Neuentwicklung für seltene Form der Adipositas |
Annette Rößler |
06.07.2022 07:00 Uhr |
Genmutationen, die zu einem POMC- oder LEPR-Mangel führen, sind äußerst selten. Sie führen dazu, dass Betroffene ständig hungrig sind – und entsprechend schnell zunehmen. / Foto: Adobe Stock/Eisenhans
Melanozyten-stimulierende Hormone (MSH) oder auch Melanotropine sind eine Gruppe von Peptidhormonen, die über die Melanocortinrezeptoren MC1R bis MC5R verschiedene Prozesse im Körper regulieren. So führt etwa die Aktivierung von MC1R auf Melanozyten zu einer erhöhten Hautpigmentierung, während die Aktivierung von zentralen MC4R fiebersenkend wirkt und sexuelle Erregung vermittelt. Zudem sind MC4R an der Regulierung von Hunger- und Sättigungsgefühl sowie des Energieumsatzes beteiligt. Agonisten an MC4R sind unter anderem α-MSH und Adrenocorticotropin (ACTH). Letzteres wird aus der Vorstufe Proopiomelanocortin (POMC) gebildet.
Setmelanotid (Imcivree® 10 mg/ml Injektionslösung, Rhythm Pharmaceuticals) ist ein α-MSH-Mimetikum und selektiver MC4R-Agonist. Es darf bei Patienten zum Einsatz kommen, bei denen aufgrund von Genmutationen die MC4R-Aktivierung gestört ist. Diese Menschen haben ständig Hunger und entwickeln daher bereits im Kindesalter eine Adipositas. Konkret erstreckt sich das Anwendungsgebiet von Setmelanotid auf Erwachsene und Kinder ab sechs Jahren mit genetisch bestätigtem, durch Funktionsverlustmutationen bedingtem biallelischem POMC-Mangel (einschließlich PCSK1) oder biallelischem Leptinrezeptor(LEPR)-Mangel. Bei ihnen ist es zur Behandlung von Adipositas und zur Kontrolle des Hungergefühls bestimmt.
Die Anwendung erfolgt einmal täglich morgens als subkutane Injektion ins Abdomen an täglich wechselnden Injektionsstellen. Zu Beginn der Behandlung wird die Dosis über mehrere Wochen gemäß Anleitung in der Fachinformation auftitriert. Dabei hängt es vom Alter des Patienten und seiner Nierenfunktion ab, ob mit 0,5 mg oder mit 1 mg täglich gestartet wird. Für die Höchstdosis ist wiederum das Alter, aber auch die Verträglichkeit und der Therapieerfolg ausschlaggebend; sie liegt bei Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren bei 2,5 mg täglich und bei Patienten über zwölf Jahren bei 3 mg täglich. Wird eine Dosis versäumt, soll die Anwendung mit der nächsten geplanten Dosis fortgesetzt werden. Bei mittelschwerer bis schwerer Nierenfunktionsstörung und bei Leberfunktionsstörung sollte Setmelanotid nicht angewendet werden.
Unter der Therapie kann es infolge der Stimulation von MC1R zu einer erhöhten Pigmentierung der Haut kommen. Vor und während der Behandlung sollten Patienten deshalb entsprechend untersucht und Pigmentläsionen überwacht werden. Ebenfalls durch den Wirkmechanismus erklärbar ist die Möglichkeit des Auftretens spontaner Peniserektionen. Dauern diese länger als vier Stunden, sollten Patienten eventuell einen Notarzt aufsuchen. Depressionen gehörten in den Zulassungsstudien zu den häufigen Nebenwirkungen, sodass auch auf eine mögliche Suizidalität besonders zu achten ist. Mindestens alle sechs Monate sind zudem Herzfrequenz und Blutdruck zu kontrollieren.
Bezüglich der Anwendung in Schwangerschaft und Stillzeit ist zu bedenken, dass eine Gewichtszunahme während der Schwangerschaft für die gesunde Entwicklung des Kindes notwendig ist. Eine Therapie mit Setmelanotid sollte daher vorsichtshalber nicht während der Schwangerschaft oder während des Versuchs, schwanger zu werden, begonnen werden. Ist eine Patientin jedoch bereits auf Setmelanotid eingestellt und hat ein stabiles Gewicht erreicht, sollte eine Fortsetzung der Therapie während der Schwangerschaft erwogen werden. In der Stillzeit kann ein Risiko für das gestillte Kind nicht ausgeschlossen werden. Bei der Entscheidung, ob das Stillen zu unterbrechen ist oder ob auf die Behandlung mit Setmelanotid (vorübergehend) verzichtet wird, sind sowohl der Nutzen des Stillens für das Kind als auch der Nutzen der Therapie für die Mutter zu berücksichtigen.