Corona befeuert Alternativen zu Tierversuchen |
Im Ziel sind sich alle Forscher einig: Wo immer möglich, sollten andere Verfahren Tierversuche ersetzen. / Foto: Getty Images/seksan Mongkhonkhamsao
So lassen sich Versuche mit Lungen- oder Darmgewebe auf speziellen Chips vornehmen, wie der Neurobiologe Roman Stilling von «Tierversuche verstehen», einer Informationsinitiative der Wissenschaft, erläutert. «Mit diesen Instrumenten wurden und werden schon wichtige Erkenntnisse gewonnen – doch sie können das Immunsystem eines Gesamtorganismus derzeit noch nicht vollständig ersetzen», sagt Stilling anlässlich des Internationalen Tags des Versuchstiers am 24. April.
Auch Dilyana Filipova, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Vereins Ärzte gegen Tierversuche, meint, Corona zeige, wie wirkungsvoll alternative Methoden sein können. Die Forscher hätten mit den aus menschlichen Zellen entwickelten, organähnlichen, dreidimensionalen Modellen ein geeignetes Mittel für Experimente in der Hand, erläutert die Biologin. Solche Organoide gebe es bereits von etwa zehn Organen von der Lunge über das Herz bis zu den Nieren. Sie könnten mit dem Coronavirus infiziert und dann hinsichtlich ihrer Immunantwort untersucht werden. Zudem könne mittels Computer die Verträglichkeit eines neuen Wirkstoffs im Vergleich mit bereits existierenden besser als im Tierversuch festgestellt werden.
Noch sind Tierversuche aber nicht obsolet. Niemand mache solche Versuche gerne, aber im Kampf gegen schwere Krankheiten seien sie bislang unverzichtbar, sagt Neurobiologie Stilling. «Tierversuche dürfen ja nur dann durchgeführt werden, wenn es keine Alternative gibt, um eine Forschungsfrage zu beantworten.» Jeder Versuch muss einen behördlichen Genehmigungsprozess durchlaufen. Doch der allergrößte Teil der medizinischen Forschung, auch bei Corona, finde ohnehin schon mit Zellkulturen oder im Reagenzglas statt, sagt Stilling.
Filipova bedauert, dass das staatliche Fördersystem diesen Trend nicht ausreichend unterstütze. «Die Entwicklung tierversuchsfreier Forschung wird mit 1 Prozent aller Gelder abgespeist.» Dem pflichtet die baden-württembergische Tierschutzbeauftragte Julia Stubenbord bei. Bei der Verteilung der Fördergelder liege fast ausschließlich die Forschung mit Tierversuchen im Blick. Doch auch die Entwicklung alternativer Methoden benötige Geräte, Material und Personal. «Es gibt viele gute Ansätze, die auf der Strecke bleiben, weil sie mangels Finanzierung nicht mehr weitergeführt werden.» Bei den Pharmafirmen gehe der Trend aus Kostengründen zu Alternativmethoden. «Eine einzige Maus-Mutante kann schon mal mehrere Hundert Euro kosten», erklärt Stubenbord.
Die Universitäten hielten hingegen an Tierexperimenten fest. Das habe etwa der Protest von Dekanen gegen eine Änderung im Landeshochschulgesetz gezeigt, die das Aus fürs Sezieren von Tieren als Teil der Ausbildung von Biologen, Pharmakologen und Tiermedizinern bedeutet. «Das ist auch ein Generationenproblem», findet Stubenbord.
Insgesamt wurden 2019 laut Bundeslandwirtschaftsministerium zwei Millionen Wirbeltiere und Kopffüßer (dazu gehören zum Beispiel Kraken) in Tierversuchen eingesetzt. Deren Schweregrad wird in 65 Prozent der Fälle als gering eingestuft – etwa bei einer Blutabnahme. Der Anteil an Experimenten mit schwerer Belastung lag bei 5 Prozent. Darunter fallen etwa Lungenuntersuchungen mit maschineller Beatmung. Die Gesamtzahl der verwendeten Affen und Halbaffen lag 2019 deutschlandweit mit 3276 auf Vorjahresniveau. Menschenaffen werden in Deutschland seit 1992 nicht mehr verwendet.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.