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Bisherige Empfehlung unzureichend

12.09.2005  00:00 Uhr
Folsäure-Prophylaxe

Bisherige Empfehlung unzureichend

von Brigitte M. Gensthaler, München

Gesundheitsprävention beginnt schon mit der Empfängnis. Ist die Mutter zum Zeitpunkt der Konzeption und in den folgenden Wochen gut mit Folsäure versorgt, sinkt das Risiko eines Neuralrohrdefekts beim Kind. Anscheinend ist aber die bisher von Experten empfohlene Dosierung für Folsäure-Präparate zu gering.

Eine gute Versorgung der Mutter mit Folsäure und Vitamin B12 senkt nachweislich das Risiko von Neuralrohrdefekten beim Kind. Defekte wie Anencephalus und Spina bifida (offener Rücken) sind die häufigsten angeborenen Fehlbildungen des Zentralnervensystems. Jährlich kommen 470 bis 800 Kinder in Deutschland mit Neuralrohrdefekten zur Welt und schätzungsweise 500 Schwangerschaften werden aus diesem Grund abgebrochen. In Europa sind jährlich etwa 4500 Kinder betroffen.

Doch trotz der guten Nutzenbelege für Folsäure und vieler Empfehlungen von Fachgesellschaften ist die Prävalenz der Fehlbildung seit zehn Jahren nicht gesunken, beklagte Professor Dr. Klaus Pietrzik vom Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Bonn, auf einer Pressekonferenz von Merck Selbstmedikation in München. Über welchen Mechanismus das B-Vitamin Folsäure präventiv wirkt, ist noch nicht geklärt. Möglicherweise spielt das neurotoxische Homocystein eine entscheidende Rolle.

Hoch dosiert und präkonzeptionell

Da sich das Neuralrohr bereits zwischen dem 23. und 27. Tag der Schwangerschaft schließt, müssen die Erythrozytenfolatspiegel schon vor der Konzeption aufgebaut werden. In Studien erwiesen sich Spiegel über 906 nmol/l (400 ng/ml) als präventiv sinnvoll, sagte der Ernährungswissenschaftler. Nach einer eigenen Untersuchung mit 144 jungen Frauen reicht die derzeit empfohlene Einnahme von 400 µg Folsäure vier Wochen vor der Empfängnis aber oft nicht aus. Zwar stiegen die Folsäurespiegel im Blut deutlich an und die Homocysteinwerte fielen, aber erst nach etwa drei Monaten hatten 95 Prozent der Frauen den Folat-Zielwert erreicht. Dies hängt unter anderem vom Ausgangswert ab. Rechnerisch reiche die vierwöchige Gabe nur aus, wenn 800 µg eingenommen werden, erklärte Pietrzik.

Diese Dosis hat sich in großen Studien in Ungarn als wirksam erwiesen. In einer Untersuchung im Rahmen des ungarischen Familienplanungsprogramms (1992, 1994) erhielten mehr als 5500 Frauen mindestens einen Monat vor der Konzeption entweder ein Präparat, das Kupfer, Mangan, Zink und Vitamin C enthielt (Kontrollgruppe), oder ein Multivitaminpräparat mit 800 µg Folsäure, 1,8 mg Vitamin B2, 2,6 mg B6, 4 mg B12 sowie weiteren Vitaminen und Mineralstoffen. In der Kontrollgruppe wurden sechs Fälle von Neuralrohrdefekten beobachtet, in der Folsäure-Gruppe keiner.

Eine 2004 veröffentlichte Studie mit mehr als 6100 Frauen bestätigte den Nutzen. In der Gruppe, die das Multivitaminpräparat eingenommen hatte, trat kein Fall einer Spina bifida auf, in der anderen Gruppe neun. Außerdem sank die Zahl spezieller angeborener Fehler am Herzen und im Urogenitaltrakt.

Möglicherweise trage die Senkung der Homocystein-Spiegel durch die B-Vitamine zur Risikoreduktion bei, sagte Pietrzik. Am Stoffwechsel der neurotoxischen Aminosäure sind die Vitamine B2, B6 und B12 beteiligt. So steige das Risiko für Neuralrohrdefekte, wenn die Mutter niedrige Folsäure- und erhöhte Homocysteinspiegel hat.

Versorgung mangelhaft

In der Praxis lässt die Versorgung der Frauen mit Folsäure zu wünschen übrig. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und die entsprechenden Institutionen in Österreich und der Schweiz empfehlen gesunden Erwachsenen eine tägliche Zufuhr von 400 µg Nahrungsfolat (Pteroyl-polyglutamat). Tatsächlich liegt die mittlere tägliche Folatzufuhr bei nur 214 µg für Frauen und 235 µg bei Männern.

Seit etwa zehn Jahren raten die Fachgesellschaften Frauen, die schwanger werden können und wollen, vier Wochen vor der Empfängnis und im ersten Trimenon zusätzlich 400 µg synthetische Folsäure (Pteroyl-monoglutamat) einzunehmen. Nach heutiger Kenntnis wären 70 bis 75 Prozent der Neuralrohrdefekte durch eine ausreichende Versorgung vermeidbar. Nach Umfragen supplementieren 50 bis 70 Prozent der Frauen präkonzeptionell aber gar keine Folsäure. Ob 400 oder 800 µg präventiv besser sind, könnte eine Dosisfindungsstudie klären, doch diese ist aus ethischen Gründen heute nicht mehr vertretbar.

Supplemente nötig

Egal ob 400 oder 800 µg Folsäure zusätzlich: Diese Mengen kann man praktisch nur mit Supplementen erreichen. Daher plädierte Dr. Andreas Jantke, niedergelassener Gynäkologe in Berlin, nachdrücklich für mehr Aufklärung beim Frauenarzt und in der Apotheke. Ab Mitte September steht hier ein diätetisches Lebensmittel für die Selbstmedikation zur Verfügung, das im Wesentlichen den in den ungarischen Studien eingesetzten Präparaten entspricht (Femibion® 800 Folsäure Plus). Nach Angaben des Arztes soll es vier Wochen vor der Konzeption und während des ersten Trimenons eingenommen werden. Danach könnten die Schwangeren auf ein Folgeprodukt mit 400 µg Folsäure sowie im dritten Trimenon und während der Stillzeit auf ein Produkt, das zusätzlich Docosahexaensäure enthält, umsteigen.

Der obere Grenzwert für die tägliche Folsäureeinnahme in der Selbstmedikation liegt bei 1 mg; die Nahrungszufuhr ist unbegrenzt möglich. Präparate mit 4 mg Folsäure kann der Arzt Frauen verordnen, die bereits mit einem Kind mit Neuralrohrdefekt schwanger waren (Sekundärprävention). Noch höhere Mengen (bis 10 mg) können das Risiko anderer Missbildungen wie Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten reduzieren, sagte Pietrzik.

 

Literatur

  • Koletzko, B., Pietrzik, K., Gesundheitliche Bedeutung der Folsäurezufuhr. Dt. Ärztebl. 101, Nr. 23 (2004) 1670-1681.
  • Czeizel, A. E., et al., Hungarian cohort-controlled trial of periconceptional multivitamin supplementation shows a reduction in certain congenital abnormalities. Birth Defects Res. 70 (2004) 853-861.

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