Pharmazeutische Zeitung online
Somatoformer Schwindel

Seele aus dem Gleichgewicht

29.01.2013  18:07 Uhr

Von Christina Hohmann-Jeddi, Mainz / Schwindel kann auch ohne eine körperliche Ursache auftreten. Dieser somatoforme Schwindel ist psychisch bedingt und kann Ausdruck einer Depression, Angsterkrankung oder anderen seelischen Störung sein. Wichtig sind eine gute, interdisziplinäre Aufklärung und rasche Therapie.

Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr ist intakt, das Großhirn auch. Organisch sind keine Ursachen für die starken Schwindelgefühle festzustellen, und doch sind die Beschwerden des Patienten ernst zu nehmen. Er leidet unter somatoformem Schwindel. »Diese Symptome sind nicht eingebildet oder vorgetäuscht«, sagte der Neurologe Dr. Christoph Best auf einer Vortragsveranstaltung der Universitätsmedizin Mainz. Er leitet den Bereich Schwindel und Okkulomotorik in der Klinik für Neurologie an der Phillips-Universität Marburg. Der somatoforme Schwindel ist nicht selten: Nach dem gutartigen Lagerungsschwindel ist es die zweithäufigste Form. 15 bis 20 Prozent aller Schwindelpatienten sind davon betroffen.

»Dass psychischer Stress Schwindelgefühle auslöst, ist ganz normal«, sagte Best. Sie können in belastenden Situationen wie Prüfungen, Tod von Angehörigen oder Aufenthalt in großen Menschenmengen auftreten. Doch ab wann ist Schwindel pathologisch? »Wenn alltägliche Aktivitäten seinetwegen reduziert werden«, erklärte Best.

 

Beim somatoformen Schwindel lassen sich prinzipiell zwei Arten unterscheiden. Der primäre somatoforme Schwindel kommt bei etwa 30 Prozent der Betroffenen vor. Er ist ausschließlich psychisch bedingt und geht mit Krankheiten wie Depression, Angst- oder Panikerkrankung, postraumatischer Belastungsstörung oder auch mit sozialen Konflikten und hoher Verantwortung einher. Der Großteil der Patienten, etwa 70 Prozent, leidet aber unter einem sekundären somatoformen Schwindel. Bei ihnen sind die psychischen Schwindelattacken Folge eines organischen Schwindels. So entwickeln zum Beispiel 50 bis 70 Prozent der Patienten mit Schwindel-Migräne, eine Sonderform der Migräne, im späteren Verlauf auch einen somatoformen Schwindel.

 

Die Symptome können dabei ganz unterschiedlich sein. Manche Patienten berichten von Drehschwindel, von der Illusion eines schwankenden Bodens oder auch von Liftschwindel. Die Attacken können lang oder kurz ausfallen – eine ganze Bandbreite an Beschwerden ist möglich.

 

Für den einzelnen Patienten erfüllt der Schwindel meist eine spezielle Funktion. Er kann zum Beispiel unangenehme Situationen verdrängen: Man müsste eigentlich eine unerfreuliche Diskussion führen, doch stattdessen setzt der Schwindel ein, sodass die Diskussion ausfällt, erklärte Best. Der Schwindel kann auch ein Alarm­signal sein, auf bestimmte Gefühle aufmerksam machen oder sie verschleiern. »Wenn in einer Situation Angst auftritt, kommt der Schwindel und überdeckt die Angst, sodass man sich mit diesem Gefühl nicht mehr auseinandersetzen muss«, so Best. Welche Funktion die Beschwerden beim jeweiligen Patienten haben, müsse mithilfe eines Psychotherapeuten herausgefunden werden.

 

Meist eine Ärzteodyssee

 

Oft wird die Diagnose spät gestellt, weil lange nach organischen Ursachen gesucht wird. Dabei sei die richtige Diagnostik eigentlich relativ einfach. Bei Schwindelsymptomatik sollten Patienten erst einen Hausarzt aufsuchen, da einige Krankheitsbilder mit organischer Ursache leicht zu diagnostizieren und zu therapieren seien. Bei komplexeren und länger anhaltenden Krankheitsbildern und wenn der Haus- oder HNO-Arzt keine Ursache finden kann, sollten die Patienten in einem spezialisierten Schwindelzentrum Hilfe suchen. »Hier ist eine interdisziplinäre und umfangreiche Abklärung möglich«, so Best.

 

Schon allein die Diagnosestellung und Aufklärung des Patienten über seine Erkrankung hätten einen therapeutischen Effekt. Dann setze eine multimodale Behandlung ein, die mit Krankengymnastik zur Wiederherstellung des körperlichen Gleichgewichts und Entspannungstraining beginnt. Darauf baut eine Selbstexposition auf, bei der sich der Patient in die angstbesetzte, schwindelauslösende Situation begibt. Ein wichtiger Bestandteil der Behandlung ist die Psychotherapie, bei der nach den Ursachen und Auslösern der Schwindelsymptomatik gesucht und an der Lösung der dabei beteiligten inneren und äußeren Konflikte gearbeitet wird. Mit einer ambulanten, einmal wöchentlichen Psychotherapie sei der somatoforme Schwindel in der Regel gut zu behandeln, sagte Best. /

Mehr von Avoxa