Chronischen Schmerz abgestuft therapieren |
30.01.2009 14:21 Uhr |
Chronischen Schmerz abgestuft therapieren
Von Gudrun Heyn
Lange Zeit waren sich viele Ärzte unsicher, ob es das Fibromyalgiesyndrom (FMS) als Krankheit überhaupt gibt. Erstmals haben jetzt alle großen medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland das FMS als ernst zu nehmendes Krankheitsbild anerkannt. Aufgrund der vielfältigen Symptomatik gibt es jedoch kein einfaches Therapiekonzept.
Seit etwa 100 Jahren ist die Fibromyalgie ein sehr umstrittenes Syndrom. Ausgedehnte Faser-Muskel-Schmerzen, begleitet von vielen anderen möglichen Symptomen, quälen die Patienten. Auch heute noch zweifeln einige Mediziner daran, dass das komplexe Beschwerdebild Ausdruck einer ernst zu nehmenden Erkrankung ist (1, 2). Bisweilen kursiert sogar der Begriff vom eingebildeten Patienten oder vom Irritable-everything-Syndrom.
»Doch nun kann niemand mehr behaupten, dass es die Fibromyalgie als Krankheitsbild nicht gibt«, sagte Dr. Winfried Häuser vom Zentrum für Schmerztherapie des Klinikums Saarbrücken beim Deutschen Schmerzkongress in Berlin (1). Unter seinem Vorsitz haben sich zwölf Fachgesellschaften und mehrere Patientenvereinigungen auf Empfehlungen verständigt, die in einer gemeinsamen Leitlinie im Sommer 2008 veröffentlicht wurden. Basis des Konsenses sind alle wissenschaftlichen Studien zum Fibromyalgiesyndrom bis zum Jahr 2006. Allein für die Empfehlungen zur Arzneimitteltherapie haben Experten der Organisationen systematisch 1399 Literaturstellen ausgewertet. Damit wird auch die Behauptung ad absurdum geführt, es gebe nichts, womit die Leiden der Betroffenen behandelt werden könnten.
Unterstützung erhalten Patienten und aufgeklärte Mediziner zudem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10-GM, GM: German Modification, Version 2009) ist die FMS unter den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (Nr. M 79.7) aufgeführt. Jedoch bleibt das Syndrom schwer zu diagnostizieren und schwer zu behandeln.
Oft nicht erkannt
Patienten mit FMS haben in der Regel eine jahrelange Schmerzkarriere und eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich, bevor sie die richtige Diagnose erhalten. Im Durchschnitt vergehen 2,4 Jahre und mindestens vier verschiedene Mediziner werden konsultiert (3). Bei einzelnen Betroffenen können sogar 13 und mehr Jahre verstreichen, bis sie endlich wissen, woran sie leiden.
»Für die Ärzte ist es oft schwierig, Fibromyalgie von verschiedenen anderen Erkrankungen abzugrenzen«, sagte Dr. Rieke Alten, Chefärztin an der Berliner Schlosspark-Klinik (2). So können etwa chronische Rückenschmerzen, neurologische Leiden oder medikamentös-toxische Myopathien ähnliche Beschwerden hervorrufen. Aber auch die wenig fächerübergreifenden Kenntnisse von Fachärzten können der Diagnose im Weg stehen. Orthopäden klassifizieren das Leiden als Rückenschmerzen, Gastroenterologen als Reizmagen- oder Reizdarmsyndrom, Neurologen als Spannungskopfschmerz, Urologen als Reizblase und Gynäkologen als chronische Unterbauchschmerzen, heißt es in der Leitlinie (4).
In Deutschland sind sich die Ärzte ihrer Wissenslücken sehr wohl bewusst, wie eine große Studie ergab (3). So fühlt sich die Mehrzahl der befragten Mediziner nicht ausreichend in der Untersuchung von FMS-Patienten geschult. Und rund 60 Prozent glauben, dass FMS oft oder fast immer fehldiagnostiziert wird. Besonders häufig zweifeln Allgemeinmediziner daran, ein FMS anhand seiner Symptome erkennen und von anderen Erkrankungen unterscheiden zu können. Zudem bestätigen 87 Prozent der Hausärzte und 96 Prozent der Spezialisten (Rheumatologen, Neurologen, Schmerzspezialisten und Psychiater), dass sie die Patienten nicht immer ernst nehmen.
Auch die Betroffenen selbst wissen oft nicht, wie sie ihre Beschwerden einordnen sollen. Mehr als 80 Prozent glauben, diese würden von alleine wieder verschwinden oder sie könnten sie selbst in den Griff bekommen. So dauert es in der Regel 13 Monate, bevor FMS-Patienten einen Arzt aufsuchen. »Dies ist Zeit genug, damit sich der Schmerz verselbstständigen und sich ein ausgeprägtes Schmerzgedächtnis etablieren kann«, sagte der Neuropharmakologe Professor Dr. Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München (2).
Weder selten noch harmlos
Vorurteile über FMS-Erkankte gibt es viele. Eines davon lautet: Sie sind selten. Doch etwa sechs Prozent der Patienten, die in Deutschland eine Allgemeinarztpraxis aufsuchen, und zwölf Prozent, die in eine rheumatologische Praxis gehen, leiden unter einem Fibromyalgiesyndrom (1). Zur Prävalenz gibt es bislang nur Schätzungen. Diese gehen davon aus, dass in Mitteleuropa bis zu drei Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
Menschen aller Altersstufen können an den diffusen Schmerzen erkranken, auch Kinder, Jugendliche und sehr alte Menschen. Besonders häufig betroffen sind Frauen über 35 Jahren. Daten aus Süddeutschland belegen, dass etwa 5,5 Prozent der weiblichen Bevölkerung ab 35 unter dem Syndrom leiden, mit steigender Tendenz. Dagegen kommt auf vier bis sechs erkrankte Frauen in der Regel nur ein Mann. Darunter sind auch Leistungssportler und Männer, die schwer körperlich gearbeitet haben. Allein aufgrund der Vorgeschichte wird die FMS dann oft übersehen.
Trotz moderner Untersuchungsmethoden ist es bisher nicht gelungen, eine organische Ursache des chronischen Leidens nachzuweisen. Niemand stirbt an FMS und auch die Lebenserwartung ist normal. Dennoch ist es keine harmlose Befindlichkeitsstörung. Die Patienten leiden unter einem vielschichtigen Krankheitsbild mit einer Fülle von Beschwerden, die den ganzen Körper betreffen. In der Regel sind diese nicht selbstlimitierend und die Patienten müssen ein Leben lang damit zurechtkommen.
»Was subjektiv geklagt wird, lässt sich inzwischen auch objektiv nachvollziehen«, sagte der Schmerzspezialist Häuser. Dafür sprechen neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die mithilfe bildgebender Verfahren gewonnen werden konnten. So ist bei FMS-Patienten beispielsweise deutlich weniger graue Substanz vorhanden als in Gehirnen gesunder Menschen (5). Studien zeigen zudem, dass die Erkrankten weniger Muskelkraft besitzen, etwa in den Händen. Doch bis heute weiß niemand, ob die verminderte Muskelkraft eine Ursache der FMS ist oder sekundär als Folge eines FMS-bedingten Schonungsverhaltens entsteht.
Immer ein Bündel von Symptomen
In Deutschland berichten Betroffene im Mittel über sieben verschiedene Krankheitssymptome (3). Im Vordergrund steht der sogenannte chronic wide spread pain, ein ausgedehnter chronischer Schmerz, der muskulär und gelenknah in mehreren Körperregionen gleichzeitig auftritt. Rund 70 Prozent aller Patienten klagen über die unklaren Schmerzen etwa in Rücken, Brustkorb, Armen und Beinen. Drei Viertel haben sie mehr als zweimal pro Woche, ein Fünftel sogar jeden Tag.
Besonders häufig sind zudem Kopfschmerzen (71 Prozent), Berührungsschmerzen (68 Prozent), Fatigue (63 Prozent) und ein deutliches Steifigkeitsgefühl (59 Prozent). In anderen Studien nennen Betroffene vor allem Erschöpfung, Schlafstörungen, gastroenterale Beschwerden, vermehrte Ängstlichkeit, Parästhesien, Konzentrationsstörungen und Depressionen als wichtigste Symptome (1, 4). Besonderen Wert legten die Patientenvertreter bei der Erstellung der Leitlinie zudem auf die Erwähnung eines typischen Schwellungsgefühls an Gelenken und im Gesicht.
Bereits ein einziges Symptom der FMS kann die Lebensqualität extrem einschränken, wie 80 Prozent der Betroffenen berichten. Doch mehr als drei Viertel fühlt sich von ihren Familien und Freunden gut verstanden, wenn sie statt eines Familienausflugs zu Hause bleiben, bei täglichen Verrichtungen Hilfe brauchen oder über ihre Erkrankung reden wollen.
Wichtigster Anhaltspunkt für die Diagnose sind generalisierte Schmerzen, die in mindestens drei Körperregionen seit mindestens drei Monaten bestehen. So müssen das Achsenskelett, die rechte oder linke Körperhälfte sowie Bereiche ober- oder unterhalb der Taille gleichzeitig betroffen sein. Grundlage für eine Entscheidung zur Therapie ist zudem das Auftreten von möglichst vielen weiteren Symptomen. Auch die Beeinträchtigung von Alltagsfunktionen, die subjektive Krankheitsüberzeugung der Patienten und deren psychische Situation spielt bei der Therapieentscheidung eine Rolle.
Als charakteristisches Zeichen eines FMS galt bislang immer eine Druckschmerzempfindlichkeit sogenannter Tenderpoints. Dieser Nachweis ist jetzt nicht mehr zwingend erforderlich. Bislang mussten laut ACR-Kriterien (ACR: American College of Rheumatology) elf von 18 dieser Druckpunkte bei einem definierten Druck zu einem deutlichen Schmerzreiz führen. Doch nicht jeder FMS-Patient reagiert auf kräftige Berührung besonders sensibel. Für einige Rheumatologen sind die Tenderpoints jedoch nach wie vor ein wichtiges Hilfsmittel, um FMS-Patienten zu erkennen (2).
Generell gilt: Eine FMS lässt sich nicht mithilfe von Labor- oder Röntgenuntersuchungen nachweisen. So sind die Laborwerte der Patienten in der Regel unauffällig und weisen weder auf eine Entzündung noch auf eine Stoffwechselerkrankung hin.
Zu wenig Reaktion
Zur Ursache der Faser-Muskel-Schmerzen gibt es viele Theorien. Nur wenige davon können die Verfasser der neuen deutschen Leitlinie bisher definitiv ausschließen. Hierzu gehört etwa die Annahme, FMS werde durch eine Borrelieninfektion, durch Brustimplantate aus Silikon oder Störungen des Schilddrüsenhormonsystems verursacht. Auch für die These, FMS sei eine Erkrankung der Wechseljahre, haben sie keinerlei Beweise gefunden, obwohl besonders Frauen mittleren Alters erkranken.
Wahrscheinlich sind biologische, psychische und soziale Faktoren gemeinsam an der Entstehung beteiligt. So konnte in den meisten Studien eine familiäre Häufung des Syndroms festgestellt werden. Vermutet wird eine erbliche Disposition in Genen des serotonergen, dopaminergen und noradrenergen Systems. Bislang sind die verantwortlichen Gensequenzen noch nicht lokalisiert. Wissenschaftler können jedoch reproduzierbar nachweisen, dass die Konzentration von Serotonin und von Dopamin-Metaboliten in Liquor und Serum der FMS-Patienten deutlich vermindert ist.
Wahrscheinlich ist zudem die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse gestört. Im Vergleich zu gesunden Personen konnten in den meisten Studien erhöhte Tageswerte des Stresshormons Cortisol in Plasma oder Speichel der Betroffenen gefunden werden. Doch die Rhythmik der Cortisol-Ausschüttung ist im Tagesverlauf sichtlich abgeflacht und auch nach einer körperlichen Belastung ist weniger Cortisol vorhanden als bei gesunden Kontrollpersonen.
Ähnlich ungewöhnlich verhält sich das adrenocorticotrope Hormon (ACTH). So wurden zwar erhöhte Basalwerte gefunden, doch die durch Hormone oder Botenstoffe stimulierte Sekretion aus der Hypophyse ist weitaus geringer als normal. Wurde den Patienten beispielsweise das Hypothalamushormon Corticotropin Releasing Hormon (CRH) oder das proinflammatorische Zytokin Interleukin 6 injiziert, kam es zu einer geringeren Ausschüttung von ACTH als zu erwarten wäre.
Auch eine verminderte Produktion des Insulin-like growth factor 1 (IGF-1) konnte in einigen Studien nachgewiesen werden. Da IGF-1 unter dem Einfluss des Wachstumshormons ausgeschüttet wird, zeigt es indirekt die Synthese von Wachstumshormon an, das besonders während des Tiefschlafs produziert wird. Doch viele FMS-Patienten erreichen diesen erholsamen Deltawellenschlaf nicht (7).
Ungeklärt ist die Rolle des Schmerzmediators Substanz P. In Untersuchungen des Liquors fanden die Wissenschaftler in zwei Studien deutlich erhöhte Konzentrationen. Dem stehen jedoch drei Studien gegenüber, bei denen die Werte in Blutplasma, Serum und Muskel normal waren.
Zu den vermuteten psychosozialen Auslösern einer FMS gehören depressive Stimmung, einseitige Körperhaltung am Arbeitsplatz und seelische Belastungen (6). Als weitere Risikofaktoren gelten negative Gedanken und Gefühle, die mit den körperlichen Beschwerden einhergehen, übertriebenes Schonverhalten und übertriebene Entlastung der Betroffenen durch Partner, Freunde und Verwandte. »Übermäßige Zuwendung belohnt das gezeigte Schmerzverhalten und führt zur Konditionierung«, betonte die Leitlinienverantwortliche für psychologische Schmerztherapie, Dr. Kati Thieme von der Universität Heidelberg (1).
Fehlalarm im Gehirn
Für den Schmerzspezialisten Zieglgänsberger liegt der Kern der Wahrheit in einer anderen Aussage der Leitlinie: Demnach gibt es bei Patienten mit FMS zahlreiche Hinweise auf eine gestörte Schmerzverarbeitung im Gehirn. »FMS-Patienten sind wahre Folteropfer«, sagt der Forscher (2). Sie zeigen nicht nur gleiche Symptome wie Menschen mit einer posttraumatischen Stresserkrankung, auch bei Aufnahmen ihres Gehirns sind identische Strukturen zu sehen. Wiederholte Schmerzreize haben es massiv verändert. So ist es zur Ausbildung eines Langzeitgedächtnisses mit neu verknüpften Neuronennetzwerken gekommen. Viel zu sensibel und zu schnell reagieren die Betroffenen nun auf jeden banalen schmerzassoziierten Reiz. Selbst einfache Bewegungen können wehtun. So erklärt sich auch, warum sehr viele FMS-Patienten bei der Untersuchung von Tenderpoints schon bei einem vergleichsweise schwachen Druck Schmerzen zeigen und auf Kälte- oder Wärmereize besonders empfindlich mit Schmerzen antworten.
Chronischer Schmerz ist auch der Grund dafür, dass die Betroffenen gleichzeitig lächeln und über starke Schmerzen klagen können. »Die Patienten weisen nicht auf akute, sondern auf vergangene Beschwerden hin, die jederzeit wieder auftreten können«, sagte Zieglgänsberger. Sie sind also keine Simulanten, auch wenn jede akute Symptomatik fehlt.
Eine wichtige Rolle bei der Ausbildung des Schmerzgedächtnisses spielen Stress und Angst. Hilflosigkeit und Kontrollverlust begleiten Patienten, die längere Zeit unter Schmerzen leiden. Während jedoch gesunde Menschen unter Stress beispielsweise mehr Dopamin ausschütten und daher weniger Schmerz empfinden, ist dieser Schutzmechanismus bei FMS-Patienten ausgeschaltet. So entsteht ein Teufelskreis. »Auch dies kann das Gehirn so verändern, dass zusätzlich eine echte Depression oder Angsterkrankung entsteht«, sagte Zieglgänsberger. Behandle man bei solchen Patienten nur den Schmerz, springe man immer zu kurz.
Abgestufte Therapie
Noch gibt es kein Therapiekonzept, das allen Patienten hilft. Vor allem die Vielzahl an Symptomen erschwert es den Medizinern oft, den richtigen Weg zu finden. Die neue Leitlinie gibt nun eine Orientierungshilfe. Wichtigstes Therapieziel ist die Behandlung des Schmerzes. Dabei gilt es, vor allem den chronischen Zustand zu durchbrechen. Damit dies gelingen kann, müssen alle anderen Beschwerden so weit wie möglich reduziert werden.
Zur Behandlung von FMS empfiehlt die Leitlinie ein Konzept, bei dem die Arzneitherapie immer mit nicht-arzneimittelgestützten Verfahren kombiniert wird. »Dabei sollte möglichst alles vermieden werden, was den Patienten zu einem passiven Konsumenten einer Behandlung macht«, erklärte Zieglgänsberger. Nur so könne das Gehirn wieder lernen, dass Bewegung Spaß macht und das Schmerzgedächtnis überschreiben. Da das Gehirn keine Löschtaste besitzt, ist dieser Prozess oft langwierig und verlangt von den Patienten und von allen am Genesungsprozess beteiligten Fachkräften ein erhebliches Maß an Geduld.
Stark vereinfacht lassen sich die Empfehlungen der Leitlinie wie folgt zusammenfassen: FMS-Patienten werden nach einem Stufenkonzept behandelt. Dieses beginnt mit einer etwa sechsmonatigen Basistherapie. Wichtigste medikamentöse Komponente in dieser Phase ist das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin. Empfohlen werden zudem eine Patientenschulung, verhaltenstherapeutische Schmerztherapien sowie ein dem individuellen Leistungsvermögen angepasstes aerobes Ausdauertraining. Schulung und Schmerztherapie zeigen den Patienten Wege auf, wie sie schmerzfrei durch den Alltag kommen; die medizinische Trainingstherapie etwa in Form von Walking oder Aqua-Jogging macht sie wieder fit. Zudem sollten alle zusätzlichen körperlichen Erkrankungen und seelischen Störungen behandelt werden.
Nach etwa sechs Monaten wird der Therapieerfolg bewertet. Haben sich die Beeinträchtigungen gebessert, wird die Therapie in der Regel beendet und der Patient soll erst nach zwölf Monaten wieder zur Untersuchung erscheinen. Ist dies nicht der Fall, steht in der zweiten Stufe eine multimodale Therapie im Vordergrund. Diese besteht aus einer aktivierenden Bewegungstherapie in Kombination mit einem psychotherapeutischen Verfahren. Bei deutlicher Linderung wird diese Kombitherapie beendet und der Patient erst nach einem Jahr wieder vorgeladen.
Haben sich die Beschwerden nicht gebessert, werden die Patienten in das Selbstmanagement ihrer Erkrankung entlassen. Die Anwendung von Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Therapien ist auch in dieser letzten Phase zeitlich befristet vorgesehen. Die Leitlinie empfiehlt vor allem die Gabe von Fluoxetin, Paroxetin oder Duloxetin sowie Tramadol/Paracet\-amol oder Pregabalin (4). Neue Studien sprechen jedoch für den bevorzugten Einsatz von Duloxetin oder Pregabalin. In Eigenregie sollen die Patienten zudem ein Ausdauertraining absolvieren oder Methoden eines Funktionstrainings, der Entspannung oder der Stressbewältigung anwenden.
Multimodale Therapien können ambulant beziehungsweise (teil-)stationär fortgeführt werden. Möglich sind ferner physikalische Therapien wie die Balneo- oder Ganzkörperwärmetherapie und komplementäre Verfahren wie Homöopathie oder vegetarische Ernährung.
Klinisch bedeutsame Medikamente
»Da es bisher viele Theorien, aber noch kein einheitliches Bild zur Pathogenese der FMS gibt, muss man sich bei der Arzneimittelgabe auf die klinische Beweiskraft der Studien verlassen«, sagte die Leiterin der Leitlinien-Arbeitsgruppe medikamentöse Therapie, Professor Dr. Claudia Sommer von der Universität Würzburg, beim Schmerzkongress in Berlin (1). Bislang ist in Europa kein einziges Medikament zur Behandlung des FMS zugelassen. Dennoch lagen bis zum Redaktionsschluss der Leitlinie 2006 mehr als 100 kontrollierte Studien zu verschiedenen Wirkstoffen vor. Viele sind inzwischen hinzugekommen. Bei der Auswertung zeigte sich, dass vor allem Aussagen über die langfristige Wirksamkeit der Arzneimittel problematisch sind. So betrug die durchschnittliche Dauer der Studien nur sechs bis zwölf Wochen.
Nur für einige wenige Medikamente kann mit hoher Sicherheit belegt werden, dass sie beim FMS wirksam sind. »Nach dem jetzigen Stand sind dies Amitriptylin, Duloxetin und Pregabalin«, sagte Sommer (1).
Am häufigsten eingesetzt wird Amitriptylin, das auch am ausführlichsten untersucht ist. In einer mittleren Dosis von 25 mg/d ist es in Bezug auf Schmerzreduktion und Verbesserung der Schlafqualität wirksamer als Placebo. In acht von zehn Studien wurde zudem eine Verminderung der Fatigue festgestellt. Doch die Effektstärke des trizyklischen Antidepressivums ist mäßig. Im Mittel besserte sich der Schmerz bei den Patienten nur um 26 Prozent. Normalerweise gilt erst eine Schmerzreduktion von mehr als 30 Prozent als klinisch bedeutsam. Bezüglich der Lebensqualität wird jedoch das 30-Prozent-Kriterium knapp erreicht. Dagegen wirkt Amitriptylin in der verwendeten niedrigen Dosierung von 25 bis 50 mg/d nicht auf eine begleitende Depression.
»Obwohl die Basistherapie nach sechs Monaten endet und es für die Substanz keine Langzeitstudien gibt, kann eine längerfristige Therapie erwogen werden«, erklärte Sommer. Bedingung ist, dass die Patienten sichtbar von der Behandlung profitieren und mögliche Nebenwirkungen des Trizyklikums, etwa kardiovaskuläre Ereignisse, berücksichtigt werden.
Eine größere Effektstärke zeigt der Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (NSRI) Duloxetin. In der Leitlinie wird er noch mit mittlerem Evidenzgrad empfohlen. »Nach einer neueren Studie müsste der Wirkstoff nun aufgewertet werden«, sagte Sommer. Darin erfuhren 36 Prozent der Patienten bei einer Dosierung von 120 mg/d nach sechs Monaten Therapie eine 50-prozentige Schmerzreduktion. In der Placebogruppe waren es nur 22 Prozent. Zudem verbesserte der Wirkstoff einige sekundäre Endpunkte wie die mentale Gesundheit, physische Fähigkeiten und die Vitalität der Patienten. Im Gegensatz zu einer früheren Studie zeigte das Medikament auch bei den wenigen eingeschlossenen Männern einen positiven Effekt.
In den USA ist Duloxetin seit Sommer 2008 zur Behandlung des FMS von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen. In Deutschland hat es jedoch die Indikation FMS verfehlt. Ende Oktober 2008 hat die Europäische Arzneimittelagentur EMEA (European Medicines Agency) dem Hersteller einen Negativbescheid erteilt (8). Kritisiert wird vor allem die mäßige Verbesserung der Symptome in den drei bis sechs Monate dauernden Studien. Diese könne auch auf einer Besserung der Stimmungslage der Patienten beruhen, so die EMEA. Um die Wirkung zu beweisen, müsse eine placebokontrollierte Langzeitstudie durchgeführt werden. Außerdem würden die Risiken des Medikaments zum gegenwärtigen Zeitpunkt größer eingeschätzt als sein Nutzen.
Diese Risiken hat die EMEA nicht näher spezifiziert. Warnhinweise können jedoch in der Fachinformation nachgelesen werden, denn der Wirkstoff ist zur Behandlung von depressiven Erkrankungen, gegen Schmerzen bei diabetischer Polyneuropathie und bei generalisierten Angststörungen zugelassen. Neben vielem anderen wird dort beispielsweise vor möglichen Suizidgedanken der Patienten gewarnt. Zu den beobachteten Nebenwirkungen gehören Übelkeit, Mundtrockenheit und Benommenheit (9).
Die dritte Substanz mit höchstem Evidenzgrad aus heutiger Sicht ist das Antikonvulsivum Pregabalin. In den Vereinigten Staaten wurde es im Juni 2007 als erstes FMS-Medikament zugelassen, bei der EMEA ist die Zulassung beantragt. In der Leitlinie rangiert der Calciumkanal-Modulator noch im Mittelfeld der empfohlenen Substanzen. Inzwischen liegen jedoch Daten von mehr als 2500 Patienten vor.
In einer Dosis von 300 bis 600 mg/d ist Pregabalin in Bezug auf Schmerzen, Schlafstörungen und Morgensteifigkeit einem Placebo deutlich überlegen. Dies zeigte sich auch in einer Sechs-Monats-Studie (1, 10). Doch nicht alle Patienten sprachen gleich gut auf die Substanz an. So erwiesen sich nach sechs Wochen Therapiedauer nur 53 Prozent der Studienteilnehmer als Responder, das heißt, dass eine Schmerzreduktion von mehr als 50 Prozent festgestellt werden konnte. »Am Ende der sechs Monate haben die Responder unter Pregabalin den therapeutischen Effekt weniger schnell verloren als Responder unter Placebo«, erklärte Sommer die weiteren Therapieergebnisse. Da in den Studien mehrere Pregabalin-Dosen eingesetzt wurden, sei es schwer, die Ergebnisse insgesamt zu beurteilen.
Die beobachteten Nebenwirkungen sind dosisabhängig. Empfohlen werden daher 450 mg Pregabalin pro Tag. Am häufigsten treten Benommenheit und Schläfrigkeit auf. Möglich sind zudem Sehstörungen, Gewichtszunahme oder andere unerwünschte Wirkungen wie trockener Mund und geschwollene Hände oder Füße. Außerdem warnt der Hersteller vor allergischen Reaktionen (9).
Auch für Pregabalin ist nach der jetzigen Studienlage die langfristige Wirksamkeit nicht gesichert. Eine Langzeittherapie kann laut Sommer dennoch erwogen werden. In Deutschland ist der Wirkstoff seit September 2004 für Erwachsene zugelassen als Antiepileptikum (zur Zusatztherapie), bei peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen sowie bei generalisierten Angststörungen.
Weder in der Leitlinie noch auf dem Deutschen Schmerzkongress und dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie gab es eine starke Empfehlung für den Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Milnacipran. Doch der Hersteller hat sowohl bei der FDA Ende 2007 als auch bei der EMEA im Juni 2008 einen Antrag auf Marktzulassung für die Indikation FMS eingereicht. Grundlagen sind eine europäische Studie mit 884 Patienten aus 13 Ländern und Daten zweier amerikanischer Studien mit 2084 Patienten. In der zwölfwöchigen europäischen Studie erhielten die Patienten 200 mg/d Milnacipran oder Placebo. Bei der Auswertung der Ergebnisse wurde die Schmerzreduktion über 30 Prozent und die Patientengesamteinschätzung der Veränderung (PGIC) in einem gemeinsamen Wert zusammengefasst. Dabei verbesserte sich dieser kombinierte Endpunkt unter Milnacipran deutlich.
Die Langzeitwirkung und -sicherheit der Substanz wurde in einer US-amerikanischen Studie mit knapp 450 Patienten getestet. Auch nach zwölf Monaten konnte unter Milnacipran (200 mg/d) ein nachhaltiger Effekt auf Schmerzen, Patientengesamteinschätzung (PGIC-Score), Morgensteifigkeit, Fatigue und depressive Stimmung beobachtet werden. Bei Patienten der Placebogruppe, die nach sechs Monaten auf 200 mg/d Milnacipran umgestellt wurden, verbesserte sich nach 20 Wochen der Schmerz um 38 Prozent, die depressive Stimmung um 35 Prozent und die Morgensteifigkeit um 30 Prozent gegenüber den Ausgangswerten (11).
Zu den vom Hersteller berichteten Nebenwirkungen gehören Übelkeit, gesteigerte Schweißsekretion (Hyperhidrosis), Kopfschmerzen und Anstieg der Herzfrequenz. Dagegen soll der Wirkstoff das Körpergewicht nicht beeinflussen (12).
Stoffe mit mäßigem Wirknachweis
»Für eine Reihe weiterer Substanzen kann nur mäßig belegt werden, dass sie wirksam sind«, erklärte Sommer (1). Hierzu gehören die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Fluoxetin und Paroxetin (jeweils 20 bis 40 mg/d), Tramadol (50 bis 400 mg/d), das Antikonvulsivum Gabapentin (1200 bis 2400 mg/d) und der Dopaminagonist Pramipexol (4,5 mg/d). Für viele in der Praxis häufig eingesetzte Substanzen liege bislang kein Wirksamkeitsnachweis vor, monierte die Ärztin. So etwa für Analgetika wie Paracetamol oder Metamizol und alle Muskelrelaxantien. Auch zu den Opioiden mit Ausnahme von Tramadol gebe es keine Daten. Während daher die Gabe von Tramadol erwogen werden kann, sollten andere Opioide aufgrund ihrer Nebenwirkungen nicht eingesetzt werden.
Demgegenüber ist belegt, dass Hypnotika, Anxiolytika, Neuroleptika, die meisten nicht-steroidalen Antirheumatika, Virustatika und alle Corticosteroide nur eine unzureichende Wirkung haben. Sie werden daher zur Behandlung von FMS-Patienten nicht empfohlen (1, 4).
Eine offene Empfehlung gibt es jedoch für den ergänzenden, zeitlich befristeten Einsatz einer homöopathischen Substanz. So wurde in einer kleinen dreimonatigen amerikanischen Studie nachgewiesen, dass Rhus toxicodendron die Zahl der positiven Tenderpoints reduziert sowie die Lebensqualität und den allgemeinen Gesundheitszustand der Patienten verbessert.
In Deutschland gibt es bis zu zwei Millionen Fibromyalgie-Betroffene (2). Nach wie vor können die meisten nicht geheilt werden. Kurzfristig ist die FMS aber gut mit Arzneimitteln behandelbar. »So lassen sich FMS-Schmerzen im Gegensatz zur landläufigen Meinung durchaus gut medikamentös beeinflussen«, sagte Sommer. Ist die medikamentöse Therapie zudem in ein umfassendes therapeutisches Konzept mit Bewegung und Psychotherapie eingebettet, besteht eine gute Chance, dass der Patient wieder in ein normales Leben zurückfindet.
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Vorträge auf dem Deutschen Schmerzkongress, 8. bis 11. Oktober 2008 in Berlin.
Vorträge auf dem 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, 24. bis 27. September 2008 in Berlin.
European Network of Fibromyalgia Associations (ENFA) und Pfizer Inc., Fibromyalgia Global Impact Survey. Harris Interactive 2008.
Häuser, W., et al., Interdisziplinäre S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms. Langfassung. Der Schmerz Nr. 22 (2008).
May, A., Review Chronic pain may change the structure of the brain. Pain 137 (2008) 7-15.
Patientenversion der Leitlinie Fibromyalgiesyndrom. AWMF-online. Nr. 41/004P (2008).
Mense, S., Pongratz, D. (Hrsg.), Chronischer Muskelschmerz. Birkhäuser Verlag Basel 2003.
EMEA, Questions and answers on recommendation for the refusal of a change to marketing authorisation for Cymbalta/xeristar. Doc. Ref. EMEA/551181/2008.
Crofford, L. J., Fibromyalgia relapse evaluation and efficacy for durability of meaningful relief (FREEDOM): a 6-month, double-blind, placebo-controlled trial with pregabalin. Pain 136 (2008) 419-431.
Arnold, L. M., et al., One-Year Durability Of Response To Milnacipran Treatment For Fibromyalgia. Abstract EULAR-Kongress Paris, Nr. THU0359, Ann. Rheum. Dis 67, Suppl. II (2008) 249.
Presseerklärung von Pierre Fabre Médicament, Frankreich, zur Vorstellung neuer Daten aus der Europäischen Phase-III-Fibromyalgiestudie auf dem EULAR-Kongress in Paris vom 11. Juni 2008.
Gudrun Heyn arbeitete nach der Promotion in verschiedenen Forschungseinrichtungen, darunter am Kernforschungszentrum Karlsruhe und beim Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung. Sie erfüllte Lehraufträge an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg, und der Freien Universität, Berlin. In Fachpublikationen veröffentlichte sie Ergebnisse eigener Forschungen. Seit ihrer Ausbildung als Journalistin ist Heyn als freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin tätig und behandelt vor allem Themen aus Medizin und Pharmazie.
Dr. Gudrun Heyn
Ferbitzer Weg 33 B
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