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Robert-Koch-Institut

Professor Schaade erklärt den R-Wert

Die Reproduktionszahl R ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Parameter zur Beurteilung der aktuellen Dynamik der Covid-19-Pandemie in Deutschland. Im Pressebriefing des Robert-Koch-Instituts (RKI) wurde heute seine Berechnung erklärt.
Annette Mende
12.05.2020  17:32 Uhr
Professor Schaade erklärt den R-Wert

Eigentlich ist R ein anschaulicher Parameter. Er besagt, wie viele andere Menschen ein SARS-CoV-2-Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Doch die Tücke steckt im Detail, denn in der aktuellen, nach wie vor sehr dynamischen Situation der Covid-19-Epidemie muss seine Berechnung viele Unwägbarkeiten berücksichtigen – was teilweise gar nicht möglich ist. Obwohl seine Anschaulichkeit dazu verleitet, sollte der R-Wert daher weder überbewertet noch isoliert als Maßzahl für die Ausbruchsdynamik herangezogen werden. Das betonte RKI-Vizepräsident Professor Dr. Lars Schaade im Pressebriefing.

Das RKI hatte stets darauf hingewiesen, dass ein R-Wert unter 1 anzustreben ist, da dann die Ausbreitung der Infektion zum Erliegen kommt. Diese Aussage gilt auch weiterhin. Schwankungen des R-Werts um die Zahl 1 seien aber möglich und müssten im Gesamtzusammenhang gesehen werden, so Schaade. Zur Beurteilung der aktuellen Situation seien daneben auch die Zahlen der Neuinfektionen, der Todesfälle und der Covid-19-Patienten auf der Intensivstation sowie mögliche Engpässe in den Gesundheitsämtern zu berücksichtigen.

Der R-Wert, den das RKI jeden Tag in seinem Situationsbericht veröffentlicht, stellt eine Schätzung auf Basis des sogenannten Nowcastings des Instituts dar. Ein Nowcasting ist im Gegensatz zu einem Forecasting eine Prognose, die sich nicht auf die Zukunft, sondern auf die Gegenwart bezieht. Es beschreibt also eine aktuelle Situation auch anhand von fundierten Schätzungen und nicht ausschließlich anhand von harten Daten – ganz einfach weil diese nicht verfügbar oder nur wenig aussagekräftig sind.

Informationslücken stopfen

Bei der Covid-19-Epidemie gibt es mehrere Informationslücken, die das RKI im Rahmen des Nowcastings stopft, um ein möglichst realistisches Bild der aktuellen Lage in Deutschland zu erhalten. Eine davon ist der Verzug bei der Übermittlung neuer Covid-19-Fälle. Das Meldedatum sei der Tag, an dem das Gesundheitsamt einen Fall elektronisch erfasst habe, erklärte Schaade. Aus organisatorischen Gründen würden die Fälle dem RKI teilweise aber erst mit einem Abstand von vier bis zehn Tagen gemeldet. Das Erkrankungsdatum liege naturgemäß einige Tage vor dem Meldedatum, so der RKI-Vize weiter. Es spiegele den Verlauf der Epidemie besser wieder als das Meldedatum, sei aber nur bei etwas mehr als zwei Dritteln der Fälle bekannt.

Für sein Nowcasting analysiere das RKI bei den Fällen, in denen sowohl Erkrankungs- als auch Meldedatum bekannt sind, die zeitliche Differenz zwischen beiden und leite daraus für die Fälle mit unbekanntem Erkrankungsdatum ein wahrscheinliches Erkrankungsdatum ab. Berücksichtigt würden auch zu erwartende Nachzügler. Aus all diesen Daten ergebe sich eine geschätzte epidemiologische Kurve nach dem Erkrankungsbeginn. »Das Nowcasting ist durch die Verwendung des Erkrankungsdatums näher am tatsächlichen Geschehen als Modelle, die das Meldedatum zugrunde legen, und es kommt im Gegensatz zu vielen anderen Modellen mit sehr wenig Annahmen aus, hat aber dennoch durch die Schätzung auch Unschärfen«, fasste Schaade zusammen.

Die Reproduktionszahl R berechnet das RKI auf Basis seines Nowcastings. Hierzu wird die Zahl der Neuerkrankungen an vier aufeinander folgenden Tagen durch die Zahl der Neuerkrankungen der vier Tage zuvor geteilt. Warum vier Tage? Dies ist bei Covid-19 die sogenannte Generationszeit, also die mittlere Zeit, in der ein Infizierter weitere Menschen ansteckt. Doch damit nicht genug. Die starke Schwankung der Fallzahlen erlaubt laut Schaade keine verbindliche Aussage über die Anzahl der Neuinfektionen der aktuell jeweils letzten drei Tage. Deshalb werden als Zeiträume für die Berechnung des R-Werts nicht das jeweilige Datum minus vier beziehungsweise acht Tage herangezogen, sondern man geht nochmals drei Tage weiter zurück. »Die Reproduktionszahl R von 1,07 des 11. Mai basiert daher auf einem Vergleich der geschätzten Anzahl von Neuerkrankungen zwischen dem 30. April und dem 3. Mai mit denjenigen vom 4. bis zum 7. Mai«, erläuterte Schaade.

Da diejenigen Patienten, die an diesen Tagen als SARS-CoV-2-infiziert gemeldet wurden, sich wiederum bereits etwa vier bis sechs Tage zuvor angesteckt haben, bezieht sich der R-Wert auf Infektionen, die etwa anderthalb Wochen zurückliegen. Im Beispiel ist das der Zeitraum 28. April bis 3. Mai.

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