Der Abhängigkeit zuvorkommen |
Die Psychologie geht von einer frühen Beziehungsstörung als Wegbereiter einer Abhängigkeit aus. Die Erfahrungen der ersten beiden Lebensjahre werden im Unbewussten gespeichert. Verbal können sie nicht abgerufen werden, doch sie prägen das Gesamtklima der Kindheit und tönen die Grundstimmung oft ein Leben lang.
Trägt ein junger Mensch ein frühes Trauma durch viele kleine Verletzungen mit sich, versucht er als Erwachsener, die in ihm liegenden Defizite zu kompensieren. Das Abgleiten in eine Abhängigkeit kann so als ein unbewusster Selbstheilungsversuch verstanden werden. Welches Suchtmittel gewählt wird, hängt vermutlich auch davon ab, welche Grundgefühle gestört sind. Wer Narkotika einnimmt, versucht, Angst und Wut zu dämpfen, Stimulanzien sollen Verzweiflung und Traurigkeit vertreiben. In Alkohol werden Schuld, Scham und Einsamkeit ertränkt.
Experimentell ist dieser Zusammenhang aber noch nicht gesichert. Wahrscheinlich sind die Beziehungen zwischen seelischen Defiziten und Suchtstoff viel komplizierter.
An der genetischen Komponente einer Abhängigkeitsstörung gibt es keinen Zweifel. Das Risiko, ebenfalls abhängig zu werden, ist bei Kindern von Alkoholabhängigen viermal so groß wie bei Kindern, die nicht aus einer alkoholkranken Familie kommen. Adoptionsstudien zeigten, dass dies nicht nur ein erlerntes Verhalten ist. Auch Kinder alkoholkranker Eltern, die in anderen Familien aufwachsen, entwickeln überdurchschnittlich oft eine Abhängigkeit.
Kinder von Alkoholabhängigen haben ein vierfach höheres Risiko, ebenfalls abhängig zu werden, als Kinder aus einer nicht alkoholkranken Familie. / Foto: Adobe Stock/pressmaster
Ein »Trinker-Gen« gibt es nicht. Mehrere Gene liegen in einer besonderen, das Risiko erhöhenden Variante vor oder werden durch Gen-Gen- oder Gen-Umwelt-Interaktionen mehr oder weniger stark exprimiert und prägen so das Verhalten.
Etliche Genvarianten wurden bereits identifiziert, die bei Patienten mit einer Abhängigkeitsstörung überdurchschnittlich häufig vorkommen. Das sind beispielsweise Gene, die für Dopamin-Rezeptoren codieren. Doch da der genetische Anteil am Risikoprofil auf dem Zusammenspiel von Hunderten oder gar Tausenden von Genen mit der Umwelt beruht, bilden einzelne Genvarianten nur einen geringen Teil des Risikos ab.
Als Folge der veränderten Genexpression ändern sich auch Anzahl und Affinität prä- und postsynaptischer Rezeptoren. Nachgewiesen ist dies beim körpereigenen Opioid-System, das bei Suchtkranken wesentlich weniger Endorphine bildet.
Foto: Adobe Stock/exclusive-design
Alkohol, Cocain oder Nicotin beeinflussen die Hirnphysiologie auf unterschiedlichen Wegen. Am Ende steht ein Dopamin-Signal im Belohnungssystem, das neuronale Lernprozesse in Gang setzt, die sich in Abhängigkeit niederschlagen können. Zunächst wird das Suchtmittel als physischer Stimulus konsumiert. Tritt dann ein angenehmer Effekt auf, entweder als Entspannung, Stimulation oder auch als Gefühl von Kohäsion (Zusammenhalt) innerhalb einer Gruppe, unterstützt dies die Konditionierung. Eine Abhängigkeit entwickelt sich so durch Lernen am Erfolg; man spricht von einer »operanten Konditionierung«.
Hinzu kommt ein »Signal-lernen«, das auf einer klassischen Konditionierung beruht, beispielsweise wenn der unkonditionierte Reiz »Bier« mit einer Bratwurst assoziiert wird. Dann kann die Bratwurst allein als konditionierter Reiz den Wunsch nach einem Bier auslösen.