Unbemerkt im Schlaf |
Brigitte M. Gensthaler |
22.02.2019 11:00 Uhr |
Drei Viertel der unbemerkten Unterzuckerungen von Diabetikern treten nachts auf. / Foto: Adobe Stock/liderina
Hypoglykämien sind bei insulinpflichtigen Diabetes-Patienten keine Seltenheit. »80 Prozent der Typ-1- und fast 40 Prozent der Typ-2-Patienten hatten innerhalb von vier Wochen eine Hypo«, berichtete Professor Dr. Werner Kern, Ärztlicher Leiter des Endokrinologikums Ulm, bei der Pressekonferenz zum Kongress »Diabetologie grenzenlos« in München. Er zitierte dabei eine Analyse von 2017, bei der die Daten von rund 2400 deutschen Patienten aus der globalen Hypoglycaemia Assessment Tool (HAT)-Studie ausgewertet wurden. In der Befragung berichteten 9 Prozent der Typ-1-Patienten und 5,4 Prozent der Typ-2-Patienten sogar von schweren Unterzuckerungen. Die Rate an Meldungen war in der prospektiven Datenerhebung höher als in der retrospektiven Phase.
»Mit jeder, auch leichten Hypoglykämie wird die Wahrnehmung dieses Ereignisses geringer«, mahnte der Internist. Die Warnzeichen werden schlechter erkannt, damit steige das Risiko für schwere Unterzuckerungen. Zudem beeinträchtigten diese die Lebensqualität und lösten Angst aus. »Viele Typ-1-Diabetiker haben zeitweilig oder ständig Angst davor; viele reduzieren ihre Insulindosis oder lassen sie auch mal weg.« Dies erschwere die glykämische Kontrolle und das Erreichen der Zielwerte.
Längst nicht jede Unterzuckerung wird bemerkt. Kontinuierliche Glucosemessungen hätten ergeben, dass drei Viertel der unbemerkten Hypos nachts auftreten. Nachts ist hormonelle Gegenregulation reduziert, sodass die Unterzuckerung über Stunden anhalten könne. Die Stoffwechselentgleisung beeinträchtige die Gehirnfunktion, da Schlaf wichtig für die Gedächtniskonsolidierung ist. Nach einer »Hypo-Nacht« sei die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit am nächsten Tag oft deutlich beeinträchtigt.
»Laut Studien können Hypoglykämien die kognitive Funktion langfristig beeinträchtigen und das Risiko für Demenz erhöhen«, warnte der Diabetologe. Die genauen Mechanismen seien nicht geklärt, eventuell sei der Abbau von β-Amyloiden im Gehirn beeinträchtigt. Schwere Hypos stören dauerhaft die kognitive Leistungsfähigkeit wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Reaktionszeit und Motorik. Dies wiederum erhöhe das Hypo-Risiko durch Therapiefehler. Zudem mehren sich Hinweise, dass Hypoglykämien die Gefahr für Stürze und Frakturen bei Senioren erhöhen.
In der neuen S2k-Leitlinie »Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter« (Deutsche Diabetes Gesellschaft 2018) heißt es denn auch, dass der Erhalt der Lebensqualität und das Vermeiden von Hypoglykämien vorrangige Therapieziele bei älteren Menschen mit Diabetes sein sollen. Es gehe um die individuelle Lebensqualität und Autonomie, also das selbständige unabhängige Leben in der eigenen Umgebung, an die das Therapiekonzept anzupassen ist. Der HbA1c-Wert hat laut Leitlinie im höheren Lebensalter einen geringeren Stellenwert, und das HbA1c-Ziel soll an die vermutete Lebenserwartung angepasst werden.