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Warum Baldrian beruhigt

16.02.2004  00:00 Uhr

Warum Baldrian beruhigt

von Dagmar Knopf, Limburg

Dass Baldrian sedierend und schlaffördernd wirkt, ist hinlänglich bekannt. Wissenschaftler identifizierten nun einen Inhaltsstoff, der möglicherweise für diesen Effekt mitverantwortlich ist. Die Substanz aus der Gruppe der Lignane bindet an bestimmte Rezeptoren im Gehirn, die den Wach-Schlaf-Rhythmus steuern.

Schon Hippokrates wusste: Baldrian beruhigt und fördert den Schlaf. Doch welcher Inhaltsstoff des Extrakts für diese Wirkung verantwortlich ist, war bislang unklar.

Im Gehirn wirken verschiedene Stoffe schlaffördernd. Einer der bekannten „Müdemacher“ ist der Neurotransmitter g-Aminobuttersäure (GABA), über dessen Rezeptor zum Beispiel Diazepam seine Wirkung entfaltet. Bislang vermutete man, dass Baldrian ebenfalls in den GABA-Regelkreis eingreift.

Ebenfalls an der Steuerung der Schlaf- und Wachphasen beteiligt ist das Ribonucleosid Adenosin. Im wachen und aktiven Zustand braucht das Gehirn große Mengen an Energie, die ihm in Form von ATP zur Verfügung stehen. Um aus dem Molekül Energie zu generieren, werden nacheinander drei Phosphatgruppen abgespalten. Am Ende sammelt sich Adenosin im Gehirn an. Überschreitet das Ribonucleosid eine bestimmte Konzentrationsschwelle, induziert es Schlaf, wobei die schlaffördernde Wirkung über die Bindung an so genannte A1-Rezeptoren zustande kommt. Der Adenosin-Regelkreis schützt so das Gehirn vor einem möglichen Energiemangel. In gewissen, besonders regen Hirnarealen entsteht in langen Wachphasen lokal ein Energiemangel, der mit einer Zunahme der extrazellulären Adenosinkonzentration einhergeht. Bevor der Energiehaushalt im Gehirn aus dem Gleichgewicht gerät, sorgt Adenosin für erholsamen Schlaf. Weil die Neurone im Schlaf weniger aktiv sind und weniger Energie verbrauchen, können sich währenddessen die Energiereserven des Gehirns wieder auffüllen.

In diesen Schlaf-Wach-Mechanismus scheint auch der schon seit Jahrhunderten zur Schlafförderung verwendete Baldrian einzugreifen. Professor Dr. Christa Müller und ihre Kollegen vom Pharmazeutischen Institut der Universität Bonn identifizierten im Baldrianwurzelextrakt einen Inhaltsstoff, der ebenso wie Adenosin an den A1-Adenosinrezeptor bindet.

Erste Versuche zeigten, dass wässrig-alkoholische Vollextrakte aus der Baldrianwurzel tatsächlich an den A1-Rezeptor im Gehirn von Ratten bindet und eine Adenosin-ähnliche Wirkung hervorruft. Versuche mit gentechnisch produzierten menschlichen Rezeptoren ergaben ein vergleichbares Ergebnis.

Auf Spurensuche im Stoffgemisch

Da der Baldrianwurzelextrakt jedoch ein Stoffgemisch mehrerer pharmakologisch aktiver Substanzen ist, sollte erforscht werden, welche dieser Substanzen an den Rezeptor andockt. Eine Marburger Arbeitsgruppe brachte das Team um Müller auf die richtige Spur. Sie hatte nachgewiesen, dass Baldrian verschiedene Verbindungen aus der Gruppe der Lignane enthält. Lignane sind Dimere von Phenylpropanderivaten, die in der Pflanze frei oder in glykosidischer Bindung vorliegen. Sie kommen hauptsächlich in Farnen sowie in Nackt- und Bedecktsamern vor. Von pharmazeutischer Bedeutung sind unter anderem Podophyllotoxin, meso-Nordihydroguajaretsäure, Sesamin und Arctiin.

Zusätzlich zu zwei bereits in früheren Studien aus Baldrian isolierten Lignanen (8´-Hydroxypinoresinol und Pinoresinol-4-O-glukosid), fanden die Bonner Forscher sechs neue Lignane. Eins von ihnen, 4´-O-beta-D-glykosyl-9-O-(6´´-deoxysaccharosyl)Olivil, dockte ebenso wie Adenosin an den A1-Rezeptor an und rief dort eine ähnliche Reaktion hervor.

Adenosin selbst eignet sich nicht als sedierender Stoff, da es innerhalb von Sekunden abgebaut wird. Auch stabile Adenosin-Derivate sind problematisch, da A1-Rezeptoren nicht nur auf das Gehirn beschränkt sind. Sie kommen ebenfalls im Herzmuskel vor, dort jedoch in einer wesentlich niedrigeren Konzentration. Trotzdem könnte der Einsatz von Adenosin-Derivaten möglicherweise zu einer Herzlähmung führen. Im Gegensatz dazu ist das „Olivil-Lignan“ ein partieller Agonist, das heißt, er entfaltet nur bei der hohen Rezeptordichte im Gehirn seine Wirkung.

Warum das Lignan an den Rezeptor bindet, ist noch unklar, da die Substanz mit Adenosin keinerlei Strukturähnlichkeit aufweist. Die Forscher wollen nun die Struktur des Moleküls auf den Teil reduzieren, der für die Wirkung verantwortlich ist, um so möglicherweise ein noch effektiveres Molekül zu synthetisieren.

 

Wirkung über A1-Rezeptoren In einer Pilotstudie erhielten 48 gesunde männliche Freiwillige im Alter von 18 bis 35 Jahren zunächst 200 mg Coffein. Coffein bindet an die A1-Rezeptoren, bewirkt dort aber keine Reaktion, sondern blockiert sie lediglich. Die Folge: Kaffeetrinker werden wach. Bereits nach einer halben Stunde zeigte die Coffeineinnahme im EEG spezifische Veränderungen. Die a-Wellen, die Entspannung signalisieren, gingen zurück und stattdessen zeichneten sich b-Wellen ab: die Probanden waren sichtlich nervös.

Testpersonen, die anschließend statt Placebo zwei bis sechs Tabletten eines Hopfen-/Baldriangemischs erhielten, zeigten eine dosisabhängige Kompensation des Coffeineinflusses. Nach Einnahme von sechs Tabletten zeigte das EEG wieder die für Entspannung stehenden a-Wellen.

Der neutralisierende Effekt wird als Beweis dafür gesehen, dass die Baldrianwirkung tatsächlich über den A1-Rezeptor vermittelt wird und das dort ebenfalls bindende Coffein verdrängt.

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