Begrenzte Mittel gerecht verteilen |
10.01.2012 16:28 Uhr |
Von Hannelore Gießen, München / Viele Patienten sorgen sich bereits heute, bei einer Erkrankung aus Kostengründen nicht mehr adäquat behandelt zu werden. Wie die Versorgung auf möglichst hohem Niveau erhalten werden kann, diskutierten Experten Anfang Januar bei einem Symposium der Bayerischen Landesärztekammer.
Eine Daueraufgabe der nächsten Jahre werde es sein, das Versorgungsniveau trotz finanzieller Engpässe zu halten, erklärte Heidemarie Lux, Vizepräsidentin der Bayerischen Landesärztekammer (BLAEK). Zunächst müssten Rationalisierungsreserven ausgeschöpft werden. Doch auch dann sei eine Priorisierung von Leistungen in Zukunft unumgänglich. Die richtige Reihenfolge sei: Rationalisierung, Priorisierung, Rationierung.
Schon heute würden Ärzte oftmals vor die Entscheidung gestellt, welcher Patient welche Behandlung erhält, klagen Mediziner. Sie fordern daher eine offene Debatte über Priorisierung.
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Nach den Kriterien der Zentralen Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer legt eine Priorisierung Vor- und Nachrangigkeiten in der medizinischen Versorgung fest. Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wird festgelegt, welche Diagnostik und Therapie für welche Patienten in Zukunft zur Verfügung stehen muss und worauf unter Umständen verzichtet werden muss.
Der Begriff »Priorisierung« lässt offen, nach welchen Kriterien Vor- und Nachrangigkeit bestimmt werden. Sie könnte etwa nach Bedarf, voraussichtlichem medizinischen Nutzen oder Kosteneffektivität erfolgen. Die ZEKO strebt eine offene Priorisierung an, die auf der gesellschaftlichen Makroebene stattfindet und nicht auf der individuellen Mikroebene der Arzt-Patienten-Beziehung.
Alltägliche Rationierung
Rationierung sei im Gesundheitssystem bereits vielfach gelebte Realität, machte Lux deutlich. In der Arztpraxis und am Krankenbett würden Ärzte heute schon täglich vor die Entscheidung gestellt, welcher Patient welche Leistung bekomme, hob die Medizinerin hervor. Seit Jahren machten Patienten die Erfahrung, dass bestimmte Leistungen nicht mehr von den Kassen übernommen werden, fügte der Münchner Hausarzt Gabriel Schmidt hinzu. So entstehe beim Patienten immer wieder der Eindruck, dass bei ihm gespart wird. Auf diese Weise gehe das Vertrauen in das Gesundheitswesen und auch in den Arzt verloren, mahnte Schmidt.
Die Diskussion um die Priorisierung medizinischer Leistungen werde in Deutschland bisher unterdrückt, hob Professor Heiner Raspe von der Universität zu Lübeck hervor. Doch sie sei unvermeidlich. Leider höre jeder »Rationierung«, wenn von »Priorisierung« gesprochen wird, kritisierte Raspe. Priorisierung könne, müsse aber nicht zu Rationierung führen: Dies hänge davon ab, welche Ressourcen zur Verfügung stehen.
Vielfach herrsche die Auffassung, eine Priorisierung sei nur wichtig, wenn Knappheit herrscht und könne durch richtige Reformen vermieden werden, berichtete der Lübecker Sozialmediziner. Das Beispiel Norwegens zeige jedoch etwas anderes: Hier wurde bereits 1985, als das Land durch die Erschließung von Nordseeöl reich wurde, weltweit die erste Kommission zur Erarbeitung von Prioritäten in der Gesundheitsversorgung gegründet. In Deutschland sind die der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur Verfügung stehenden Mittel zwischen 2006 und 2009 um jährlich rund 5 Prozent gewachsen. »Unsere Mittel sind begrenzt, aber nicht knapp«, hob Raspe hervor. Jeder Zuwachs an Mitteln müsse nach systematisch erarbeiteten Prioritäten verteilt werden.
»Priorisierung ist keine Einbahnstraße in Richtung Rationierung«, betonte auch der Münchner Medizinethiker Professor Georg Marckmann. Prioritäten könnten sogar zu einem gezielten Ausbau der Versorgung und damit zu einer höheren Qualität medizinischer Leistungen führen. Die Frage sei nicht ob, sondern wie Prioritäten in der Versorgung festgelegt werden.
Eine offene Debatte
Implizite Priorisierung ist auch im deutschen Gesundheitswesen bereits an vielen Stellen Realität. So stellt der Ausschluss nicht-verschreibungspflichtiger Medikamente eine implizite Priorität für schwerwiegende Erkrankungen dar. Eine explizite Priorisierung sei jedoch unabdingbar und auch von den Patienten ausdrücklich gewünscht, erläuterte Marckmann: Bei der 2009 publizierten Untersuchung »Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung in deutschen Krankenhäusern« hätten sich 74 Prozent der Befragten für Priorisierungskriterien auf gesellschaftlicher Ebene ausgesprochen.
Eine offene Debatte um eine Priorisierung sei Voraussetzung für einen medizinisch rationalen, ethisch vertretbaren und ökonomisch sinnvollen Einsatz begrenzter Ressourcen, so das Fazit des Medizinethikers. /