Eine Schottin ohne Furcht und Schmerz |
Mutationen, die zu einem Überschuss des Endocannabinoids Anandamid führen, beeinträchtigen die Schmerzwahrnehmung. / Foto: Fotolia/Serg Nvns
Im »British Journal of Anaesthesia« berichten Ärzte um Abdella M. Habib vom University College in London von dem Fall, der nicht nur wegen seiner Kuriosität spannend ist, sondern auch weil er einen möglichen Angriffspunkt zur pharmakologischen Schmerz- und/oder Angsttherapie identifiziert.
Es geht um eine 66-jährige Patientin, bei der zwei Mutationen zusammenkommen: eine bereits bekannte im Gen für die Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH) und eine zuvor unbekannte im Pseudogen FAAH-OUT. Pseudogene sind inaktive Kopien von aktiven Genen. FAAH baut im Körper bioaktive Lipide ab, darunter das Endocannabinoid Anandamid. Von dem im zentralen Nervensystem vorkommenden FAAH-OUT-Pseudogen vermuten die Autoren, dass es an der Kontrolle der FAAH-Transkription beteiligt ist. Beide Mutationen zusammen führen bei der Patientin dazu, dass der Anandamid-Abbau gestört ist und die Konzentration des Endocannabinoids etwa doppelt so hoch ist wie normal.
Was das für Folgen hat, beschreibt die Zeitung »The Guardian«, die bei der mittlerweile 71-jährigen Frau names Jo Cameron zu Besuch war. Cameron habe gebrochene Gliedmaßen, Verletzungen und Verbrennungen, Geburten und zahlreiche Operationen erlebt – und dabei kaum jemals ein Schmerzmittel benötigt. Sie gerate zudem nie in Panik: Als sie bei einem Beinahe-Unfall von der Straße abkam und sich überschlug, kletterte sie aus ihrem im Graben auf dem Dach liegenden Auto heraus und beruhigte als erstes den jungen Fahrer des entgegenkommenden Wagens. Ihre eigenen Verletzungen bemerkte sie erst später.
Dass sie anders ist als die meisten Menschen, habe Cameron erst im Alter von 65 Jahren realisiert, als ihre Hüfte geröntgt wurde. Diese hatte zuvor immer wieder nachgegeben, sodass sie teilweise schief gelaufen war. Drei oder vier Jahre lang hatten die Ärzte sie jedoch immer wieder nach Hause geschickt, weil sie keine Schmerzen hatte. Als das Röntgenbild eine massive Gelenkzerstörung zeigte, konnten die Ärzte das kaum glauben. Cameron erhielt einen Hüftgelenkersatz – und brauchte zur postoperativen Schmerzlinderung lediglich 2 g Paracetamol an den ersten beiden Tagen.
Nachdem die Patientin auch eine extrem schmerzhafte Handoperation nahezu beschwerdefrei überstanden hatte, wurde sie zur weiteren Beurteilung nach London verwiesen. Die dortigen, jetzt veröffentlichten Befunde erklären auch weitere Sonderbarkeiten ihrer Biografie, denen Cameron selbst bis dato keine Bedeutung zugemessen hatte. Etwa dass sie sich als Achtjährige den Arm gebrochen hatte und tagelang niemandem davon erzählte, bis der Knochen anfing, schief zusammenzuwachsen. Oder dass sie extrem scharfe Chilischoten essen kann und dabei nur ein »angenehmes Glühen« im Mund verspürt. Oder dass sie sich öfters schon am Ofen verbrannt hat, das aber erst am Geruch bemerkte.
»Ich fand das alles ziemlich lustig, als ich es erfuhr«, so Cameron gegenüber dem Guardian. Sie hofft, dass die Erkenntnisse, die die Forschung aus der Analyse ihrer Gene gewonnen hat, dazu beitragen können, anderen Menschen die Einnahme von Analgetika zu ersparen und »natürlichere Wege der Schmerzlingerung« zu finden.