SARS-CoV-2 mutiert jetzt anders |
Theo Dingermann |
13.10.2022 18:00 Uhr |
Die Evolution des Coronavirus SARS-CoV-2 schreitet voran. Neuerdings zeigen sich Parallelentwicklungen bei verschiedenen Omikron-Subvarianten. / Foto: Hans R. Gelderblom, Freya Kaulbars/RKI
Konvergenz (auch Parallelismus oder konvergente Evolution) ist ein biologisches Phänomen, das zu ähnlichen oder identischen Merkmalen bei nicht miteinander verwandten Organismen führt. Durch einen sehr starken Anpassungsdruck entwickeln diese dabei unabhängig voneinander nahezu identische Fähigkeiten. Konvergente Entwicklungen kann man aktuell bei SARS-CoV-2 beobachten: Bei verschiedenen Untervarianten der Omikron-Linie tauchen unabhängig voneinander dieselben Mutationen auf. Was bisher darüber bekannt ist, fasst der Wissenschaftsjournalist Rich Haridy im Technologie- und Wissenschaftsportal »New Atlas« zusammen.
Er erinnert zunächst daran, dass die Mutationen von SARS-CoV-2 seit dem Auftauchen des Virus genau beobachtet werden. Alpha, Beta und Gamma waren drei frühe Varianten, die wegen ihres Mutationsmusters von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als besorgniserregend eingestuft wurden. Sie tauchten in drei verschiedenen Teilen der Welt plötzlich auf.
Im Tierreich gibt es viele Beispiele für Konvergenz. Eines davon sind die Schwimmflossen von Wasserschildkröten, Pinguinen und Walen, die sich alle aus unterschiedlichen Vorderextremitäten entwickelt haben. / Foto: Adobe Stock/Lafoudre
Einige dieser Varianten wurden dominant und verursachten seit 2021 eine Reihe von Infektionswellen: Die Alpha-Welle wurde durch die Delta-Welle und diese durch die Omikron-Wellen abgelöst. Dabei unterschied sich die Virusvariante, die einer Welle den Namen gab, jeweils deutlich von der Variante, die die vorangegangene Welle dominiert hatte. Es gab also keinen langsamen Übergang von einer bestimmenden Virusvariante auf die andere. Stattdessen markierten große evolutionäre Sprünge den Beginn einer neuen Welle.
Dieser Verlauf der Pandemie änderte sich mit dem Auftauchen von Omikron um die Jahreswende 2021/2022. Zunächst waren die drei relativ unabhängigen Untervarianten BA.1, BA.2 und BA.3 vorherrschend. Doch seit der jüngsten BA.5-Welle scheint keine einzelne Untervariante mehr zu dominieren – die Omikron-Linie zersplittert sich in Dutzende verschiedener Untervarianten. Bemerkenswert ist, dass diese in ihrem Mutationsmuster allmählich wieder zusammenzulaufen: Es tauchen dieselben Mutationen in unabhängig voneinander entstandenen Untervarianten auf.
Experten auf dem Gebiet der Virusevolution sprechen nun erstmals im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 von Konvergenz. Diesen Begriff verwendete beispielsweise der Virologe Dr. Tom Peacock vom Imperial College London, der am 7. September in einem Twitter-Post auf drei Mutationen in der Rezeptor-Bindedomäne (RBD) in der neuen, von BA.5 abgeleiteten Subvariante BQ.1.1 hinwies. Diese Mutationen, R346T, K444T und N460K, waren bereits aus anderen Varianten bekannt.
In einer aktuellen Studie, die bisher nur als Preprint verfügbar ist, präsentieren Professor Dr. Yunlong Cao und Kollegen vom Biomedical Pioneering Innovation Center (BIOPIC) an der Peking University Hinweise darauf, dass immer mehr neue Omikron-Subvarianten mit einem ähnlichen Mutationsmuster in der RBD gefunden werden. Die Autoren zeigen, dass diese konvergenten Mutationen zu einem Unterlaufen der Immunität führen können, wie sie etwa durch Rekonvaleszenzplasma, einschließlich des Plasmas von Genesenen mit BA.5-Durchbruchinfektion, und verfügbaren therapeutischen Antikörpern wie Tixagevimab/Cilgavimab (Evusheld®) und Bebtelovimab vermittelt wird.
»Konvergente RBD-Evolution bedeutet, dass die RBD-Mutationen, die in kürzlich aufgetauchten SARS-CoV-2-Omikron-Sublinien nachgewiesen werden, an denselben Stellen (Hotspots) konvergieren, einschließlich der Positionen R346, K444, V445, G446, N450, L452, N460, F486, F490, und R493«, erklärt Cao gegenüber »New Atlas«. Und er ergänzt: »Dass diese konvergenten Evolutionsmuster jetzt offensichtlich werden, könnte bedeuten, dass SARS-CoV-2 nun viel häufiger als zuvor immunevasive Mutationen entwickeln könnte.«
Kurz bevor Cao seinen Preprint publizierte, veröffentlichte der Virologe und »Abwasserdetektiv«, wie er sich selbst bezeichnet, Professor Dr. Marc Johnson auf Twitter eine Grafik, mit der er die Abstammungslinien der häufigsten Konvergenzvarianten visualisierte. Es dauerte dann nur wenige Tage, bis aus der übersichtlichen Darstellung ein kaleidoskopisches Durcheinander von Verbindungen geworden war. Täglich wurden neue Verbindungslinien gezogen, weil unterschiedliche Untervarianten zu denselben Mutationsmustern in der RBD konvergierten.
Johnson hatte die Mutationen fast alle bereits in Virusfragmenten aus Abwasserproben gesehen. Er glaubt, dass diese Abstammungslinien das Ergebnis langfristiger Covid-19-Infektionen sind, die hauptsächlich im Darm von Personen persistieren, die beispielsweise immungeschwächt sind und das Virus nicht komplett eliminieren können. »Hier kann das Virus, das nicht den beschwerlichen Weg über Infektionen von Mensch zu Mensch gehen muss, quasi auf eine evolutionäre Schnellvorlauftaste drücken, um so viel schneller zu optimieren als die zirkulierenden Linien«, erklärt Johnson gegenüber »New Atlas«.
Seit einiger Zeit wird vor allem im Zusammenhang mit der Impfung intensiv und auch kontrovers diskutiert, ob das Phänomen einer immunologischen Prägung bei SARS-CoV-2 eine Rolle spielen kann. Mit der Beobachtung einer konvergenten Evolution von Omikron-Subvarianten erhält diese Hypothese nun Rückenwind.
Cao und Mitarbeiter hatten im Rahmen ihrer Arbeit Tausende von Antikörpern analysiert, die geimpfte Personen nach einer Durchbruchinfektion mit BA.2 oder BA.5 gebildet hatten. Sie wollten verstehen, ob unser Immunsystem in der Lage ist, mit der Evolution der Viren Schritt zu halten. Die Forschenden stellten fest, dass nach einer Durchbruchinfektion mit Omikron-Subvarianten hauptsächlich Gedächtnis-B-Zellen rekrutiert werden, um Antikörper zu produzieren. Bis zu 80 Prozent der B-Zell-Antwort auf eine Omikron-Durchbruchinfektionen wird durch Gedächtniszellen kontrolliert, die infolge der Impfung etabliert wurden.
Das ist eigentlich eine gute Sache. Denn aus diesem Grund bietet der Originalimpfstoff mit dem Spike-Protein des Wildtyp-Virus auch bei Omikron immer noch einen guten Schutz vor schweren Krankheitsverläufen. Aber gleichzeitig bedeutet es auch, dass unser Immunsystem womöglich nicht lernt, neuere Omikron-Subvarianten effektiv zu erkennen.
Die Gruppe um Cao modellierte weitere mögliche Mutationswege des Virus und stellte fest, dass nur sechs spezifische Mutationen in die RBD von BA.5 integriert werden müssten, um die meisten aktuellen RBD-Antikörper ins Leere laufen zu lassen. Einige dieser Mutationen sind bereits in mehreren Omikron-Untervarianten nachgewiesen worden. Insbesondere die Subvarianten BQ.1.1 und XBB haben sich dem Selektionsdruck am effektivsten angepasst.
Was das für die Zukunft bedeutet, ist derzeit nicht abzusehen. Laut dem Immunologen Professor Dr. Menno van Zelm von der Monash University in Melbourne, der sich intensiv mit dem Immungedächtnis und der immunologischen Prägung beschäftigt, sei die Frage noch offen, ob die Prägung des Immunsystems eine lebenslange Eigenschaft sei oder ob sich an Virusvarianten angepasste Immunantworten entwickeln könnten. Alle hätten zunächst auf ein lang anhaltendes Immungedächtnis gehofft, so van Zelm gegenüber »New Atlas«. Aber jetzt könnte das sogar nachteilig sein, indem das Immungedächtnis so stark dominiere, dass es keine Variationen zulässt.
Wie andere Wissenschaftler betont aber auch van Zelm, dass unser Immunsystem komplex und facettenreich ist. Caos Forschung hat sich ausschließlich auf Gedächtnis-B-Zellen und die erzeugten Antikörperreaktionen konzentriert. Diese Immunantworten bestimmen das grundlegende Ausmaß der Übertragung und Infektion, aber viele andere Faktoren beeinflussen, wie schwer wir bei einer Infektion erkranken. Vor allem das T-Zell-Gedächtnis scheint flexibler zu sein.
Cao und van Zelm stimmen darin überein, dass aktuelle variantenspezifische Impfstoffe vielleicht nicht optimal sind, doch sicherlich die derzeit beste Lösung. Im weiteren Verlauf der Pandemie werden aber auch neue Strategien zur Konditionierung des Immunsystems gefragt sein. So könnten laut van Zelm Impfstoffe, die nur noch mit Mutationen angereicherte Peptidfragmente des Spike-Proteins als Antigene enthalten, das Problem der immunologischen Prägung möglicherweise umgehen.
Um besser beurteilen zu können, welche Varianten die Treiber einer neuen Welle sein werden, sind viele Wissenschaftler dazu übergegangen, nicht Einzelvarianten zu beobachten, sondern Varianten mit konvergenten Mutationen zu gruppieren.
Im Zuge dessen konnte der Bioinformatiker Cornelius Roemer, der als einer der Ersten die neuen konvergenten Varianten dokumentierte, zeigen, dass sich Untervarianten umso schneller verbreiten, je mehr Schlüssel-RBD-Mutationen vorhanden sind. Seine Arbeiten deuten darauf hin, dass Untervarianten mit vier wichtigen RBD-Mutationen bis Ende September mehr als 30 Prozent der neuen Virusproben ausmachen könnten. Würden jedoch zwei bis drei weitere wichtige RBD-Mutationen hinzugefügt, wie dies bei XBB, BQ.1.1 oder BA.2.3.20 bereits der Fall ist, könnte sich die Entwicklung deutlich beschleunigen.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.