheim helfen. Die Pfälzer, so sein Plan für die laufenden Verhandlungen, treten ihre Sparte mit »over-the-counter« (OTC)-Präparaten an die Franzosen ab. Im Gegenzug bekommen sie Sanofis Tierarzneisparte Merial.

Weltmarktführer

 

Damit schwingt sich Sanofi zum Weltmarktführer im OTC-Geschäft auf. Boehringer zeigt sich aufgeschlossen. Das Familienunternehmen hat eingesehen, dass es auf dem Feld der Selbstmedikation mit einem Umsatz von schätzungsweise 1,6 Milliarden Euro im Jahr 2015 abgeschlagen ist – »sowohl beim Produktangebot als auch bei der geografischen Präsenz«, wie ein Unternehmenssprecher einräumt.

 

Sanofis Beispiel ist ein weiterer Beleg für einen Trend. Pharmaunternehmen berufen sich immer öfter auf die Chancen im weltweit rund 112 Milliarden Euro schweren Markt für OTC-Präparate, wenn sie Firmenübernahmen oder den Tausch von Geschäftseinheiten begründen. »Größe allein ist kein Wett­bewerbsvorteil mehr«, beobachtet Micha­el Kunst, Partner und Pharmaexperte der Strategieberatung Bain & Company. »Unternehmen fokussieren sich stark«, analysiert Gerd Stürz, Leiter des Bereichs Life Sciences bei der Unternehmensberatung EY, »sie verstärken sich gezielt in ganz bestimmten Bereichen«.

 

So peilt beispielsweise auch der niederländische Pharmakonzern Mylan mit der 7 Milliarden Dollar schweren Übernahme des schwedischen Konkurrenten Meda dessen OTC-Geschäft mit Produkten wie Kamillosan an. Mylan-Chefin Heather Bresch freut sich jedenfalls schon auf »eine Milliarde Dollar OTC-Geschäft und Zugang zu Wachstumsmärkten wie China, Südostasien, Russland und den Mittleren Osten«.

 

Kunst bestätigt: »Wenn die Zukäufe dazu führen, dass OTC-Spieler ihre Wettbewerbsposition in einzelnen Ländern oder Produktkategorien wie Allergie, Vitamine und Dermatologie stärken, ergeben sich daraus interessante Vorteile.«. So könnten sie beispielsweise eine breitere Produktpalette anbieten und von Kostenvorteilen bei Entwicklung, Marketing und Vertrieb ihrer Produkte profitieren.

 

Umsatztreiber OTC

 

Nach Zahlen des Marktforschers IMS Health ist allein auf dem deutschen Arzneimittelmarkt der Umsatz mit rezeptfreien Präparaten 2015 auf 8,1 Milliarden Euro gestiegen. Das war ein Plus von 7,4  Prozent gegenüber dem Vorjahr. 6,6  Milliarden Euro davon haben die Verbraucher nicht auf Rezept, sondern aus eigener Initiative in der Apotheke bezahlt. Das entsprach sogar einem Zuwachs von 8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Von rund 1,6 Milliarden Packungen, die 2015 über den HV-Tisch gingen, »war mehr als jede zweite Packung ein rezeptfreies Arzneimittel«, stellen die Marktforscher fest – Tendenz: steigend.

 

Das besonders auf den angelsächsischen Markt fokussierte Marktforschungsunternehmen GBI Research erwar­tet, dass anziehende Gesundheitskosten die Geschäftschancen für OTC-Präparate weiter verbessern, weil »Patienten ermutigt werden, Verschreibungen zugunsten preiswerter Alternativen zu vermeiden«.

 

In diesem Geschäft hat sich zuletzt der britische Pharmariese Glaxo-Smith-Kline (GSK) mit einem Tausch an die Spitze gesetzt. »Novartis übernimmt von GSK die Onkologie und überlässt GSK das Consumergeschäft«, beschreibt Kunst die unternehmerische Logik.

 

Hohe Verschuldung

 

Tatsächlich konnte GSK im Jahr 2015 bei einem Umsatz von umgerechnet 40,7  Milliarden Euro (plus 6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) das OTC-Geschäft um 44 Prozent auf 8,2 Milliarden Euro steigern – nicht zuletzt dank der übernommenen Novartis-Marken Voltaren®, Otrivin® und Theraflu®. Allerdings hat die Einkaufstour der vergangenen Jahre die Verschuldung des britischen Konzerns auf 14,6 Milliarden Euro getrieben.

 

GSK legt Wert darauf, das schwankungsanfällige Pharmageschäft nicht nur mit Impfstoffen, sondern vor allem mit den hohen und verlässlicheren Umsätzen der Consumer-Health-Sparte abzufedern. »Wir befinden uns in einer Win-win-Situation«, betont GSK-Chef Andrew Witty, den Hedgefonds-Manager immer wieder zur Aufspaltung des Unternehmens drängen. »Es ist sehr sinnvoll, diese Geschäfte gemeinsam zu betreiben.«

 

Auch für Deutschlands größtes Pharmaunternehmen Bayer, das in den Jahren 2013 und 2014 viel Geld in Übernahmen gesteckt hat, zahlt sich das Investment ins OTC-Geschäft offenbar aus. 2015 konnte Bayer seine Umsätze mit dem Consumer-Health-Geschäft um 30 Prozent auf 9,1 Milliarden Euro steigern, während das Pharmageschäft nur halb so stark auf 13,7 Milliarden Euro zulegte. Das von MSD übernommene Antihistaminikum Claritin™ avancierte mit einem Umsatz von 627 Millionen Euro sogar zu Bayers wichtigstem Consumer-Health-Produkt. Die frühere MSD-Fußpflegesparte Dr. Scholl’s™ steuerte erstmals 253 Millionen Euro bei.

 

Bayers Strategie zur Gewinnsteigerung wird noch deutlicher beim Vergleich der Kennzahlen des Jahres 2015 mit denen von 2013 – also dem Jahr vor den OTC-Zukäufen Bayers. Binnen zwei Jahren hat der Gesamtkonzern den Gewinn zwar um knapp 27 Prozent auf 6,3 Milliarden Euro steigern können. Die Consumer-Health-Sparte hat im gleichen Zeitraum ihren Gewinn aber auf rund 4 Milliarden Euro mehr als verdreifacht.

 

Für den Erfolg seiner Division mit verschreibungsfreien Präparaten hat auch der Leverkusener Konzern einen drastischen Anstieg seiner Verschuldung in Kauf genommen, die 2015 bei 17,4 Milliarden Euro lag. Damit gehört Bayer zu den am höchsten verschuldeten Unternehmen in der Life-Science- und Pharmabranche.

 

Am Ausbau ihres OTC-Geschäfts halten die Leverkusener dennoch fest. Im Januar eröffnete Bayer eine rund 200 Millionen Euro teure Fabrik beim im Jahr 2014 übernommenen chinesischen Anbieter Dihon Pharmaceutical Group. Die Anlage wird OTC-Produkte und Arzneimittel der traditionellen chinesischen Medizin herstellen und soll Bayers Position im chinesischen Pharmamarkt verbessern.

 

Zurück an Pole-Position

 

Bayers Life-Science-Chefin Erica Mann, die im Januar als erste Frau in den Bayer-Vorstand einzog, ist zwar klar, »dass wir die Schulden zurückzahlen müssen«. Der Konzern hat aber wiederholt deutlich gemacht, dass er sich die an GSK verlorene Pole-Position im Geschäft mit frei verkäuflichen Arzneimitteln zurückerobern will.

 

Den Coup mit dem OTC-Geschäft von MSD hatte der bisherige Bayer-Strategievorstand Werner Baumann mit eingefädelt. Er rückt Ende April an die Spitze des Konzerns. Finanzieller Spielraum für weitere Akquisitionen im OTC-Bereich könnte sich ergeben, wenn sich Baumann vom verbleibenden 69-Prozent-Anteil an der inzwischen selbstständigen Kunststoffsparte Covestro trennt. /

 

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