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Ausscheidungsstörungen

Das ging in die Hose

24.01.2012  13:56 Uhr

Von Jasmin Andresh / Weg mit der Windel, je eher desto besser? Der Reifeprozess des Kindes bestimmt das Tempo, mit dem ein Kind trocken wird. Überzogene Erwartungen der Eltern stören manchmal mehr, als dass sie nützen. Sauberkeitserziehung damals und heute.

Da kommt Neid auf, wenn der Sprössling der Freundin ohne Windel auskommt, während sich der eigene davon partout nicht trennen mag. Experten mahnen zur Gelassenheit. Ergebnisse einer prospektiven Langzeitstudie zeigen: Ein früher Beginn und eine hohe Intensität der Sauberkeitserziehung beschleunigen die Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle nicht.

Bereits in den 1950er- und 1980er-Jahren haben schweizerische Wissen­schaftler das Erziehungsverhalten von Eltern und die Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle des Nachwuchses dokumentiert. Sie zeigten: In den 50er-Jahren begannen Eltern mit der Sauberkeits­erziehung früher, und sie betrieben sie intensiver. Wurden in den 50ern manche Kinder bereits mit einem Monat gelegentlich und mehr als 60 Prozent der Kinder zwischen eineinhalb und zwei Jahren mehr als fünfmal täglich auf den Topf gesetzt, trainierten in den 80ern weniger als 5 Prozent der Eltern mit ihren Kindern so intensiv. Ergebnis: In den 50ern waren mehr jüngere Kinder im Alter von 12 bis 24 Monaten tagsüber trocken. Da die Kinder bis zu zehnmal täglich aufs Töpfchen gesetzt wurden, kamen sie allerdings auch kaum dazu, in die Hose zu machen.

 

Hingegen war in den 80ern ein größerer Anteil der älteren Kinder von rund 36 Monaten trocken. Am Ende stand es unentschieden: Mit vier und fünf Jahren waren in etwa gleich viele Kinder in beiden Gruppen tagsüber trocken. Auch nachts nässten die meisten Kinder ab vier Jahren nicht mehr ein.

 

Jedes Kind ist anders

 

Das Alter, in dem Kinder trocken und sauber werden, wird durch die individuelle Reifung bestimmt wird, sagen Entwicklungspädiater. Dabei brauche es kein Training, sondern Vorbilder. »Eltern sollten wissen, dass jedes Kind bis fünf Jahren einnässen und bis vier Jahren einkoten darf«, erläutert Alexander von Gontard, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik des Saarlandes mit einer Spezialambulanz für einnässende und einkotende Kinder. Er rät Eltern, auf den Zeitpunkt zu achten, an dem das Kind sich für Sauberkeit zu interessieren beginnt. Dann sollten sie seine Initiative unterstützen, zum Beispiel gemeinsam den Teddy oder die Puppe aufs Töpfchen setzen.

 

Generell rät er: »Nicht zu früh und nicht zu spät zu beginnen. Und es nicht aus falsch verstandenem Laisser-faire einfach laufen lassen.« Wenn das Kind mit 20 Monaten schon von selbst aufs Töpfchen wolle, sei das okay. Zeige das Kind mit dreieinhalb Jahren kein Inte­resse am Thema Sauberkeit, sollten Eltern ein bisschen aktiver werden – auch bei Kindern, die über längere Zeit hartnäckig den Toilettengang verweigerten. Diese hätten ein erhöhtes Risiko für spätere Verstopfung, was auch dazu führen kann, dass das große Geschäft eher in die Hose geht.

 

Manche Kinder nässen nur nachts ein (Enuresis nocturna). Bei diesen Kindern haben oft auch Verwandte ersten Grades eine verzögerte Sauberkeitsentwicklung durchlaufen. Hier ist die Spontanheilungsrate hoch. War das Kind schon einmal für mehr als sechs Monate trocken, spricht man von einer sekundären Enuresis. Ein solcher Rückfall wird häufig durch psychosoziale Belastungen ausgelöst.

 

Wenn Kinder tagsüber in die Hose machen, kann das an einer »überaktiven« Blase liegen (Dranginkontinenz), oder sie verweigern den Toilettengang – zum Beispiel, weil sie ihr Spiel nicht unterbrechen möchten (Miktionsaufschub). Manchmal ist auch ein gestörtes Zusammenspiel zwischen Blasenmuskulatur und Verschlussmuskel schuld. Psychische Störungen können infolge des Einnässens auftreten oder bereits vorher bestehen.

Zum Training gegen nächtliches Einnässen hat sich eine Klingelhose etabliert, die das Kind schon bei kleinen Flüssigkeitsmengen weckt. Das Kind kann auch fürs nächtliche Aufstehen belohnt werden. Ein »Wolke-Sonne-Kalender« hält gute und schlechte Tage fest.

 

Die zusätzliche Einnahme von Medikamenten wie beispielsweise Oxybutynin empfiehlt sich, wenn eine Drangproblematik vorliegt und die alleinige apparative Verhaltenstherapie nicht zum Ziel führt. Bei therapieresistenten Jugendlichen kann sich ein Behandlungsversuch mit Desmopressin lohnen.

 

Arzneien und Biofeedback

 

Tagsüber einnässende Kinder sollen lernen, den Harndrang wahrzunehmen und sofort die Toilette auszusuchen. Dabei hilft eine Erinnerung, eventuell mithilfe eines Weckers, alle drei bis vier Stunden. Bei einer Dranginkontinenz können Medikamente wie Oxybutynin oder Propiverin unterstützend wirken. Manchmal hilft auch die Biofeedbackmethode, mit der Körpervorgänge sicht- und hörbar gemacht werden, die der Sinneswahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich sind. Die Kinder lernen so beispielsweise, ihren Becken­boden bewusst anzuspannen oder zu entspannen.

 

Koten Kinder unfreiwillig ein (Enkopresis), leiden sie oft massiv unter den sozialen Auswirkungen. Bei ungefähr der Hälfte der Kinder liegt eine psychische Begleiterkrankung vor. Doch ist hervorzuheben, dass die andere Hälfte eben nicht an psychischen Symptomen leidet und das Problem fast nie durch Störungen im Familiensystem verursacht wird. Da die psychischen Symptome sich häufig mit dem Sauberwerden zurückbilden, werden sie zunächst nur behandelt, wenn die Kinder sonst nicht mitarbeiten können. Bei der Diagnose ist es wichtig zu unterscheiden, ob Obstipation oder Stuhlretention vorliegt.

 

Die Therapie umfasst die Beratung und Entlastung der Eltern, insbesondere die Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Verstopfung und Einkoten. Die Kinder sollen ermuntert werden, sich dreimal täglich nach den Mahlzeiten für fünf Minuten entspannt auf die Toilette zu setzen. Mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen soll immer nur die Mitarbeit des Kindes verstärkt werden, nicht die Sauberkeit.

 

Bei gleichzeitiger Verstopfung können Laxanzien wie Polyethylenglykol helfen. Diese sind jedoch bei Enkopresis ohne Obstipation kontraindiziert, da es hier zu einer Verschlimmerung kommen kann. Bei Therapieresistenz oder Rückfällen können eine kinderpsychiatrische Behandlung, eine teilstationäre oder stationäre Therapie oder eine erneute Diagnostik in Erwägung gezogen werden. Auch eine Therapiepause kann manchmal helfen. / 

 

Literatur

...bei der Verfasserin

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