Corona verschlimmert die Armut – Arzneimittel werden knapp |
Daniela Hüttemann |
04.12.2020 18:00 Uhr |
Dr. Carina Vetye und ihr Team setzen alles daran, die benötigten Medikamente für ihre Patienten zu beschaffen. Die Ausstattung ist zum Teil rudimentär. / Foto: Foto: Apotheker ohne Grenzen
PZ: Dr. Vetye, wie ist die gesundheitliche Versorgung in Argentinien?
Vetye: Das Land ist mal wieder so gerade an einer Staatspleite vorbeigeschrammt, die Inflation steigt weiter und die Armutsrate liegt fast bei 50 Prozent. Staatliche Hilfen fallen aus, das merken wir auch an den Arzneimittellieferungen. Ich arbeite jetzt seit rund 20 Jahren in Argentinien und seit 13 im Gesundheitszentrum von Villa Zagala in Buenos Aires und zum ersten Mal hatten wir nicht genug Insulin für unsere Diabetiker. Das gleiche Problem hatten wir auch mit Medikamenten gegen Epilepsie. AoG und die Stadtverwaltung sind hier eingesprungen, sodass wir Lücken in der Arzneimittelversorgung schließen konnten. Da hat sich wirklich gezeigt, dass auch Apotheker Leben retten.
PZ: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf das Leben in den Armenvierteln ausgewirkt?
Vetye: Die Gesundheit vieler Slum-Bewohner ist sowieso bereits angeknackst, allein durch die prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen. In unserem Viertel gab es wohl eine Infektionswelle, doch wurde kaum getestet, sodass wir keine konkreten Zahlen haben. Da hier viele junge Menschen wohnen und die Alten sich so gut es ging isoliert haben, sind wir noch glimpflich davongekommen. Doch durch das Alleinsein und die mangelnde Bewegung hat sich bei vielen der Gesundheitszustand weiter verschlechtert, wie wir jetzt merken.
Wegen des harten Lockdowns steckten auch viele wochenlang in fremden Vierteln fest. Menschen, die im sogenannten informellen Sektor ihr Geld verdienen, zum Beispiel bei den Reichen putzen oder einen Straßenstand haben, bekommen keinen Passierschein. Wir hatten eine 30-Jährige mit rheumatoider Arthritis, die bei Bekannten unterkommen musste und hier eigentlich keinen Anspruch auf Versorgung hat. Wir haben ihr trotzdem ein bis zwei Monate mit Medikamenten ausgeholfen, damit sie nicht unter starken Schmerzen leiden musste.
Nicht zu vergessen: Seit März sind die Schulen dauerhaft geschlossen. Dabei haben die Kinder hier oft keine Chance, am Online-Unterricht teilzunehmen. Bei nur einem Handy in der Familie und vielleicht vier Kindern, die damit Schulaufgaben machen sollen, ist Lernen nicht wirklich möglich. Das wird sich auch auf ihre psychische Gesundheit auswirken und verbaut ihnen Zukunftschancen.
PZ: Was hat sich im Ablauf im Gesundheitszentrum geändert?
Vetye: Wir mussten viel Aufklärungsarbeit bei den Patienten leisten. Unsere Arzneimittelausgabe erfolgt sowieso über ein Fenster zur Gasse hinaus. Da mussten die Leute nur mehr Abstand halten. Unser Wartezimmer hatten wir zeitweise geschlossen, sodass die Patienten draußen warten mussten, auch wenn hier gerade Winter war. An der Tür haben wir eine Triage durchgeführt und viele mit Fragen zu Corona kamen zu uns an den Apothekenschalter.
Im Apothekenraum, der nur 14 Quadratmeter groß ist, hatten wir die ganze Zeit das Fenster auf und einen kleinen Halogenheizer an den Füßen. Über einheimische Apotheken haben wir wenigstens genügend Masken und Visiere kaufen können und auch von der deutschen Botschaft gab es Unterstützung für die Schutzausrüstung, trotzdem hat sich leider ein Fünftel des Teams im Gesundheitszentrum infiziert.
Ein großes Problem war und ist, dass unsere älteren ehrenamtlichen pharmazeutischen Mitarbeiterinnen seit Pandemiebeginn nicht mehr kommen können. Außer mir als Apothekerin haben wir derzeit nur noch zwei geschulte Laienmitarbeiter für die Arzneimittelausgabe, damit die Ärzte nicht noch dispensieren müssen.
PZ: Sie haben sieben Monate durchgearbeitet und fliegen nach rund einmonatiger Verschnaufpause Anfang Dezember wieder nach Buenos Aires. Wie wird es weitergehen?
Vetye: Lokales pharmazeutisches Personal werden wir nie ausreichend haben, denn im Slum will keiner arbeiten. Daher entwickle ich derzeit einfaches Schulungsmaterial für Laienhelfer, um typische Missverständnisse bei der Abgabe zu vermeiden, zum Beispiel, dass mit »Methotrexat 10/Woche« nur einmal 10 Milligramm Methotrexat pro Woche auf dem Rezept gemeint ist und nicht 10 Tabletten pro Woche. Auch sind hier in Argentinien die Packungsbeilagen noch deutlich unverständlicher als in Deutschland. Für wichtige Indikationen will ich selbst Informationsmaterial erarbeiten, das wir auch anderen Gesundheitszentren zur Verfügung stellen wollen, denn im Grunde bekommen wir vom Staat alle das gleiche Standardsortiment an Medikamenten.
Und zur Corona-Situation: Zwar ist der Winter in Argentinien nun vorbei, doch ich glaube nicht, dass sich die Lage bald entspannt, allein schon durch die zunehmende Verarmung. In Brasilien sind die Corona-Infektionszahlen weiter hoch und da Argentinien Devisen braucht, wird es wohl die Grenzen bald wieder für Touristen aus dem Nachbarland öffnen. Dann werden wir eine neue Welle bekommen.
PZ: Welche Rolle spielen Hilfsorganisationen wie AoG und Spendengelder?
Vetye: Es sind üble Zeiten, deshalb müssen wir gerade jetzt als Hilfsorganisation so gut wir können für die Menschen da sein. Da der Staat sich weiter zurückzieht, sind wir zunehmend auf Spenden angewiesen. Unser Team gibt hier jeden Tag sein Bestes. Wir sind sehr dankbar, dass AoG so schnell ungeplante Mittel für Arzneimittel und Überstunden des Personals freigeben konnte. Es war ein wahnsinnig anstrengendes Jahr, aber durch die Unterstützung von AoG haben wir auch viel erreicht.
Für die Menschen hier bleibt die Perspektive jedoch düster. Zwar funktioniert noch die Versorgung mit Lebensmitteln durch Suppenküchen, aber um die Arzneimittelversorgung kümmert sich sonst keiner. Hier wollen wir weiter eine zuverlässige Anlaufstelle für unsere Patienten sein, auch um Verschlechterungen bei ihrer Gesundheit wie Fußamputationen bei Diabetikern zu verhindern. Schließlich erklären wir immer, wie wichtig die regelmäßige Anwendung der Medikamente ist. Neben der materiellen Unterstützung möchten wir vor allem unsere pharmazeutischen Kenntnisse und den Respekt vor dem Arzneimittel an mehr Laienhelfer weitergeben.
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