Es gibt keine »Immunitätsschuld« |
Derzeit erkranken auch in Gegenden, in denen es für Kinder nie Maßnahmen zur Pandemieeindämmung gegeben hat, beispielsweise in Schweden oder in US-Bundesstaaten mit konservativer Regierung, überdurchschnittlich viele Kinder schwer an Atemwegsinfektionen. Eine »Immunitätsschuld« im oben diskutierten Sinn kann dafür aber genauso wenig verantwortlich gemacht werden wie die Covid-19-Impfung, denn die meisten dieser Kinder sind nicht gegen Corona geimpft.
Vielmehr wurden durch Maßnahmen wie das Tragen von Masken oder die Kontaktreduzierung Säuglinge und Kleinkinder vor Infektionen geschützt, für die sie in ihrem Alter besonders anfällig sind, darunter RSV und Grippe. So ist zumindest ein Teil der momentanen Infekte auf Nachholeffekte zurückzuführen: Dadurch, dass viele Viren während der Zeit der Maßnahmen weniger stark in der Bevölkerung zirkulierten, infizierten sich Kinder seltener damit, sodass jetzt mehrere Jahrgänge gleichzeitig erkranken.
Der Begriff der »Immunitätsschuld«, der derzeit im Zusammenhang mit den außergewöhnlich vielen Fällen von Atemwegsinfektionen bei Kindern durch die Medien geistert, basiert auf einer falschen Annahme, leitet in die Irre und sollte daher nicht verwendet werden. Denn die Leistungsfähigkeit des Immunsystems ist kein Kontostand, der durch mangelnde Inanspruchnahme weniger wird, bis er schließlich in den roten Zahlen landet. Wenn Kinder sich jetzt mit einer Reihe von Krankheiten infizieren, mit denen sie durch die Abschirmung während der Pandemie nicht in Kontakt gekommen sind, begleichen sie damit keine »Schulden«. Ihr Immunsystem funktioniert in aller Regel gut. Weil sich die Erreger in der Pandemie schlechter ausbreiten konnten und dadurch weniger Kinder als sonst üblich erkrankten, sind es aber jetzt mehr, die potenziell erkranken können – und auch erkranken. Das ist reine Statistik.
Insofern stimmt es zwar, dass die Eindämmungsmaßnahmen während der Pandemie die derzeitige Situation indirekt verursacht haben. Aber eben nicht durch eine »Immunitätsschuld«, sondern durch eine Expositionslücke. Statt die unliebsamen Maßnahmen durch erfundene Phänomene zu kritisieren, sollte man sich eher über die Konsequenzen Gedanken machen, die der Verzicht darauf mit sich bringen kann. Dass derzeit so viele Kinder erkranken, ist eine davon. Eine weitere ist die zunehmend ungehinderte Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung, die stets auch die Gefahr neuer Mutationen mit sich bringt.
Professor Dr. Theo Dingermann, Senior Editor der PZ
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.