Wenn Medikamente das Leben bedrohen |
Einige Medikamente können als Nebenwirkung suizidale Gedanken fördern. Wenn dies Angehörige oder Freunde bemerken, können einfühlsames Zuhören und auch das direkte Ansprechen der Suizidgedanken eine erste Hilfe sein. / © Getty Images/Rawpixel
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention nehmen sich in Deutschland jährlich etwa 10.000 Menschen das Leben. Die Zahl der Suizidversuche liegt mit schätzungsweise 100.000 pro Jahr deutlich höher, wobei Suizidalität insbesondere mit steigendem Lebensalter zunimmt und in 70 Prozent der Fälle von Männern ausgeübt wird. Bei den 15- bis 25-Jährigen ist der Suizid weltweit die zweithäufigste Todesursache.
Suizidale Gedanken und suizidales Handeln haben multifaktorielle Gründe und treten häufig in Verbindung mit einer psychischen Grunderkrankung oder als Folge von Substanzabhängigkeit auf. Aber auch einige Medikamente können als Nebenwirkung suizidale Gedanken fördern. In den meisten Fällen tritt dieses Phänomen sehr selten auf, da die individuellen Lebensumstände eine wichtige Rolle dabei spielen.
Biochemisch betrachtet entstehen Suizidgedanken wahrscheinlich infolge eines gestörten Gleichgewichts von Neurotransmittern und Stresshormonen wie Dopamin, Serotonin oder Noradrenalin im zentralen Nervensystem, wobei der genaue Mechanismus noch nicht abschließend erforscht ist. Medikamente, die die Blut-Hirn-Schranke überschreiten und in neurotransmittergesteuerte Regelkreise eingreifen, können einen Einfluss auf emotionale und kognitive Systeme haben.
Besonders anfällig für die Nebenwirkung Suizidalität ist ein Patient dann, wenn eine Therapie neu eingeleitet wird, die Medikation umgestellt wird oder ein Wirkstoff abgesetzt werden muss. Beispielsweise steigt gelegentlich bei antriebslosen und in sich gekehrten Menschen mit einer schweren Depression nach dem Beginn einer medikamentösen Therapie das Suizidrisiko, da eventuell bereits gehegte Gedanken leichter in die Tat umgesetzt werden.
Häufig werden Arzneimittel als potenzielle Auslöser suizidaler Gedanken übersehen. Die medikamentöse Ursache stellt eine Differenzialdiagnose dar, die trotz anderer Erkrankungen untersucht werden muss. Wirkstoffe mit Nebenwirkungen wie Unruhe, Depressionen, Verwirrtheit, Halluzinationen sowie eine starke Antriebssteigerung beziehungsweise -dämpfung wirken allgemein auch förderlich für suizidale Gedanken.
Für die Risikoeinschätzung von suizidalem Verhalten als Nebenwirkung von Arzneimitteln werden häufig kleinere, teils wirkstoffspezifische Untersuchungen eingeleitet. Dies geschieht in der Regel dann, wenn in nationalen und internationalen Melderegistern eine gewisse Menge an Fallzahlen eingegangen ist, die bewertet werden müssen.
Kürzlich wurden in einer explorativen Studie aus den USA 20 Wirkstoffe identifiziert, bei denen in den letzten zehn Jahren sehr häufig suizidales Verhalten als Nebenwirkung gemeldet wurde. Die Daten stammen aus der FAERS-Datenbank der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA. Darunter befinden sich Vertreter verschiedener Wirkstoffklassen wie Antiepileptika, Antipsychotika, Analgetika und Antidepressiva.
Bereits 2008 stellte ein Fachausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in einer groß angelegten Metaanalyse fest, dass Antidepressiva substanzklassenübergreifend bei jungen Menschen unter 25 Jahren das Risiko für suizidale Gedanken im Vergleich zu Placebo fördern können. Bei selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) wie Fluoxetin, Citalopram, Sertralin, Duloxetin oder Paroxetin und dem SNRI Venlafaxin könnte dies mit der zuvor beschriebenen anregenden Wirkung zusammenhängen – wobei sich in der Regel nicht sagen lässt, ob das suizidale Verhalten ein Resultat der Depression oder eine Nebenwirkung des Arzneimittels ist. Der Wirkstoff Bupropion, welcher zur Behandlung von Depressionen und zur Rauchentwöhnung eingesetzt wird, hat in beiden Indikationen diese Nebenwirkung. Typischerweise treten die suizidalen Gedanken innerhalb der ersten vier Wochen nach Therapiebeginn auf. Auch bei den Antipsychotika Aripiprazol, Quetiapin, Clozapin und Olanzapin tauchte in der Vergangenheit der Verdacht auf einen Zusammenhang auf.
Für das Asthmamedikament Montelukast konnten psychiatrische Nebenwirkungen inklusive suizidaler Handlungen sowie -gedanken festgestellt werden. Dieses Phänomen tritt insbesondere bei Kindern auf und wurde als sehr seltene Nebenwirkung aufgrund gemeldeter Fallzahlen in die Fachinformation aufgenommen. In Studien konnte aber bislang kein direkter Zusammenhang nachgewiesen werden.
Bei den Immunmodulatoren Interferon-α-2b und -β-1b, die beispielsweise zur Behandlung von Hepatitis B und C sowie bei Tumorerkrankungen eingesetzt werden, können suizidale Gedanken gelegentlich auftreten. Auch systemische Glucocorticoide werden aufgrund ihrer Wirkung auf das Immunsystem mit einem Risiko für psychiatrische Nebenwirkungen in Verbindung gebracht, die auch in suizidalem Verhalten münden können. Vermutet wird bei beiden Wirkstoffgruppen eine Beteiligung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, die unter anderem für die Freisetzung von Cortisol verantwortlich ist.
Auch bei der Wirkstoffgruppe der Antiepileptika lässt sich ein leicht erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten feststellen, worauf das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) schon 2008 hingewiesen hat. Grund könnte eine Wirkung im GABA-ergen System sein, wodurch Stimmung und Impulsivität beeinflusst werden. Die Höhe des Risikos kann derzeit aber nicht an konkreten Zahlen festgemacht werden, weshalb sich in den Produktinformationen von Antiepileptika ein allgemeiner Hinweis darauf findet. Am häufigsten wurde suizidales Verhalten als Nebenwirkung bei Gabapentin, Pregabalin und Lamotrigin gemeldet.
Ein Zusammenhang mit suizidalem Verhalten besteht auch bei der Antibiotikagruppe der Fluorchinolone, etwa Ciprofloxacin, Ofloxacin, Moxifloxacin oder Levofloxacin. Hier wird die Nebenwirkung als sehr selten (<1/10.000) aufgeführt und stellt die Folge einer starken psychischen Störung dar, die im Voraus häufig auftritt. Auch für das Tetrazyklin Doxycyclin wurden Fälle gemeldet, insbesondere in Zusammenhang mit einer Akne-Therapie. Gleichermaßen verhält es sich mit Isotretionin in derselben Indikation, hier ist das suizidale Verhalten als seltene Nebenwirkung in der Fachinformation aufgenommen.
Weitere Wirkstoffe, bei denen suizidales Verhalten in der Vergangenheit beobachtet wurde, sind das zur Malariaprophylaxe eingesetzte Mefloquin, der NMDA-Antagonist Amantadin, das HIV-Medikament Efavirenz sowie 5-α-Reduktasehemmer wie Finasterid und Dutasterid. Zu Letzteren gab die EMA erst im Mai dieses Jahres eine erneute Warnung heraus. Als Mechanismus hinter der Nebenwirkung wird hier eine Reduktion der Bildung verschiedener neuroaktiver Steroide im ZNS vermutet.
Unter den Wirkstoffen Zolpidem und Alprazolam kam es gehäuft zu Meldungen von suizidalem Verhalten in den USA. Hier verschwimmen allerdings verschiedene Einflüsse wie eine potenzielle Nebenwirkung, eine exzessive Anwendung oder eine gezielte Selbstvergiftung miteinander. Klarheit können nur weitere Untersuchungen bringen, die den genauen Wirkmechanismus analysieren. Ähnlich verhält es sich mit weiteren Benzodiazepinen, Oxycodon, Morphin, Ibuprofen, Paracetamol, Amlodipin und Metformin. Hier korreliert einerseits das Risiko für suizidales Verhalten mit der Häufigkeit der Verordnungen und andererseits mit der weiten Verbreitung und relativ einfachen Beschaffbarkeit.
Für weitere Wirkstoffe gibt es Fallberichte bezüglich eines erhöhten suizidalen Risikos, jedoch keine Studien, die einen direkten Zusammenhang nachweisen konnten. Dazu gehören die Wirkstoff-Kombination aus Lumacaftor/Ivacaftor, die bei zystischer Fibrose eingesetzt wird, das Zytostatikum Paclitaxel, die monoklonalen Antikörper Adalimumab und Infliximab, das Antitussivum Dextromethorphan sowie das β-Sympathomimetikum Formoterol. Zu diesem Schluss kommen die Autoren einer Übersichtsarbeit, die vergangenes Jahr im Fachjournal »JMIR Public Health & Surveillance« publiziert wurde.
Ebenfalls von der EMA untersucht wurden Fälle von Suizidalität unter der Anwendung von GLP-1-Rezeptoragonisten wie Semaglutid und Liraglutid. Die Auswertung einer Studie aus den USA und einer eigenen Untersuchung der EMA konnten diesbezüglich aber vorerst Entwarnung geben.
Auch unter der Einnahme von oralen Kontrazeptiva (Kombinations- und Monopräparate) kann laut einem Rote-Hand-Brief aus dem Jahr 2019 besonders zu Therapiebeginn ein stark erhöhtes Risiko für selbstverletzende Gedanken auftreten. Dies wird insbesondere als Folge der Nebenwirkung einer (schweren) Depression genannt, welche häufig (<1/10) beschrieben wird.
Es ist in der Apotheke sehr schwer, suizidales Verhalten aufgrund einer medikamentösen Therapie zu erkennen. Die Betroffenen ziehen sich sozial zurück, ändern plötzlich typische Alltagsstrukturen, verhalten sich risikoreich oder sprechen die Gedanken indirekt an. Bei einem entsprechenden Verdacht sollte der Patient sofort an den behandelnden Arzt verwiesen werden. Bei der Abgabe von Arzneimitteln mit einem erhöhten Risiko sollte immer geschaut werden, wie relevant der Hinweis tatsächlich ist. Sinnvoll ist es, Angehörige mit einzubeziehen, um eine mögliche Verhaltensänderung rechtzeitig zu erkennen.
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