Herz und Kreislauf im Klimastress |
Die pathophysiologischen Mechanismen, durch die Lärm kardiovaskuläre Erkrankungen verursacht, sind noch nicht vollständig geklärt. In Experimenten an Nagern konnte gezeigt werden, dass die zirkadiane Uhr aus dem Takt gerät und der oxidative Stress im Gehirn und in den Blutgefäßen zunimmt (16). Entzündungsprozesse aktivieren direkt das sympathische Nervensystem und lassen die Blutspiegel von Katecholaminen, Cortison und AngiotensinII in die Höhe schnellen, sodass die Endothelfunktion beeinträchtigt wird. Arbeiten die Endothelzellen nicht mehr reibungslos, setzen sie weniger Stickstoffmonoxid (NO) frei. Die Blutgefäße dehnen sich nicht mehr genügend aus, Gewebe und Organe werden schlechter durchblutet. Diese Prozesse bereiten kardiovaskulären Erkrankungen den Boden.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen können auch indirekt durch Lärm verursacht werden, da schon niedrige Geräuschbelastungen den Schlaf und das Wohlbefinden stören, was zu emotionalen und kognitiven Reaktionen sowie Ärger führt. Dies wiederum kann eine Stressreaktion auslösen, die Entzündungen begünstigt und eine Versteifung der Blutgefäße fördert.
Auch Schichtarbeit wurde mit einer Dysfunktion des Endothels in Verbindung gebracht. Dies weist darauf hin, dass Schlafmangel und -unterbrechungen wesentlich zur durch Lärm verursachten endothelialen Dysfunktion beitragen.
Dem enormen Einfluss der sich ändernden Umwelt auf die Gesundheit von Herz und Kreislauf werde noch viel zu wenig Beachtung beigemessen, moniert Münzel. »Wir müssen wegkommen von den klassischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Rauchen oder Diabetes und die Gesamtheit aller nicht-genetischen endogenen und exogenen Umwelteinflüsse erfassen«, lautet das Fazit des Klimakardiologen. Umweltstressoren wie Luftverschmutzung, Lärm, ungesunde Städteplanung und Klimawandel erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ebenso wie die traditionellen Risikofaktoren Rauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel.
Ein kürzlich in Nature Review Cardiology veröffentlichter Artikel eines internationalen Forschungsteams beleuchtet die Auswirkungen von Umweltstressoren auf das Herz-Kreislauf-System anhand des Konzepts des Exposoms (Grafik) (17, 18). Dieses Konzept beschreibt die lebenslange Exposition gegenüber verschiedenen Umweltrisiken und deren negative Auswirkungen auf den Körper und die Gesundheit. Das Forschungsfeld des Exposoms verknüpft schädliche Umwelteinflüsse mit pathophysiologischen Veränderungen im Körper sowie mit chronischen Erkrankungen und Todesfällen.
Das Konzept des Exposoms beschreibt die lebenslange Exposition des Menschen gegenüber Umweltrisiken und deren negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Modifiziert nach Th. Münzel, Universitätsklinikum Mainz / Foto: PZ/Stephan Spitzer
2020 startete das European Human Exposom-Network (www.humanexposome.eu), das den Einfluss verschiedener Umweltfaktoren auf die Gesundheit der Europäer erforscht. So werden beispielsweise mehr als 22 Millionen Arbeitnehmer begleitet und es wird untersucht, welchen Einflüssen sie am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, wobei der Schwerpunkt auf chemischen Toxinen, Lärm und psychosozialen Belastungen liegt.
Nach Einschätzung von Experten werden in 10 bis 15 Jahren die durch den Klimawandel bedingten Risiken für das Herz-Kreislauf-System den Anteil von Bluthochdruck oder erhöhten Lipidspiegeln an der Risikoerhöhung übertreffen.
Hannelore Gießen studierte Pharmazie an der Universität Karlsruhe. Nach mehrjähriger Tätigkeit in öffentlichen Apotheken und einer journalistischen Ausbildung ist sie seit 1990 freiberuflich als Fachjournalistin tätig und bearbeitet medizinische, pharmazeutische und biotechnologische Themen für Fachzeitschriften. Gießen hat sich zur Apothekerin für Allgemeinpharmazie weitergebildet und 2013 den Studiengang Consumer Health Care an der Charité – Universitätsmedizin Berlin absolviert. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit ethischen Aspekten der Bewertung und Kommunikation von Arzneimittelrisiken.