Wie gefährdet ist die Drogenszene in Deutschland? |
Fentanyl kann geschluckt, gespritzt, geschnupft, geraucht oder als Pflaster angewandt werden (Symbolbild). / Foto: Getty Images/Joaquin Traverso Traverso
In der offenen Drogenszene ist Heroin seit Jahrzehnten ein verbreitetes Rauschmittel. Die meisten Drogentoten in Deutschland gehen noch immer darauf zurück. Doch neue, potenziell tödlichere Mittel drängen auf den Markt – Fentanyl zum Beispiel (Steckbrief Fentanyl). Das synthetische Opioid mache nicht nur extrem süchtig, erklärt der Psychiater Norbert Scherbaum, es wirke auch etwa 50-mal stärker als Heroin. »Deswegen sterben auch überproportional viele Menschen daran.« Bereits zwei Milligramm gelten als potenziell tödliche Dosis.
In den USA hat Fentanyl bereits zu einem enormen Drogenproblem mit zehntausenden Toten geführt. Nach Angaben des nationalen US-Instituts, das Drogenmissbrauch erforscht, starben durch eine Überdosis synthetischer Opioide (vor allem Fentanyl) allein im Jahr 2021 mehr als 70.000 Menschen.
Die Opioidkrise in den USA sei vor allem durch eine sehr großzügige und sorglose Verschreibung von starken Schmerzmitteln entstanden. Auch in Deutschland würden solche Medikamente durchaus in einem hohen Maße und vor allem häufiger als noch vor zehn oder zwanzig Jahren verschrieben. »Aber das hat nicht das Niveau der USA.«
Auch jahrelang wiederholte Erhebungen bei Opiatabhängigen auf Entzugsstationen in Nordrhein-Westfalen hätten gezeigt, dass Fentanyl hierzulande bislang nur eine geringe Rolle spiele, so Scherbaum, der Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) ist.
Gleiches gilt laut Rüdiger Schmolke vom Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige für die offene Drogenszene in Berlin. »Wir wissen, dass es in Tests schon gefunden wurde. Es ist aber nicht das Mittel oder der Stoff, den unsere Klientinnen haben wollen.«
Heroin sei aus Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten sicherer und garantiere einen längeren Rausch, sagt Schmolke, der Referent für Prävention und Beratung ist. Außerdem wüssten viele, dass das Risiko einer Überdosierung bei Fentanyl sehr viel höher sei. »Deshalb reagieren unsere Klienten eher skeptisch oder ablehnend auf Fentanyl.«
2.227 Menschen starben hierzulande im vergangenen Jahr am Konsum illegaler Substanzen, bei 712 Todesfällen war Heroin im Spiel, dicht gefolgt von Kokain (610) und Crack (507). Oft wurde ein Mischkonsum festgestellt. In Europa wächst die Zahl der Drogentoten stetig.
Scherbaum glaubt, dass die Verbreitung von Fentanyl zunehmen und auch hierzulande zu einer Krise führen könnte. »In die Zukunft können wir natürlich alle nicht gucken, aber das Risiko ist sicherlich gegeben«, schätzt der Suchtexperte.
Das hat verschiedene Gründe – einer liegt in Afghanistan. Das Land gilt als wichtigster Standort für den Heroin-Rohstoff Opium, der aus Schlafmohn gewonnen wird. Weil die Taliban den Anbau von Mohn 2022 verboten haben, ist die weltweite Opium-Produktion laut dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) um 74 Prozent eingebrochen.
Scherbaum zufolge hat das keine unmittelbaren Folgen, da die Lager wahrscheinlich noch gut gefüllt seien. Außerdem sei möglich, dass andere Länder nun mehr produzierten. Früher oder später sei aber mit einer Verknappung zu rechnen.
Ein weiterer Grund sei, dass sich der internationale Drogenmarkt in Zukunft stark verändern könnte, erklärt der Psychiater. »Die Drogenkartelle merken, dass synthetische Produkte für sie viel gewinnbringender und viel weniger risikoreich in Hinblick auf die Strafverfolgung sind.« Die Herstellung von Fentanyl sei zudem viel billiger als die von Heroin.
Schon jetzt bestehe das Risiko, dass Menschen Heroin kauften, dem Fentanyl beigemischt sei, Konsumenten aber nichts davon wüssten. Die Folge sei, dass sie sich bei der Dosis völlig verschätzten und sich unwissentlich eine Überdosis setzten, sagt Scherbaum. Das Risiko, an bedrohlichen Herz-Rhythmus-Störungen oder Atemstillstand zu sterben, sei bei synthetischen Drogen viel höher als bei Heroin, erklärt der Suchtexperte. Durch eine zunehmende Verbreitung von synthetischen Opioiden könnte die Zahl der Drogentoten demnach steigen.
Auch Schmolke ist überzeugt, dass eine verminderte Verfügbarkeit von Heroin für Abhängige »eine absehbare Katastrophe« wäre. Die Drogenhilfe bereite sich intensiv auf eine zunehmende Verbreitung von Fentanyl vor, auch wenn keinen Anlass für eine »Fentanyl-Panik« gebe. Wichtig seien Aufklärung und ein gutes und größeres Therapie- und Substitutionsangebot für Abhängige. In Berlin etwa gibt es laut dem Gesundheitswissenschaftler vier Drogenkonsumräume und drei Konsummobile. Das sei zu wenig.