Nahezu jeder siebte Mensch in Deutschland ist von einer Angsterkrankung betroffen. Dazu gehört unter anderem die Agoraphobie mit und ohne Panikstörung. / © Adobe Stock/Gina Sanders
Die aktuelle deutsche S3-Leitline zur Behandlung von Angststörungen bei Erwachsenen (AWMF-Registernummer 051-028; Stand 2021) umfasst die Panikstörung/Agoraphobie, die generalisierte Angststörung sowie die soziale und die spezifische Phobie (1). Allen Patienten soll eine Psycho- und Pharmakotherapie angeboten werden. Doch Angst ist nicht primär pathologisch, sondern eine evolutionär entwickelte Reaktion des Körpers auf potenzielle Bedrohungen.
Sie hat eine lange Entwicklungsgeschichte, die bei einfachen Organismen wie Einzellern beginnt (5). Bei diesen frühen Lebewesen sind bereits Schutzmechanismen gegen Umweltgefahren wie chemische oder physische Bedrohungen vorhanden, um das Überleben zu sichern. Bei Wirbeltieren, insbesondere bei Säugetieren, wurde die Angstreaktion durch die Entwicklung des limbischen Systems, insbesondere der Amygdala, weiter verfeinert, was eine schnelle und unbewusste Reaktion auf Gefahr ermöglicht (15).
Die »Fight-or-Flight«-Reaktion (Kampf oder Flucht) ist eine automatische physische Stressantwort des Körpers auf eine als bedrohlich empfundene Situation. Sobald ein möglicher Gefahrenreiz wahrgenommen wird – real oder lediglich so erlebt – leitet die Amygdala Signale an den Hypothalamus weiter. Dieser aktiviert über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse die Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol. Diese Hormone versetzen den Körper in Alarmbereitschaft. Es kommt zu körperlichen Reaktionen der Angst:
Parallel dazu verlangsamt sich die kognitive Verarbeitung im präfrontalen Cortex, sodass automatisierte Reaktionen überwiegen. Die Wahrnehmung ist deutlich eingeschränkt und man sieht alles nur noch durch einen »Tunnelblick«.
In manchen Situationen ist eine Fluchtreaktion sehr sinnvoll und evolutionär verankert. / © Adobe Stock/Nadine Haase
Der Angstkreislauf kann sich selbst verstärken, wenn Körpersymptome als gefährlich fehlinterpretiert werden – ein Kernmechanismus zum Beispiel bei Panikstörungen. Chronische Angst kann die Hirnstruktur beeinflussen und zu einer Überaktivität der Amygdala sowie einer Hemmung des präfrontalen Cortex führen, was die rationale Bewertung einer Situation erschwert. Das heißt, Betroffene wissen oft, dass sie keine Angst haben müssten, können das Gefühl aber nicht kontrollieren.
Zusammenfassend ist Angst eine hochkomplexe Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung, Bewertung, hormoneller Aktivierung und körperlicher Reaktion. Bei Störungen in diesem System kann es zu einer Überaktivität kommen, wodurch Angsterkrankungen entstehen.