»Die haben früher dasselbe gemacht« |
Ulrike Abel-Wanek |
09.05.2020 12:00 Uhr |
Blick auf die »Alte Anatomie« des Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt. / Foto: Monika Weber
PZ: Sie leiten das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingolstadt, das wie andere Kulturstätten zurzeit geschlossen ist. Wie halten Sie trotzdem den Kontakt zu Ihren Besuchern?
Ruisinger: Seit der Museumsschließung präsentieren wir unter dem Stichwort »Galerie Covid-19 & History« jeden Tag kleine Geschichten zum Thema Seuchen auf unserer Website. Die posten wir auch auf Facebook und Instagram, und die Resonanz ist sehr positiv. Das Phänomen Seuche hat Geschichte, nur ging es früher nicht um Covid-19, sondern um Pest, Pocken, Cholera, Grippe oder Kinderlähmung.
PZ: Es gibt ja zurzeit kein anderes Thema als die Coronavirus-Pandemie. Wollen die Menschen dann noch etwas über frühere Seuchen lesen?
Ruisinger: Wichtig in solchen Zeiten ist auch die Ablenkung, und dass man nicht immer wieder die gleichen Dinge zum Thema hört. Das ist die Stärke unserer »Galerie«. Hier sagen wir zwar etwas zu Seuchen, das ist auch unser Auftrag als Medizinhistorisches Museum, aber unsere Geschichten präsentieren immer wieder etwas Neues und Überraschendes.
Hinzu kommt: Die Menschen merken, dass es trotz der Errungenschaften der modernen Medizin und des technischen Wissens nicht leicht ist, eine Seuche wie durch SARS-CoV-2 in den Griff zu bekommen. Diese Erfahrung scheint die Bereitschaft zu vergrößern, mit einer Art von solidarischem Gefühl in die Geschichte zu blicken und sich hineinzuversetzen in die damaligen Epochen. Interessant ist, dass die Menschen früher im Großen und Ganzen dasselbe gemacht haben im Umgang mit Seuchen wie wir heute.
PZ: Hinsichtlich der Ursachen von Infektionen tappte man vor Entdeckung vieler Krankheitserreger aber doch lange im Dunkeln.
Medizinhistorikerin Professor Dr. Marion Ruisinger / Foto: Christopher Beschnitt
Ruisinger: Die Frage nach dem Ursprung und dem Wesen einer Krankheit wurde natürlich zu jeder Zeit anders beantwortet. Das hing einerseits vom jeweils gültigen medizinischen Konzept ab, andererseits auch von Ängsten in der Gesellschaft und von der Deutungsmacht der Kirche. Auf der Suche nach Hilfe haben sich aber auch unsere Vorfahren an die Wissenschaftler ihrer Zeit gewandt und sich auf dem Stand ihrer Zeit Maßnahmen überlegt, die den heutigen ähnlich sind. Den Aufruf zur sozialen Distanz, das Anlegen von Schutzkleidung, die Pflicht zur Quarantäne und die Kontrolle der Obrigkeit über die Bevölkerungsbewegungen gab es schon vor Hunderten von Jahren. Berühmt wurde der sogenannte Pest-Cordon, eine fast 2000 Kilometer lange Grenze zwischen dem Habsburger und dem Osmanischen Reich, wo die Pest bis ins 19. Jahrhundert hinein endemisch war. Personen, die vom Balkan aus ins Habsburger Reich passieren wollten, mussten dort mindestens 21 Tage in Quarantäne bleiben. Reisende aus seuchenfreien Gebieten oder solche, die die Quarantäne überstanden hatten, konnten sich durch sogenannte Sanitätspässe ausweisen und weiterreisen. Also ähnlich den jetzigen Reisebestimmungen in Europa.
PZ: Gab es früher schon so etwas wie Hotspots, über die sich Seuchen maßgeblich ausbreiteten?
Ruisinger: Der große Pestzug im 14. Jahrhundert, der sehr gut erforscht ist, nahm seinen Anfang in Genua und Marseille und breitete sich von dort bis nach Skandinavien aus. Hotspots waren immer die Handelswege und -städte sowie die großen Flüsse wie beispielsweise Rhein und Rhône. Die Regionen, die eher abseits lagen, waren anfangs weniger betroffen. Innerhalb von vier bis fünf Jahren hat sich die Pest aber mit den bekannten verheerenden Folgen und rund 25 Millionen Todesopfern über ganz Europa ausgebreitet. Danach tauchte sie vereinzelt immer mal wieder in Städten auf.
Wenn im 15./16. Jahrhundert in Nürnberg ein Bürger 60 oder 70 Jahre alt wurde, hatte er in seinem Leben zwei bis dreimal einen Pestausbruch erlebt. Damit musste man sich arrangieren. Das Gesundheitswesen hat darauf reagiert und spezielle Pestärzte verpflichtet, die sich in Seuchenzeiten um die Erkrankten kümmerten. Pesthäuser außerhalb der Stadt wurden errichtet und nur geöffnet, wenn die Seuche wieder ausgebrochen war.
Das sogenannte Collegium Medicum stand als Ärzte-Gremium dem Rat der Stadt beratend zur Seite, wenn wegen der Ansteckungsgefahr Feste, Hochzeiten oder Beerdigungen nicht mehr wie gewohnt stattfinden konnten und entsprechende Verordnungen erlassen werden mussten. Das geschah notfalls auch gegen die Kirche, die schon einmal aufbegehrte, wenn Prozessionen untersagt wurden. Für die Gläubigen war die Krankheit eine Strafe Gottes, und unter anderem mithilfe der Prozessionen wollte man den göttlichen Willen umstimmen. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass sich über die Jahrhunderte ein Leben mit der Seuche eingespielt hat und man lernte, damit umzugehen.
PZ: Wie hielten es die Menschen früher mit Präventionsmaßnahmen? Und wie wurden diese dann kontrolliert?
Ruisinger: Es ist ein Kennzeichen der Frühen Neuzeit, dass viele Verordnungen zwar erlassen, aber nicht immer nach den Buchstaben des Gesetzes umgesetzt wurden. Damals gab es mehr Spielraum, Vorgaben zu umgehen, als heute.
Später, etwa um 1900, gab es dann richtiggehende Umerziehungskampagnen. Ein wichtiges Ziel war, Menschen zu motivieren, nicht mehr auf den Boden zu spucken. Zu der Zeit war die Tuberkulose Todesursache Nummer eins in Deutschland. Der Übertragungsweg war Dank Robert Koch zwar bekannt, aber es gab noch kein wirksames Medikament gegen die Tuberkelbazillen. Tuberkulosekranken wurde damals beigebracht, ihren Auswurf in eigens dafür entwickelten Spuckflaschen zu verwahren, dem »Blauen Heinrich«.
Um die ganze Bevölkerung zu erreichen, zog man über die Dörfer, zeigt die Zusammenhänge von infektiösem Sputum und der Krankheit auf und sparte dabei nicht mit drastischen Bildern. Im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden wurden dafür Diaserien produziert.
Bis heute haben wir als Bevölkerungskollektiv verinnerlicht, dass man nicht auf die Straße spuckt. Etwas Ähnliches erlebten wir vor ein paar Wochen zu Beginn der Corona-Krise wieder, als uns medial das richtige Husten in die Armbeuge als Hygienemaßname nahegebracht wurde. Viele Menschen – nicht nur ich – haben als Kinder noch gelernt, dass man in die Hand hustet. Und jetzt werden wir gerade umerzogen zum Maskentragen. Die soziale Kontrolle spielt bei Umsetzung dieser Sensibilisierungsmaßnahmen eine wesentliche Rolle.
PZ: Die Maske als Teil von Schutzkleidung ist zurzeit ein zentrales Thema. Welchen Platz hat oder bekommt sie in Ihrem Museum?
»Schnabelhaube« zum Schutz vor Ansteckung / Foto: DMMI
Ruisinger: Der Pestarzt mit der Schnabelmaske ist das Symbol der Pest schlechthin. Auch wir haben eine Schnabelhaube in unserer Sammlung, und sie ist eins der beliebtesten Exponate in unserem Haus. Aus Forschersicht wirft die Schnabelmaske aber Fragen auf. Denn sie spielte wissenschaftlichen Quellen zufolge die längste Zeit überhaupt keine Rolle im Seuchengeschehen. Sie taucht erst im 17. Jahrhundert auf, und auch nur in Italien und Südfrankreich. Für Mitteleuropa gibt es keinen einzigen historischen Beleg dafür, dass Pestärzte ihre Schutzkleidung jemals durch einen »Lederschnabel« ergänzt hätten.1
Grundsätzlich brachte man Masken bisher mit bestimmten Situationen in Handwerk und Medizin in Verbindung. Hier standen sie im Kontext des sterilen Arbeitens und waren ein Wegwerfprodukt. Jetzt bekommt die Maske eine breite, gesellschaftliche Bedeutung, wird selber genäht und nach alten Methoden zu Hause ausgekocht, in heiße Backöfen gelegt und wiederverwendet.
Diese Entwicklung eines genuin medizinischen Objekts finde ich interessant. Im Moment denken wir zwar noch nicht konkret über eine Ausstellung nach, aber wenn es so weit ist, wird die Maske eine zentrale Rolle spielen. Das können selbstgenähte Masken für die Tafel sein, aber auch die Rautenmaske von Herrn Söder, die er zurzeit überall herumzeigt.
Für uns Museumsleute kommt vor der Präsentation aber das Sammeln, das Forschen und die Analyse – vor allem aber das Schaffen einer Quellenbasis, um später auch Forschungsfragen beantworten zu können.2 Es wird bei uns in Ingolstadt, wie in anderen historischen Museen auch, eine Dokumentation über Covid-19 geben. Aber kurzfristig wünschen wir uns alle erstmal wieder mehr Normalität. Mein Tipp: Wo man in frischer Luft ohne Gefahr eine gute Zeit verbringen kann, ist unser Arzneipflanzengarten, den wir hoffentlich bald wieder öffnen werden.
1) Marion Maria Ruisinger: Fact or Fiction? Ein kritischer Blick auf den »Schnabeldoktor«. In: LWL-Museum für Archäologie (Hg.): Pest! Eine Spurensuche. Darmstadt 2019, S. 267-274
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.