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Priorisierung

Keine offene Debatte

18.09.2012  19:00 Uhr

Von Stephanie Schersch und Arndt Striegler / Nicht alles, was medizinisch möglich ist, können die Krankenkassen langfristig bezahlen. Bereits heute würden Gesundheitsleistungen in Deutschland daher heimlich rationiert, sagen die Ärzte. Die Politik scheut dennoch eine offene Debatte über das Problem.

Für den Präsidenten der Bundesärztekammer liegt das Problem auf der Hand: »Die Schere zwischen dem, was an guter medizinischer Versorgung geleistet werden könnte und dem, was noch bezahlbar ist, geht immer weiter auseinander«, so Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery. Bereits heute werde im deutschen Gesundheitssystem verdeckt rationiert, da nicht genügend Geld zur Verfügung stehe. Darunter leide auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. »Meistens müssen wir Ärzte unseren Patienten deutlich machen, welche Behandlungen ihnen noch zur Verfügung stehen und welche nicht.«

 

Gerechte Versorgung

 

Seit Jahren fordern die Mediziner daher, offen über das Thema Priorisierung im Gesundheitswesen zu debattieren. Darunter versteht man die Festlegung einer Rangfolge, nach der bestimmte Leistungen gewährt werden. So lassen sich etwa die verschiedenen Mittel zur Behandlung einer Erkrankung in vorrangige und nachrangige unterteilen. »Eine Priorisierung legt offen fest, wer wann welche Leistung erhält«, so Montgomery. Politik und Gesellschaft müssten darüber diskutieren, wie trotz der begrenzten Ressourcen eine gerechte Versorgung gestaltet werden könne.

Auch der Gesundheitsökonom Professor Dr. Günter Neubauer vom Münchner Institut für Gesundheitsökonomik lässt keinen Zweifel daran, dass es im deutschen Gesundheitswesen schon heute eine Priorisierung gibt. Und das nicht nur bei medizinischen Leistungen, sondern auch in der zeitlichen Zuwendung des medizinischen Personals an die Patienten. Gerade hier rechnet Neubauer in Zukunft mit deutlichen Einschränkungen, weil die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen ab- und die der zu Pflegenden zunehmen werde (lesen Sie dazu das nachfolgende Interview).

 

Doch bis heute ist das Thema Priorisierung eine Art Tabu für Politiker aller Parteien. Auch das Bundesministerium für Gesundheit räumt ihm keine Bedeutung ein. Man müsse die Finanzierung des Gesundheitssystems so nachhaltig und die Versorgungsstrukturen so solide gestalten, »dass Diskussionen über Priorisierung überflüssig sind«, sagte ein Ministeriumssprecher auf Nachfrage der Pharmazeutischen Zeitung (PZ).

 

Ähnlich sehen es auch die Krankenkassen. Solange es nachweislich Wirtschaftlichkeitsreserven im System gebe, müsse man darüber reden, wie Fehlanreize beseitigt und vorhandene Reserven gehoben werden könnten, sagt Ann Marini vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die Versicherten dürfe man nicht durch eine vorgeschobene Rationierungsdebatte verunsichern. »Wir erwarten von den Ärzten Vorschläge, wie man die Versorgung kranker Menschen verbessert und keine unkonstruktive Debatte, die das international sehr gute Versorgungssystem in Deutschland schlechtredet.«

 

Ähnlich wie die Ärzte warnen jedoch auch viele Ökonomen vor den begrenzten Ressourcen im Gesundheitssystem. Professor Dr. Fritz Beske vom Institut für Gesundheits-Systemforschung in Kiel ist einer von ihnen. Er hat sich in zahlreichen Studien mit den steigenden Ausgaben der Krankenkassen befasst. Demografischer Wandel und medizinischer Fortschritt würden schon bald deutlich spürbare Auswirkungen auf das Gesundheitssystem haben, heißt es in einer seiner jüngsten Studien aus dem Jahr 2011. Demnach haben im Jahr 2008 rund 51 Millionen Mitglieder die Beiträge für Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 160 Milliarden Euro aufgebracht. 2060 werden hingegen nur noch rund 40 Millionen Mitglieder Kosten von 468 Milliarden Euro stemmen müssen. Dies könnte laut Studie theoretisch zu einer Erhöhung des Beitragssatzes auf mehr als 50 Prozent führen. Leistungseinschränkungen in der GKV seien daher langfristig unvermeidbar.

 

In einigen europäischen Ländern ist die Begrenzung medizinischer Leistungen längst Realität, etwa in Großbritannien. Dort hat die anhaltende Wirtschaftskrise deutlichen Einfluss auf die Gesundheitsversorgung genommen. Die konservativ-liberale Koalitionsregierung unter Premierminister David Cameron bestreitet dies. Doch Ärzte, Apotheker, Patienten und Oppositionsparteien weisen darauf hin, dass in den Praxen und Kliniken auf der Insel heute vielerorts der Rotstift diktiert.

 

Seit 1948 hat Großbritannien einen staatlichen Gesundheitsdienst, den National Health Service (NHS). Dieser finanziert sich zu rund 90 Prozent aus allgemeinen Steuermitteln. »Um zu sehen, wie sehr im Gesundheitsdienst gespart und rationiert wird, braucht man bloß in eine x-beliebige Klinik zu gehen und sich mit Patienten unterhalten«, sagte ein Sprecher des britischen Ärztebundes British Medical Association (BMA) gegenüber der PZ in London. »Überall werden Operationen entweder ganz abgesagt oder verschoben, weil es an Kapazitäten fehlt.« Die BMA steht den gesundheitspolitischen Reformen der Regierung Cameron, über die seit mehr als einem Jahr schon im Londoner Unterhaus gestritten wird, überwiegend ablehnend gegenüber. Auch der Apothekerverband Royal Pharmaceutical Society äußerte sich in jüngster Zeit kritisch.

 

Wie Experten der Stiftung Nuffield Trust in einem Gutachten über den NHS feststellten, gibt Großbritannien prozentual am Bruttoinlandsprodukt gemessen weniger für gesundheitliche Leistungen aus als vergleichbare andere Länder. Laut Studie haben NHS-Kliniken und Hausarztpraxen heute effektiv weniger Geld zur Verfügung als vor Beginn der Wirtschaftskrise. Das schlägt sich auch in wachsenden Wartelisten im stationären Sektor nieder. Allein in den vergangenen zwölf Monaten stieg die Zahl jener Patienten, die länger als 18 Monate auf eine Operation warten müssen, um 34 Prozent. Hauptgrund dafür ist laut Experten die Budgetknappheit der Kliniken.

 

Erst kürzlich sorgten die Entlassungspraktiken großer staatlicher Krankenhäuser landesweit für negative Schlagzeilen. Es wurde bekannt, dass wöchentlich rund 8000 Krankenhauspatienten in der Zeit zwischen 23 und 6 Uhr nach Hause geschickt wurden, um so über freie Betten für über 5zu verfügen. Vor der Wirtschaftskrise wäre dies in einem solchen Umfang undenkbar gewesen. /

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