Verschwörungstheorien aus psychiatrischer Sicht |
Brigitte M. Gensthaler |
31.12.2020 17:00 Uhr |
Die »Eingeweihten« und »Wissenden« stehen über den anderen – ein typisches Merkmal von Verschwörungstheorien. / Foto: Getty Images/solarseven/James Thew
Die Liste der Mythen zur angeblichen Herkunft und zum Zweck von SARS-CoV-2 ist lang. Wie vor rund 40 Jahren beim HI-Virus kursierte auch hier rasch das Gerücht, dass das Virus aus Laborexperimenten stamme, absichtlich als Biowaffe freigesetzt worden sei und zur Bevölkerungskontrolle diene. Über die Covid-19-Impfung unken Skeptiker, dass den Impflingen damit ein von Bill Gates entwickelter Biochip oder ähnliches zu Kontrollzwecken unter die Haut implantiert werden solle.
Der Münchner Psychiatrie-Professor Dr. Hans Förstl legt in der Fachzeitschrift »DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift« seinen Standpunkt dar: »Verschwörungstheorien haben lange Tradition und entstehen bevorzugt in anhaltenden Bedrohungssituationen. Den Nährboden bilden eine ängstliche Grundgestimmtheit, die Empfindung eigener Machtlosigkeit, spürbare soziale Auswirkungen sowie unzureichende Erklärungen und Problemlösungen.«
Über moderne Kommunikationswege und soziale Medien könnten sich Mythen und Gerüchte heute sehr schnell verbreiten. Typischerweise richteten sie sich gegen ein politisches, mediales, wirtschaftliches und wissenschaftliches »Establishment«, um dessen »Fehler und skrupellose Machenschaften« sichtbar zu machen. Dabei werde die Welt in Gut und Böse unterteilt und bestimmte Menschen oder Gruppen zu Sündenböcken abgestempelt. Angebliche Beweise sollen die Verschwörung stützen, der keine Theorie im wissenschaftlichen Sinn zugrunde liegt.
Merkwürdig bis abstrus klingen Empfehlungen zu möglichen Schutzmaßnahmen und Therapien gegen SARS-CoV-2, die Förstl beispielhaft aufreiht. Sie reichen von Alkohol und Artemisia über Kuh-Urin und -Dung (Indien) und Vegetarismus bis zu Whiskey mit Honig sowie Zink. Allgemein stehe »die Pharmaindustrie« im Verdacht, wirksame Naturheilmittel zu hintertreiben, denn schon der Konsum von Knoblauch, spirituelles Händeklatschen oder das Trinken großer Wassermengen könnten heilsam sein.
Zur Verschwörungstheorie tendierten, so Förstls Erfahrung, eher jüngere Männer, die bei geringerer emotionaler Stabilität häufiger zu Unnachgiebigkeit neigen. Eine religiöse, konservative und fremdenfeindliche Gesinnung gehöre ebenso zu den prädisponierenden Wesenszügen wie ein Hang zur Langeweile. Der stärkste individuelle Faktor sei aber der bestehende Glaube an eine andere ältere Verschwörungstheorie, schreibt Förstl. Dagegen wirkten Aufgeschlossenheit und ein rational-analytischer Denkstil protektiv. Ein höherer IQ sei nicht zwingend nützlich.
Menschen könnten anhaltende Ungewissheit und unberechenbare Situationen kaum ertragen. Sie suchten nach gedanklichen Bewältigungsstrategien, wobei Verschwörungsgedanken aus psychiatrischer Sicht eher Menschen mit schizotyper Persönlichkeit oder psychopathischen Zügen bedienten.
Der Psychiater charakterisiert Verschwörungsgedanken so: »Die Wirklichkeit ist unüberschaubar, zum Teil rätselhaft und schwer ausreichend zu erschließen. Eine (Verschwörungs-)Theorie bringt Ordnung ins Chaos und liefert eine schlüssige, eine konklusive Lösung. Die gemeinsame Überzeugung von der Wahrheit dieser Theorie, von Teilhabe am überlegenen ›Königswissen‹, vermittelt ein inklusives Wir-Gefühl: Wir wissen es besser und halten zusammen. Davon ausgeschlossen, exkludiert, sind jene, die dieses ›Insider-Wissen‹ nicht teilen oder ihm sogar widersprechen.«
Folgen sind einerseits eine subjektive Entlastung der Verschwörungsanhänger, aber auch eine gesellschaftliche Entsolidarisierung. Objektiv schadeten die Verschwörungsideen nicht nur ihren Anhängern, die beispielsweise auf Schutzmaßnahmen verzichteten. Vielmehr könnten sie Zweifel an den Maßnahmen gegen das Virus säen, die gesellschaftliche Solidarität unterminieren und die öffentliche Diskussion verzerren.
Dass der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn im Krisenfall nie plötzlich und umfassend erzielt wird, sei für viele schwer zu begreifen. So entstehe der Eindruck, dass die Wissenschaft ihrer Aufgabe unzureichend gewachsen sei. Förstl meint daher, dass man sich »einem gewissen Verständnis für die Wissenschaftsskepsis der Verschwörungstheoretiker nicht verschließen« solle.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.