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Dysphagie

Diskriminierend bis lebensgefährlich

Schlucken kann doch jeder. Wirklich? Etwa 8 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Schluckstörungen. Patienten mit schwerer Dysphagie leben oft sehr zurückgezogen, denn sie können nicht essen und trinken. Wenn Speichel oder Nahrung in die Lunge fließen, kann dies lebensbedrohlich sein.
Brigitte M. Gensthaler
18.04.2019  14:00 Uhr

Schlucken ist ein hoch komplexer Vorgang, der im Hirnstamm innerhalb von Bruchteilen von Sekunden geregelt wird. 50 Muskeln sind daran beteiligt. »Normalerweise schluckt man 600 bis 2000 Mal pro Tag«, erklärte Mirko Hiller, Leiter der Schlucksprechstunde im Helios-Klinikum Aue, beim Fortbildungskongress des Sächsischen Apothekertags in Chemnitz. Da dieser Vorgang lebenswichtig ist, funktioniert er vom ersten Lebenstag an und idealerweise bis zum Tod.

Allerdings leiden in Deutschland etwa 7 bis 10 Prozent der Gesamtbevölkerung und 16 bis 22 Prozent aller Menschen über 55 Jahren an einer Schluckstörung (Dysphagie). Dies betrifft nicht nur Personen mit Hirnstamm-Infarkt. Etwa die Hälfte der Schlaganfall-Patienten habe in der Akutphase Schluckstörungen, erklärte der Arzt. Gleich hoch sei der Anteil bei Parkinson-Patienten. Bei Multipler Sklerose seien etwa 30 bis 40 Prozent betroffen, bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) im Verlauf fast alle Patienten. Laut Hiller hängen etwa 60 Prozent der Todesfälle in Pflegeheimen mit chronischen oder Bolus-Aspirationen zusammen.

Unter einer Aspiration versteht man das Eindringen von Speichel, Nahrung oder Fremdkörpern in die Luftwege unterhalb der Glottis; das ist der Teil des Kehlkopfs, der den Stimmapparat bildet. Von Penetration spricht man, wenn Nahrung oder Speichel in den Kehlkopfeingangsbereich, aber nicht über die Glottisebene gelangen.

Husten ist ein physiologischer Abwehrreflex bei Verschlucken. »Aber etwa 50 Prozent der Patienten, die aspirieren, husten nicht«, warnte Hiller. Logopäden trainieren mit den Patienten daher nicht nur das Schlucken, sondern auch das Husten.

Sozial isoliert

Eine Dysphagie kann schwere Komplikationen nach sich ziehen, betonte der Experte. Es kommt zu Mangelernährung und Gewichtsverlust, oft zu Flüssigkeitsmangel oder Dehydratation bis hin zum Delir, zu Bronchitis und (Aspirations-)Pneumonie sowie zu Atemnot, Atemstillstand und Bewusstlosigkeit (Asphyxie). »Doch oft ist es die soziale Isolation, die für die Patienten am schwersten zu ertragen ist.«

Hiller plädierte nachdrücklich für eine interdisziplinäre Diagnostik und Therapie und sagte: »Essen bei Verdacht auf Schluckstörung ist wie Laufen bei Verdacht auf Knochenbruch.« Es sei unbedingt nötig, dass Pflegekräfte eine Schluckstörung erkennen können. Im multiprofessionellen Versorgungs-Netzwerk für Patienten mit (Verdacht auf) Dysphagie müssten neben Fachärzten auch Pflegekräfte und Apotheker mitwirken. Unerlässlich sei ein Überleitungs- und Entlassmanagement, wenn die Patienten aus dem Krankenhaus nach Hause oder in ein Heim kommen. Apotheker können mit pharmazeutischem Knowhow dazu beitragen, die Arzneimitteleinnahme für Patienten mit Dysphagie zu erleichtern.

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