Der Abhängigkeit zuvorkommen |
Laut dem »Jahrbuch Sucht 2020« der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) sind zwischen 1,5 und 1,9 Millionen Menschen in Deutschland abhängig von Medikamenten, die meisten von Benzodiazepinen. Mehr als eine Million lebt in einer Grauzone des Missbrauchs. Am Anfang steht meist Sorglosigkeit, die zu einer zunächst unbewussten Fehlanwendung führt, sich in anhaltendem Missbrauch fortsetzt und schließlich einer psychischen und physischen Toleranz den Weg bereitet.
Zwei Drittel aller Medikamente mit Suchtpotenzial werden von Frauen eingenommen. Weibliche Sucht hat ein anderes Gesicht als männliche. Während Männer eher durch Versagensängste oder bei dem Bestreben, aggressive Impulse unter Kontrolle zu bringen, in eine Abhängigkeit geraten, setzt das »Immer-funktionieren-müssen« viele Frauen unter Druck. Sie fühlen sich oft besonders verantwortlich für soziale Beziehungen in der Familie, aber auch im Beruf.
Weitaus am häufigsten sind es Benzodiazepine, von denen Menschen abhängig werden. Derzeit erfüllen etwa 1,2 Millionen die Kriterien einer Abhängigkeit von dieser Substanzklasse, überwiegend Frauen.
Nach wie vor zählen Benzodiazepine zu den am häufigsten eingesetzten Psychopharmaka. Da sie kaum toxisch wirken, werden sie als Antiepileptika, Hypnotika und Anxiolytika, aber auch in der Behandlung eines Entzugs oder Delirs angewandt (siehe Titelbeitrag in PZ 45/2019).
Obwohl Benzodiazepine als Beruhigungs- und Schlafmittel nur kurzfristig gegeben werden sollten, nehmen manche Patienten die Medikamente oft lange ein, meist allerdings, ohne die Dosis zu steigern. Bereits nach vier bis acht Wochen kann sich eine »Low-Dose-Abhängigkeit« entwickeln. Neben den klassischen Benzodiazepinen sind es auch die sogenannten Z-Substanzen, die zur Abhängigkeit führen können.
Benzodiazepine als langjährige Begleiter: Viele ältere Menschen haben eine Low-Dose-Abhängigkeit entwickelt. / Foto: Shutterstock/Matt Antonino
»Einer schleichend beginnenden Abhängigkeit entgegenzuwirken, erfordert von den Angehörigen der Heilberufe Wachsamkeit und Fingerspitzengefühl«, erklärt Apotheker Dr. Ernst Pallenbach im Gespräch mit der PZ. Der Vorsitzende des Arbeitskreises Sucht der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg und Beauftragte für Suchtprävention appelliert an die Apotheker, zunächst den Nutzen der Medikamente in den Vordergrund zu stellen. Erst danach sollten die Risiken erläutert und gezielte Ratschläge gegeben werden.
Pallenbach riet zu einer schleichenden Dosisreduktion, die dem Patienten in Zusammenarbeit mit dem verantwortlichen Arzt vermittelt werden soll. Es sei wichtig, den Patienten zu beraten, ohne Angst zu schüren und Misstrauen gegenüber dem behandelnden Arzt zu sähen, hob der Apotheker hervor.
Apothekenpflichtige Antihistaminika wie Doxylaminsuccinat und Diphenhydramin werden in der Selbstmedikation häufig nachgefragt. Doch auch hier sind Missbrauch und Abhängigkeit beschrieben. Hier könnte sich die Lage bald ändern, denn der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht hat sich im Januar 2020 dafür ausgesprochen, Diphenhydramin und Doxylamin zur Behandlung von Schlafstörungen bei Senioren ab dem 65. Lebensjahr der Verschreibungspflicht zu unterstellen.
»Apotheker sind nach der Apothekenbetriebsordnung verpflichtet, bei einem begründeten Verdacht auf Missbrauch eines Medikaments die Abgabe zu verweigern«, mahnt Pallenbach.