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Interview

»Der Stress ist konstant geblieben«

05.02.2013  16:37 Uhr

Von Christina Hohmann-Jeddi / Der berufliche Stress nimmt zu, die Zahl der psychischen Erkrankungen auch. So lautet der Tenor der aktuellen Berichterstattung über den Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dass dies nicht unbedingt die Wirklichkeit abbildet, erklärt Professor Dr. Wolfgang Maier, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung.

PZ:In der Presse wird vermehrt über den Anstieg der psychischen Erkrankungen in Deutschland berichtet. Wie sehen Sie die Entwicklung? Gibt es tatsächlich eine Zunahme?

 

Maier: Nein. Ein Anstieg von psychischen Erkrankungen ist nicht wissenschaftlich belegt. Was aber zu beobachten ist, ist eine verstärkte Inanspruchnahme von medizinischer Hilfe bei psychischen Problemen. Dies hängt zusammen mit der Enttabuisierung dieses Themas in den vergangenen Jahren.

PZ: In der aktuellen Studie zur Gesundheit der Erwachsenen in Deutschland, DEGS1, werden erschreckende Zahlen genannt: 27,7 % Prozent der Erwachsenen habe in dem untersuchten Zwölf-Monats-Zeitraum unter einer oder mehreren psychischen Störungen gelitten. Trifft das zu?

 

Maier: Ja, in Deutschland sind etwa ein Drittel aller Frauen und ein Viertel aller Männer betroffen. Dabei sind aber alle Formen erfasst, auch leichte Formen von Phobien und missbräuchlicher Alkoholkonsum. Dieses Ergebnis stammt aus dem jüngsten Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts, also der amtlichen Gesundheitsberichterstattung. In anderen europäischen Ländern gibt es ähnliche Studien mit vergleichbaren Ergebnissen. Daraus ergibt sich aber kein gesicherter Hinweis, dass die Zahl der Erkrankungen zunimmt.

 

PZ: Es gibt aber einen Anstieg der Fehltage aufgrund von psychischen Erkrankungen. Laut Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen sind es allein 2011 bundesweit 59 Millionen Fehltage gewesen. Dies sei ein Anstieg um 80 Prozent in den vergangenen 15 Jahren.

 

Maier: Unseres Erachtens ist dies auf ein geschärftes Problembewusstsein und auf das resultierende, realitätsgerecht veränderte Diagnoseverhalten der Ärzte zurückzuführen. Ärzte sind heute zunehmend in der Lage, psychische Erkrankungen zu erkennen. Und sie sind im Vergleich zu früher eher bereit, psychische Erkrankungen ernst zu nehmen und als Ursache von Beschwerden in Betracht zu ziehen. Früher hätten sie denselben Patienten, bei dem heute eine psychische Erkrankung di­agnostiziert wird, auch krankgeschrieben, aber mit einer anderen Diagnose wie zum Beispiel Rückenschmerzen.

 

PZ: In der derzeitigen Debatte wird der Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen vor allem auf Stress am Arbeitsplatz zurückgeführt. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der berufliche Stress?

 

Maier: Die Arbeitswelt hat sich in einer Weise verändert, die zu mehr Stress geführt hat. Arbeitnehmer sind heute einer erhöhten Arbeitsintensität, einer größeren Aufgabenvielfalt und Multitasking, einem verstärkten Zwang zur Flexibilität und dem häufigen Fehlen klarer Grenzen zwischen Beruf und Freizeit ausgesetzt. Doch der aktuell veröffentlichte Stressreport zeigt, dass der Stress seit der letzten Befragung konstant geblieben ist. Außerdem ist festzustellen, dass Stress nicht unbedingt krank machen muss. Er kann auch stimulierend wirken, eine Herausforderung sein. Wichtig sind hierbei die Ressourcen, wie zum Beispiel Unterstützung durch Kollegen, Lob vom Vorgesetzten, verbesserte Qualifizierung und hohe Motivation. Der Stress darf nicht zur Überforderung werden.

Pauschale Aussagen zur Wirkung von beruflichem Stress sind sehr schwierig. Das sollte man unbedingt am Einzelfall festmachen. Verschiedene Menschen gehen mit demselben Stress unterschiedlich um.

 

PZ: Was sind denn die Hauptursachen für psychische Erkrankungen?

 

Maier: Hier spielen verschiedene Faktoren zusammen. Das sind neben der Überforderung im Beruf auch andere Belastungen, wie die Schwierigkeit, Arbeit und Familie zu vereinbaren, private Konflikte wie Trennungen, Erziehungsprobleme oder Trauerfälle. Letztere sind klassische Auslöser von Depressionen.

 

Auch in Verbindungen mit chro­nischen körperlichen Erkrankungen kommt es vermehrt zu psychischen Störungen oder bei Alkoholmissbrauch.Insgesamt sind die Voraussetzungen dafür, dass jemand eine psychische Erkrankung entwickelt, individuell stark unterschiedlich. Dies hängt zum einen von der individuell sehr unterschiedlichen genetischen Ausstattung und von frühkindlichen Erfahrungen ab. Wer in der Kindheit wenig Unterstützung erfahren hat, wird unter Umständen ein Leben lang hilfsbedürftiger sein als andere Menschen. Auch eine lieblose, insbesondere aber missbräuchliche Erziehung ist ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen. Festzuhalten ist: Es gibt niemals nur eine Ursache, sondern immer viele. /

Der Stressreport in Zahlen

Das Stressniveau am Arbeitsplatz hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Das ist ein Ergebnis des »Stressreports Deutschland 2012«, den die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) nun veröffentlicht hat. Er ist auf der Seite des BAuA (www.baua.de) unter Publikationen zu finden. Der Bericht beruht auf einer Befragung von etwa 18 000 abhängig Beschäftigten in den Jahren 2011 und 2012. Der Stresslevel hat sich den Daten zufolge seit 2006 kaum verändert. So berichten die Beschäftigten nach wie vor häufig von Multitasking (58 Prozent), starkem Termin- und Leistungsdruck (52 Prozent) oder ständig wiederholenden Arbeitsvorgängen (50 Prozent). 44 Prozent erleben während ihrer Arbeit häufig Störungen. Auch die durchschnittliche Arbeitszeit, die Sonn- und Feiertagsarbeit, Rufbereitschaft und Probleme der Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Interesse sind seit 2006 in etwa gleich geblieben. Dies gilt auch für den Umfang der sogenannten Ressourcen wie Handlungsspielraum und Unterstützung, die zu einer Bewältigung des Stresses beitragen: So berichten etwa 80 Prozent der Befragten von einem guten sozialen Klima am Arbeitsplatz und guter Zusammenarbeit. Dem Report zufolge lassen etwa 25 Prozent Pausen ausfallen und begründen dies in mehr als ein Drittel der Fälle mit zu viel Arbeit. 20 Prozent der Befragten geben an, mengenmäßig überfordert zu sein. Mehr als drei Viertel fühlen sich den Anforderungen aber gewachsen. Dagegen berichten etwa 12,5 Prozent von fachlicher Unterforderung. Eines ist seit 2006 gesunken: Die Angst vor drohenden Entlassungen. Auch das Ausmaß von Umstrukturierungen habe abgenommen, heißt es in dem Report.

 

Im Bericht spricht die BAuA davon, dass positiv herausfordernde Arbeit förderlich für Gesundheit und mentale Fitness ist. Problematisch sei Arbeit, die dauerhaft überfordert.

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