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Krafttraining

Wenn Sport zur Sucht wird

Sie haben durchtrainierte Körper und Muskel-Berge. Beim Blick in den Spiegel fühlen sie sich trotzdem schlaff. Männer mit Muskelsucht sind nie zufrieden mit ihrer Figur, alles dreht sich um Sport und die richtige Ernährung. Ab wann wird es krankhaft?
dpa
02.01.2020  09:00 Uhr

Mit dem Protein-Shake nach dem Training wollen sie den Muskelaufbau beschleunigen, auch wenn das Pulver nicht gerade billig ist. Doch mit Eiweiß-Kicks ist es natürlich nicht getan: Wer als Freizeitsportler einen muskulösen Körper mit dicken Bizeps und Waschbrettbauch will, muss hart dafür arbeiten. Nicht wenige greifen zu verbotenen Präparaten. Und für einige Männer wird die Schinderei zur Sucht: Muskelwachstum wird zur fixen Idee, Sport zum Zwang. Ähnlich wie Magersüchtige finden sie stets noch ein Gramm Fett zu viel an ihrem durchtrainierten Körper.

«Adonis-Komplex» hat der US-amerikanische Psychiater Harrison G. Pope schon vor Jahren ein Phänomen genannt, bei dem Männer besessen sind von dem Gedanken, ihren Körper perfekt zu stylen. Der Name verweist auf eine mythologische Göttergestalt. Mittlerweile ist klar: Hier geht es um mehr als um persönliche Eitelkeit und Selbstoptimierung. Fachleute sprechen von einer psychologischen Erkrankung, wenn sich das Leben um fast nichts anderes mehr dreht.

Gerade in der Bodybuilder-Szene sind nach Meinung von Experten viele anfällig. Zu den Anzeichen gehört, dass das Urteil über das eigene Aussehen verzerrt ausfällt. Bei Mädchen ist bekannt, dass sich viele Magersüchtige trotz dürrer Körper als zu dick einstufen. Vom Adonis-Komplex betroffene Männer halten sich trotz vieler Muskeln für unverhältnismäßig klein und schwach, wie der in Australien tätige Neuropsychiater Philip E. Mosley in einem 2008 erschienenen Artikel schrieb.

Christian Strobel kennt viele solcher Fälle. Bei der Caritas bietet der Psychologe in München in einer Spezialambulanz Hilfe für Muskelsüchtige. «Es fängt mit einer gesunden Idee an: Hey, mach' doch Sport, das ist gesund», beschreibt er die Abläufe. Das kennt man, es klingt soweit normal. «Aber dann verselbstständigt sich das.» Manche seiner Patienten gingen sechs bis neun Mal die Woche ins Fitnessstudio. Ruhetage ohne Rudergeräte und Hanteln können sie sich nicht vorstellen. «Ich muss Sport machen, jeden Tag und dann auch noch Samstag und Sonntag zwei Mal am Tag», gibt Strobel eine typische Aussage wieder, wenn Männer sich bei ihm beschreiben. Einige kommen auf 23 Stunden Training die Woche. Dazu Arbeit oder Schule sowie Schlafen. «Da bleibt nicht mehr viel übrig. Tatsächlich wird es dann auch schwierig mit dem sozialen Leben.»

Nach dem Training kommt die Essattacke

Auch kreisen viele Gedanken um das Essen. Manche Betroffene schaufeln 5.000 Kalorien am Tag in sich rein, um keine Muskelmasse zu verlieren. Dabei berechnen sie alles genau und stellen sich täglich auf die Waage. Mahlzeiten nach striktem Plan und mit möglichst viel Proteinen - das kann sich zu einer Essstörung auswachsen. Er habe Patienten, die nichts Fettes mehr zu sich nähmen, sondern fast nur noch Eiweiß, berichtet Fachmann Strobel. «Da ist auch ein Stück Filet schon zu fett oder der Protein-Shake mit Milch.» Der Klassiker bei Bodybuildern und Kraftsportlern sei Hühnchen mit Reis – fettarm, viel Eiweiß, aber auf Dauer nicht ausgewogen. Weil der Körper dann an Mangel leidet, werden Pillen mit Vitaminen, Mineralien und Nährstoffen eingeworfen.

Obwohl die Krankheit viele Jahre bekannt ist, wird das Thema nicht so breit diskutiert wie etwa weibliche Magersucht. Exakte Zahlen fehlen. Einige Fachleute schätzen, dass die Gruppe der betroffenen Männer ähnlich groß sein könnte wie die der Frauen mit Essstörungen. Und sie debattieren, was medizinisch im Vordergrund steht, das falsche Körperbild oder das gestörte Essverhalten.

Doch woher kommt dieses Bedürfnis, stark zu sein und in den Augen anderer stark zu wirken? Der Frankfurter Soziologe Robert Gugutzer hält viele Männer für verunsichert. Sie könnten die Frage nicht beantworten: «Was heißt es heute noch, ein Mann zu sein?» Charakterlich sind die Leitplanken für die Rollenbilder extrem weit: Verständnisvoll oder machohaft, liebevoll oder hart?

«In diesen Phasen der Verunsicherung greifen einige Männer auf etablierte Identitätsanker zurück wie einen schönen und das heißt immer noch muskulösen Körper», meint Gugutzer. Also auf Äußerlichkeiten. Schließlich sei es heute legitim, sich mit seinem Körper, seiner Optik, auseinanderzusetzen. «Wer sich gehen lässt, wird schnell stigmatisiert. Man kann nicht sagen, ich liege abends lieber auf der Couch und esse Chips.» Wer diese Faulheit zugibt, erntet leicht Häme. Manche Männer erzählen zudem, dass sie mit mehr Muskeln besser bei Frauen landen würden.

Wann die Muskelsucht beginnt

Ein bepackter Körper allein ist aber noch kein Beleg für Sucht. Für Muskelsucht braucht es bestimmte Merkmale in der Persönlichkeit. Bei Männern, die bei Strobel Hilfe finden, geht es häufig um ihren Selbstwert. Sie definieren ihn stark über Äußerlichkeiten. «Das ist ein sehr instabiler Selbstwert, der oft bröckelt», erläutert der Psychologe. Ursachen könnten in der Kindheit und Jugend liegen: etwa, weil man pummelig war und deshalb gehänselt wurde. Also sucht der Therapeut mit seinen Klienten nach einer Antwort auf die Frage: «Bin ich auch okay, wenn ich keine Muskeln habe?»

Doch die Sache hat nicht nur persönliche Wurzeln. Auch gesellschaftlich ist das Bild vom starken Mann sehr präsent. Schon der Nachwuchs habe es im Kopf, fanden drei Forscher aus den USA und Australien heraus. Sie legten Kindern um die 10 Jahre Superhelden-Figuren vor wie Batman, Spiderman und Hulk. Mal normal, mal mit extremen Muskelpaketen. Die Jungen hätten die hyper-muskulären Actionfiguren bevorzugt, schreiben die Forscher. Sie hätten schon ein bestimmtes Männerbild verinnerlicht: viele Muckis, Waschbrettbauch, breite Schultern, kräftige Oberarme.

Der US-Psychologe Harrison G. Pope vermutet, dass es in weiten Teilen ein Phänomen unserer Zeit ist. Männer der 1950er- und 1960er-Jahre hätten sich keine großen Gedanken über ihre Muskeln gemacht. «Sie haben kein Geld ausgegeben für Gebühren bei Fitnessclubs oder für proteinreiche Nahrungsergänzungsmittel oder Kraftgeräte für den Keller», schrieb er in seinem Buch «Der Adonis-Komplex».

Doch dann erschien Arnold Schwarzenegger mit seinem Bodybuilder-Film «Pumping Iron» (1977) auf der Bildfläche. Der heute 72-Jährige lässt darin absurd große Muskeln spielen, mit denen er vielfach die Titel Mister Universum und Mr. Olympia gewann. Und er stemmt Gewichte, bis die Muskeln brennen. Das Pumpen – für Schwarzenegger wie ein Orgasmus. «Blut rauscht in deine Muskeln, das nennen wir den Pump. Deine Muskeln fühlen sich ganz angespannt an, als ob deine Haut jede Minute explodiert. Als ob jemand Luft in die Muskeln blasen würde», erklärt er im Film.

Hollywoodstar Schwarzenegger («Terminator») wurde zum Idol. Später überschwemmten Fitness- und Lifestyle-Magazine den Markt und mit ihnen Männer-Models mit Super-Muskeln, Figuren weit entfernt von antiken Schönheitsidealen. Selbst Marmor-Statuen wie Michelangelos «David» in Florenz wirken dagegen wie Hänflinge.

Ohne Doping geht es irgendwann nicht mehr

Nicht wenige waren von den kraftstrotzenden Kerlen fasziniert und versuchten, ihnen nachzueifern. Doch trotz harten Trainings scheiterten viele kläglich. «Oft wussten sie nicht, dass sich diese Models heimlich auf Drogen verließen», schilderte Pope. «Unsere Forschungen haben uns davon überzeugt, dass der männliche Körper einen bestimmten Level von Muskulösität nicht überschreiten kann ohne Hilfe von Steroiden oder anderer Chemikalien.» Doping also.

Schuld daran ist oft falscher Ehrgeiz: «Sehr viele vor allem männliche Fitness-Sportler stecken sich bezüglich des Muskelwachstums komplett unrealistische Ziele, werden von den langsamen Trainingserfolgen gefrustet und greifen dann zu Dopingmitteln», sagt der Sportmediziner Perikles Simon von der Universität Mainz. Mehr als elf Millionen Menschen waren 2018 in deutschen Fitnessstudios angemeldet. Schätzungsweise 12 bis 13 Prozent davon haben, so sagt Simon, schon anabole Steroide konsumiert, also synthetische Stoffe zum Muskelaufbau.

An diese Stoffe heranzukommen ist zum Teil nicht schwer. Manche bekämen sie sogar vom Arzt verschrieben, «auf Privatrezept, oder sie stellen Blankorezepte aus», berichtet Simon. Es gebe Apotheken, die manche Präparate auch ohne ärztliche Verordnung herausgeben. Oder Konsumenten legten gefälschte Rezepte vor.

Wachstumshormone, Testosteron, Cortison-Präparate, Antiestrogene, Insulin. Betroffene berichteten Simon und seinen Kollegen sogar von ärztlich kontrolliertem Doping. Und es gibt den Schwarzmarkt: «Das organisierte Verbrechen wird diesen lukrativen Einnahmebereich nicht meiden», sagt Sportmediziner Simon. Zwar werde viel getan, beim Zoll und auch von Seiten der Strafverfolger. So gab es 2019 große Anti-Doping-Razzien. Trotzdem reiche das nicht aus. Vor allem Ärzte müssten besser aufgeklärt werden. Hier fehle es an Bewusstsein.

Denn wer dopt, gerät unter Umständen schnell in eine Abhängigkeit – vor allem, wenn er muskelsüchtig ist. «Das Problem ist, dass Muskulatur, die mit Hilfe von Medikamenten aufgebaut wurde, sich nach dem Absetzen dieser Präparate sehr schnell zurückbildet», erläutert Sportmediziner Markus Walther von der Schön-Klinik in München. Genau das, was Männer auf der Jagd nach dem perfekten Körper nicht wollen. «Damit kommt der Muskelsüchtige aus dem Teufelskreis der Medikamenteneinnahme selten alleine wieder heraus.» Die Folgen: ein krankes Herz-Kreislaufsystem oder Altersdiabetes schon in jungen Jahren.

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