Schlüsselmoleküle für Nervenzellen |
18.02.2013 11:48 Uhr |
Von Michael van den Heuvel / Neurotrophe Faktoren haben zentrale Aufgaben bei der embryonalen und adulten Neurogenese. Diese Proteine kontrollieren, ob junge Nervenzellen überleben und sich in neuronale Netze integrieren oder gezielt durch Apoptose eliminiert werden. Bei neurodegenerativen und neurologischen Erkrankungen könnten sie therapeutisch hilfreich sein.
Trotz seiner Komplexität bestimmen nur zwei Zelltypen den wesentlichen Aufbau des Gehirns. Nervenzellen leiten Aktionspotenziale über dünne Fortsätze, die Axone, weiter. An Kontaktstellen zu anderen Neuronen, den Synapsen, werden Botenstoffe (Neurotransmitter) ausgeschüttet. Sie übertragen chemische Signale. Die Nervenzellen sind im Gehirn hauptsächlich von Gliazellen – dazu gehören Astrozyten und Oligodendrozyten – umgeben. Diese bilden ein Stützgerüst und bauen Strukturen wie die Blut-Hirn-Schranke auf. Sie halten auch das Stoff- und Ionengleichgewicht aufrecht.
Nervenwachstumsfaktoren, sogenannte neurotrophe (nervenernährende) Faktoren, sind Proteine mit einer Größe von rund 13 Kilodalton. Sie werden im zentralen Nervensystem von adulten Nervenzellen ausgeschüttet, während in der Peripherie Gewebezellen die Faktoren sezernieren (Grafik 1). Neurotrophe Faktoren kontrollieren Wachstum, Differenzierung und Überleben von Nervenzellen und sind an der Signalübertragung beteiligt. Ohne diese Moleküle sind keine Lern- und Reparaturvorgänge möglich.
Grafik 1: Neurotrophe Faktoren werden entweder von Zellen eines Zielgewebes produziert und dann von Neuronen aufgenommen (oben) oder von Neuronen selbst hergestellt und ausgeschüttet.
Die Untersuchung neurotropher Faktoren begann mit einer Zufallsbeobachtung. Vor mehr als 60 Jahren entdeckten Rita Levi-Montalcini und Viktor Hamburger, dass Ganglien je nach Körperregion verschieden stark wuchsen, teilweise aber ohne erkennbare Ursachen abstarben. Daraufhin postulierten sie die Existenz unbekannter Neurotrophine bei der embryonalen Neurogenese. Schließlich gelang der Nachweis entsprechender Proteine.
Forscher haben mittlerweile zahlreiche Neurotrophine isoliert und charakterisiert: unter anderem den Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF), den Nerve Growth Factor (NGF), das Neurotrophin 3 (NT-3) und das Neurotrophin 4/5. Diese Signalstoffe binden an membranständige Rezeptoren, die von allen Nervenzellen im peripheren und zentralen Nervensystem exprimiert werden. Eine zentrale Rolle spielt der sogenannte p75-Neurotrophinrezeptor. Er bindet diverse Neurotrophine, wenn auch nur vergleichsweise schwach. Tyrosinkinase-Rezeptoren (Trk) haben eine weitaus größere Affinität zu NGF (Trk A), BDNF sowie zu NT-4/5 (Trk B) beziehungsweise NT-3 (Trk C). Das hat Folgen für das Überleben der einzelnen Zelle.
Nach der Bindung eines neurotrophen Faktors an p75 ändern sich Stoffwechselprozesse in der Nervenzelle. Über Signaltransduktionskaskaden wird der induzierte Zelltod (Apoptose) ausgelöst. Binden dagegen Neurotrophine an Trk, führt das auf molekularer Ebene genau zum Gegenteil. Das Signal an der Membran löst intrazellulär Prozesse aus, die anti-apoptotisch wirken und die Zelle vor dem Untergang schützen. Beide Prozesse steuern in Konkurrenz, ob eine neu entstandene Nervenzelle benötigt wird oder zu eliminieren ist.
Mittlerweile wissen Forscher, dass Neurotrophine nicht nur an der embryonalen und adulten Neurogenese beteiligt sind. Viele Körperzellen exprimieren NGF als Antwort auf Verletzungen der Peripherie. In diesen Regionen fördert das Protein eine starke Aussprossung beschädigter Nervenendigungen. Mutationen im NGF-Gen sind ein möglicher Auslöser seltener, erblich bedingter Neuropathien. Ansonsten haben die Proteine eine schützende Rolle bei zahlreichen neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen, etwa Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson oder Chorea Huntington. Dafür sprechen zahlreiche Tierexperimente.
Dreidimensionale Rekonstruktion einer mit einem rot fluoreszierenden Farbstoff gefüllten Nervenzelle der Großhirnrinde
Foto: Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
In den letzten Jahren haben Wissenschaftler weitere Polypeptide mit neurotrophen Eigenschaften isoliert: Ciliary Neurotrophic Factor (CNTF), Glial Cell Line-derived Neurotrophic Factor (GDNF), Insulin-ähnlicher Wachstumsfaktor (Insulin-like Growth Factor, IGF) sowie Fibroblasten-Wachstumsfaktor (Fibroblast Growth Factor, FGF). Auch der Transforming Growth Factor (TGF)-beta und der Sonic Hedgehog bewahren Neuronen im ZNS vor dem Untergang.
Kontrolle der embryonalen Neurogenese
Nur bei einfachen Lebewesen ist die Zahl an Nervenzellen, die in ein Zielgewebe einwachsen, genetisch festgelegt. Dagegen entstehen bei der embryonalen Neurogenese bei Säugetieren mehr Nervenzellen aus Vorläufern von Neuralrohr und Neuralleiste als später benötigt werden. Während dieses Vorgangs bewegen sich junge Neuronen chemotaktisch entlang eines Konzentrationsgradienten, gesteuert von Chemokinen wie Ephrin, Netrin oder Semaphorin. An ihrem Zielort bilden sie Axone und Dendriten aus, um Netzwerke zu formen. Dabei steuern Neurotrophine durch ihre Konzentration als limitierende Faktoren die Nervendichte im jeweiligen Gewebe. Gelingt es jungen Nervenzellen nicht, sich in ein Gewebe zu integrieren, gehen sie durch Apoptose zugrunde. Das ist während der Embryogenese bei fehlgeleiteten oder überflüssigen Neuronen der Fall.
Beschädigte Neuronen eliminiert der Körper über proNGF, das Vorläuferprotein von NGF. Es bindet zusammen mit dem Corezeptor Sortilin an den p75-Rezeptor, ein Transmembranprotein, was zur Apoptose führt.
Postnatale und adulte Neurogenese
Auch im reifen, differenzierten Organismus müssen sich Nervenzellen veränderten Gegebenheiten anpassen. Italienische Forscher wiesen im Tierexperiment nach, dass Mäuse, die nach ihrer Geburt in »Stillgemeinschaften« mit mehreren Tieren aufwuchsen, im Vergleich zu Tieren in »Einzelfamilien« rascher soziale Kompetenzen erwarben. Auf molekularer Ebene wurde der Nerve Growth Factor fünfmal und der Brain-Derived Neurotrophic Factor achtmal stärker exprimiert als in der Kontrollgruppe. Die Forscher werten dies als Argument für ihre Hypothese der neuronalen Plastizität, konnten aber noch keinen kausalen Zusammenhang belegen.
Während Wissenschaftler bis in die 1990er-Jahre annahmen, eine Neurogenese finde nur während der Embryonalentwicklung sowie in der frühen postnatalen Phase statt, kam es später zum Paradigmenwechsel. Die US-amerikanische Neurobiologin Elizabeth Gould konnte im Gehirn adulter Ratten neu gebildete Nervenzellen nachweisen. Entsprechende Vorgänge laufen im Hippocampus ab, einem Teil des Temporallappens (Grafik 2). Aus neuronalen Stammzellen entstehen durch mitotische Teilung junge Nervenzellen. Später ließ sich die adulte Neurogenese beim Menschen auch im Bulbus olfactorius (Riechkolben) nachweisen. Die Neurogenese ist ein Leben lang möglich; dies nachzuweisen, gelang noch bei über 70-jährigen Probanden.
Grafik 2: Bei der adulten Neurogenese bilden sich neue Nervenzellen (rot gezeichnet) im Hippocampus. Sie wandern aus den Randgebieten des Gyrus dentatus in tiefer gelegene Regionen. Unreife neue Neuronen (Bildmitte) integrieren sich in Gegenwart neurotropher Faktoren in Netzwerke (rechts) und nehmen Signale aus anderen Hirnregionen auf. Die Vernetzung wird durch Lernprozesse begünstigt.
Die Teilungsrate adulter neuronaler Stammzellen wird von verschiedenen Neurotransmittern, unter anderem Serotonin, sowie von Wachstumsfaktoren wie BDNF beeinflusst. Auch Wachstumsfaktoren wie Insulin-like Growth Factor (IGF-1) oder Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) spielen eine Rolle. VEGF stimuliert auch die Angiogenese. Deshalb sind viele Vorläuferzellen im Gyrus dentatus bei Blutgefäßen zu finden. Sie entwickeln sich dort zu unreifen Neuronen. Nicht benötigte Nervenzellen sterben innerhalb weniger Wochen wieder ab. Gould wies nach, dass neue Nervenzellen erhalten bleiben, wenn sie in das neuronale Netz integriert werden. Rund drei Wochen nach der mitotischen Teilung wandern neue Nervenzellen vom Ort ihrer Entstehung weg in andere Regionen des Hippocampus. Bei dieser Wanderung reifen sie auch in elektrophysiologischer Hinsicht. Nach rund vier Wochen ist die Differenzierung abgeschlossen.
Aktivierung der adulten Neurogenese
Im Gehirn von adulten Ratten entstehen pro Tag bis zu 10 000 neue Nervenzellen. Forscher konnten deren Produktion ankurbeln, wenn sie die Tiere zu körperlicher Aktivität anregten. Wahrscheinlich läuft der Prozess über VEGF und IGF-1. Beide Moleküle werden unter Bewegung vermehrt ausgeschüttet. Im Experiment ließ sich die adulte Neurogenese ebenfalls fördern, wenn Tiere kognitiv stark gefordert wurden. Nur Nager, die schwierige Aufgaben lösen mussten, profitierten auf neuronaler Ebene davon. In deren Gehirn bildeten Nervenzellen Dendriten aus, die Signale aus anderen Arealen empfingen. Bei anspruchsvollen Lernprozessen integrierten sich auch junge Nervenzellen in Netzwerke, und die Zellen überlebten. Ohne einen Stimulus starben sie früher oder später ab.
Schwierige Aufgabe für die Maus – aber sie wird den Käse finden.
Foto: Fotolia/fergregory
Diese Erkenntnisse aus dem Mausmodell lassen sich auf den Menschen übertragen. Auch hier führen Lernprozesse in jedem Alter zur Anpassung neuronaler Netze. Französische Forscher um den Neurobiologen Stanislas Dehaene konnten mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie Änderungen im Gehirn von erwachsenen Lesekundigen im Vergleich zu Analphabeten nachweisen. Sie fanden bei Personen, die eine reguläre Schule besucht hatten, im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Bildung Neuorganisationen unter anderem im visuellen Cortex.
Ethanol oder körpereigenes Cortisol hemmen zumindest im Tierexperiment die adulte Neurogenese. Dauerhafter Stress führte bei Nagern zu einer Atrophie des Hippocampus, dies ist unter anderem ein Merkmal chronischer Depressionen. Zumindest im Tierexperiment gibt es Hinweise für diesen Zusammenhang.
Bei Säugetieren kommen neuronale Stammzellen im Hippocampus und im Bulbus olfactorius vor. Gliazellen fungieren nur während der embryonalen Entwicklung des Gehirns als Stammzellen, verlieren diese Eigenschaft aber in späteren Entwicklungsstadien. Münchner Neurobiologen ist es gelungen, im Tierexperiment sogenannte Astrogliazellen zu reaktivieren. Nachdem gezielt Transkriptionsfaktoren eingeschleust wurden, entstanden verschiedene Nervenzellen. Der neurotrophe Faktor Neurogenin-2 führte zur Bildung von erregenden Neuronen, während das Homöoboxprotein DLX-2, ein wichtiger Transkriptionsfaktor, Astroglia in hemmende Neuronen umwandelte. Dieser Vorgang ließ sich auch durch Verletzungen stimulieren. Er könnte dazu beitragen, geschädigtes Gehirngewebe zu regenerieren. Auch hier schützten Neurotrophine junge Nervenzellen, die sich bereits in Netzwerke integriert haben, vor dem Zelltod.
Therapeutisches Potenzial
Darüber hinaus sind Neurotrophine an pathophysiologischen Vorgängen beteiligt (Tabelle). Hier setzen Pharmakotherapien an. Bei schubförmiger multipler Sklerose ist Glatirameracetat zugelassen, ein synthetisches Polymerisat aus (L)-Glycin, (L)-Glutaminsäure und (L)-Tyrosin (GLAT), ähnlich dem Myelin-basischen Protein. Professor Dr. Ralf Gold von der Ruhr-Universität Bochum konnte nachweisen, dass nach Gabe des Medikaments mehr entzündungshemmende Zellen wie Monozyten gebildet werden und zusätzlich BDNF entsteht.
Neurotropher Faktor | Rezeptor | Assoziierte Krankheitsbilder |
---|---|---|
Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) | Low-affinity Nerve Growth Factor Receptor (LNGFR; synonym: p75) | Neurologische und neurodegenerative Krankheiten, zum Beispiel Alzheimer-Krankheit, Anorexie, Bulimie, Chorea Huntington, Depression, Schizophrenie, Alkohol- und Drogenabhängigkeit |
Ciliary Neurotrophic Factor (CNTF) | unter anderem Ciliary Neurotrophic Factor Receptor (CNTFR), Interleukin-6-Rezeptor | Adipositas; bei neurodegenerativen Erkrankungen kaum von Vorteil |
Fibroblast Growth Factor (FGF)-Familie: 23 verschiedene Proteine, von denen 10 im Gehirn nachgewiesen wurden | FGF-Rezeptor | Reduzierte im Tierexperiment die Folgen eines Schlaganfalls |
Glial Derived Neurotrophic Factor-Familie: Artemin (ARTN), Glial Derived Neurotrophic Factor (GDNF), Neurturin (NRTN), Persephin (PSPN) | Rezeptor-Tyrosinkinase und GDNF-Family Receptor | Alzheimer-Krankheit (PSPN), amyotrophe Lateralsklerose (GDNF, NRTN), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (GDNF), chronische Schmerzen (ARTN), Parkinson (GDNF, NRTN), Epilepsie (NRTN), Schlaganfall (PSPN) |
Nerve Growth Factor (NGF) | Tyrosinkinase-Rezeptor (Trk A) und LNGFR (p75) | Alzheimer-Demenz, Anorexie, Autismus, Bulimie, Depression, Morbus Parkinson, multiple Sklerose, Schlaganfall, kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, metabolisches Syndrom |
proNGF | Sortilin (Corezeptor), p75 | neuronale Schäden bei Verletzung oder Apoplex; Alzheimer- und Parkinson-Krankheit, multiple Sklerose |
Neuregulin-Familie: Neuregulin-1, -2, -3, -4 | erbB-Tyrosinkinasen: erbB2, erbB3, erbB4 | Schizophrenie, Parkinson-Krankheit |
Neurotrophin-Familie: Neurotrophine 3 und 4/5 (NT3, NT4/5) | Tyrosinkinasen Trk B und Trk C, LNGFR (p75) | Störungen der synaptischen Plastizität, Entwicklungsstörungen von Nerven |
Laquinimod, ein weiterer Arzneistoff bei MS, wird gerade in einer Phase-III-Studie untersucht. Im Vergleich zu Placebo verringerten sich die jährliche Schubrate und das Progressionsrisiko signifikant. Der Arzneistoff triggert Immunzellen im zentralen Nervensystem, die BDNF produzieren und freisetzen. Bei 76 Prozent der Patienten kam es zu einem signifikanten Anstieg dieses Nervenwachstumsfaktors, unabhängig vom Alter, Geschlecht oder Schweregrad der Erkrankung. Inflammatorische, demyelinisierende Prozesse gingen zurück.
Ralf Gold ist es außerdem gelungen, periphere T-Zellen, die sich gegen Nervenzellen richten, zu manipulieren. Sie durchquerten mit BDNF beladen die Blut-Hirn-Schranke. Dort entfaltete das Protein seine neuroprotektive Wirkung.
Ausschnitt einer Rekonstruktion des Hippocampus. Einzelne Nervenzellen sind detailliert zu sehen.
Foto: MPI für Psychiatrie
Auch bei Morbus Alzheimer spielen Neurotrophine eine wichtige Rolle. Hier wird die neuronale Plastizität unter anderem durch Beta-Amyloide und ApoE4-Enzyme gestört. Neurologen an der Uniklinik Köln versuchen, den Krankheitsprozess über eine tiefe Hirnstimulation des Nucleus basalis hinauszuzögern. Seit mehr als einem Jahr läuft dazu eine Studie. Das Team um Professor Dr. Jens Kuhn vermutet, dass unter dieser Therapie Neurotrophine ausgeschüttet werden, die neuronale Verbindungen stabilisieren. Mittlerweile fanden Wissenschaftler im Gehirn von Alzheimer-Patienten auch proNGF, das Zellen in den programmierten Zelltod treibt. Ihre Hypothese: Dieses Protein könnte ein Auslöser für den massenhaften Untergang von Neuronen sein. Diese Vermutung ließ sich zumindest im Tierexperiment bestätigen.
Patienten mit Chorea Huntington leiden an funktionellem Gehirnverlust durch den Untergang von GABA- und Enkephalin-ergen Neuronen. Dänische und niederländische Forscher erzeugten transgene Zellen, die in hohem Maß neurotrophe Faktoren exprimierten, und verpackten diese in einen miniaturisierten »Strohhalm« mit beschichteter Oberfläche. Dann implantierten sie die Zellen minimal invasiv in das Gehirn von Ratten und stimulierten mit neurotoxischer Chinolinsäure Symptome einer Chorea Huntington. Tiere mit der biologischen Quelle im Gehirn zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe eine nahezu normale Gehirnleistung.
Nach wie vor entdecken Wissenschaftler neue Nervenwachstumsfaktoren und damit Ansätze für neue Therapiemöglichkeiten. Professor Mart Saarma, Universität von Helsinki, fand den Conserved Dopamine Neurotropic Factor. CDNF ist in der Lage, dopaminerge Nervenzellen zu schützen und sogar nach einer Beschädigung zu retten. Das konnte in einer Studie mit Ratten gezeigt werden. Ende 2011 erhielt Saarma Forschungsgelder von der US-amerikanischen Michael J. Fox-Foundation, um zusammen mit einem Industriepartner das Potenzial von CDNF auszuloten.
Erste Hilfe für Nervenzellen
Akute Krankheitsprozesse wie ein Schlaganfall oder eine Verletzung des Gehirns führen zum Untergang von direkt geschädigten, aber auch von gesunden Nervenzellen in der näheren Umgebung. Dieser Vorgang wird von proNGF, einem Vorläufer des neurotrophen Faktors NGF, ausgelöst. Beide Proteine unterscheiden sich vom Effekt her grundlegend. Während proNGF apoptotisch wirkt, entsteht daraus nach Spaltung das neuroprotektive NGF. Verschiedene Primär-, Sekundär- und Tertiärstrukturen erklären, warum die Eiweiße trotz ihrer strukturellen Ähnlichkeit an unterschiedliche Rezeptoren passen.
Wer sein Gehirn fordert, regt die Neurogenese an – in jedem Alter.
Foto: Fotolia/Markus Bormann
Bindet proNGF zusammen mit dem Corezeptor Sortilin an p75, wird eine Signaltransduktionskaskade angestoßen, die Neuronen in den Zelltod treibt. Transgene Mäuse, die keine Sortilin-Bindungsstelle exprimieren, erlitten weitaus geringere Schäden. Damit fanden Wissenschaftler endlich einen möglichen Grund, warum beispielsweise nach einem Apoplex nicht nur direkt geschädigte Neuronen untergehen, sondern auch benachbarte gesunde Zellen. Der Effekt ließ sich nicht allein durch Sauerstoffmangel erklären. Auch bei Schäden am Rückenmark sind die Auswirkungen weitaus dramatischer, als durch das Trauma selbst zu erwarten wäre. Jetzt versuchen Wissenschaftler, Inhibitoren des Sortilin-Rezeptors zu entwickeln, die sich als Pharmaka eignen könnten.
Auch in der Augenheilkunde könnten neurotrophe Faktoren therapeutisch nützlich sein. Ein Glaukom führt häufig zur Erblindung, da in der Netzhaut retinale Ganglienzellen zugrunde gehen. Die Arbeitsgruppe von Professor Dr. André Reis, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg, fand sieben verschiedene Mutationen im Gen, das für Neurotrophin 4 codiert. In-silico-Analysen zeigten, dass verändertes NT-4 nicht an seinen Tyrosinkinase-Rezeptor Trk B bindet und damit keine neuroprotektive Wirkung mehr entfaltet. Diese These belegte Professor Yves Barde vom Biozentrum Basel durch In-vitro-Experimente. Jetzt lautet die Strategie, Trk B pharmakologisch zu aktivieren und damit Nervenzellen am Leben zu erhalten.
Marker für Suchterkrankungen
BDNF reguliert die neuronale Plastizität und spielt deshalb auch bei Suchterkrankungen eine wichtige Rolle. Polymorphismen des zugehörigen Gens lassen sich unter anderem mit dem lebensbedrohlichen Delirium tremens bei Alkoholentzug in Verbindung bringen. Ärzte fanden bei alkoholabhängigen, »trockenen« Patienten über längere Zeit hohe BDNF-Spiegel, die eine wertvolle Ergänzung zu den üblichen Laborparametern bieten. Während übliche Blutwerte, zum Beispiel Aspartat-Aminotransferase oder Pankreas-Elastase, nur Informationen über eine akute oder chronische Intoxikation geben, erlaubt BDNF Rückschlüsse auf die sogenannte biologische Abstinenz. Darunter verstehen Forscher das Verlangen nach Alkohol (Craving) und das Risiko eines Rückfalls.
Hohe BDNF-Serumspiegel waren in Studien mit einer schlechten Prognose verbunden. Hier sind noch weitere Untersuchungen erforderlich, um die Mechanismen vollständig aufzuklären und BDNF als diagnostischen Biomarker klinisch nutzen zu können. /
Zahlreiche Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der klinischen Relevanz neurotropher Faktoren. Steht ein Sprung von der Grundlagenforschung zur Anwendung bevor? Die Pharmazeutische Zeitung sprach mit Professor Dr. Günter U. Höglinger vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), München.
PZ: Neurotrophe Faktoren spielen eine zentrale Rolle bei neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen. Wie bringt man die vergleichsweise großen Proteine an ihren Wirkort?
Höglinger: Alle Strategien setzen darauf, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Generell haben wir zwei Möglichkeiten: Moleküle lassen sich auf der anderen Seite der Blut-Hirn-Schranke applizieren, etwa über eine Infusion. Das hat man in klinischen Studien bei Menschen mit Morbus Parkinson versucht – keine elegante und dauerhafte Lösung, weil die Patienten operiert werden müssen und nicht ständig eine intrazerebrale Infusionskanüle tragen können. Außerdem lässt sich mit einer Infusion nicht das riesengroße Hirn abdecken. Andere Forschungsansätze arbeiten mit Adeno-assoziierten Viren, die Gene für Wachstumsfaktoren beinhalten. Dann produzieren Nerven- und Gliazellen vor Ort selbst Neurotrophine, zum Beispiel Neurturin. Hier laufen momentan ebenfalls klinische Studien.
PZ: Welche Strategien gibt es in puncto Pharmakotherapie mit kleinen Molekülen?
Höglinger: Kleine Moleküle wie das Steroid Cogane™ passieren nach peroraler Gabe die Blut-Hirn-Schranke ohne Probleme. Anschließend wird die Expression von Wachstumsfaktoren stimuliert. Hierzu läuft momentan eine Studie; die Patienten mit Morbus Parkinson im Frühstadium wurden rekrutiert. Wir warten mit Spannung auf die Ergebnisse. Im Gegensatz zu anderen Strategien wirkt Cogane im gesamten Gehirn. Das ist wichtig, da neurodegenerative Erkrankungen in der Regel alle Bereiche betreffen.
PZ: Können therapeutisch relevante Proteine auch die Blut-Hirn-Schranke passieren?
Höglinger: Hier gibt es interessante Arbeiten zu den Neuregulinen. Moleküle dieser großen Gruppe fungieren nicht nur als Rettersubstanzen für Nerven, sondern kommen in der embryonalen Entwicklung vor. Tritt im adulten Zustand eine Schädigung im Gehirn auf, werden ursprünglich in der Ontogenese stattfindende Mechanismen wieder reaktiviert. Besonders interessant ist das Neuregulin-1, das auch bei Schizophrenie eine Rolle spielt. Störungen im Neuregulin-1-Gen gelten als wichtiger Risikofaktor für diese Krankheit. Hohe Neuregulin-1-Spiegel führen zu hoher Dopaminkonzentration im Hippocampus. Wir wissen, vereinfacht ausgedrückt, dass zu viel Dopamin mit Schizophrenie und zu wenig Dopamin mit Morbus Parkinson assoziiert ist. Wir haben jetzt ein kleines Neuregulin-1-Fragment hergestellt, das trotzdem Rezeptoren aktiviert. Aufgrund der geringen Größe ist eine Passage über die Blut-Hirn-Schranke möglich, was wir über radioaktive Markierungen im Tierexperiment nachgewiesen haben. Ob das ein aktiver Transport ist oder eine passive Diffusion dahintersteckt, wissen wir noch nicht.
PZ: Welche klinische Relevanz hat das Neuregulin-1-Fragment?
Höglinger: Bemerkenswerterweise finden sich Neuregulin-1-Rezeptoren vor allem in der Substantia nigra im Mittelhirn. Im nächsten Schritt haben wir anhand von Parkinson-Modellen getestet, ob Neuregulin-1-Fragmente bei peripherer Gabe diese Nervenzellen schützen: mit Erfolg! Wir hoffen, dass es bald zur klinischen Weiterentwicklung kommt.
Michael van den Heuvel studierte an der Universität München Chemie mit den Schwerpunkten pharmazeutische und organische Chemie und schloss sein Studium mit dem Diplom ab. Nach einer journalistischen Ausbildung beim Klett-Verlag arbeitet er als Wissenschaftsjournalist in den Bereichen Pharmazie und Medizin.
Michael van den Heuvel, Neuherbergstraße 48, 80937 München, E-Mail: pharmajournalist(at)yahoo.de
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