Brennbares Gold aus dem Meer |
Glasstandgefäß mit weißem Bernstein und Bernsteinkette, 18. Jahrhundert (Inv.-Nr. II A 0299, I A 0745) / Foto: Deutsches ApothekenMuseum
Karabe, succinum, elektrum, Ambra, Ligurius, Agtstein, Luchsstein: Bernstein hat viele Namen. Ebenso vielfältig sind die Verwechslungen mit anderen Substanzen, zum Beispiel mit dem ebenfalls brennbaren, aber aus fossilem Holz bestehenden Gagat, dem ebenso goldfarbenen Chrysolith und vor allem mit Ambra grisea, der Ausscheidung des Pottwals. Diese beiden Substanzen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, haben ein ähnlich krustig-bräunliches Aussehen und werden aus dem Meer gefischt oder aus dem Meer an Land gespült.
Was den Bernstein in früheren Jahrhunderten so besonders machte, waren seine geheimnisvolle Herkunft, seine leuchtende, dem Gold vergleichbare Farbe, sein hybrides Wesen – weder »normales« Harz noch »richtiger« Stein – und insbesondere seine elektrostatischen Eigenschaften, die auf außergewöhnliche Kräfte schließen ließen. Auf Letztere verweist auch die in der arabistischen Rezeptliteratur verwendete Bezeichnung »karabe« für Bernstein; auf Persisch bedeutet das wörtlich »Strohzieher«.
Zur Herkunft und Entstehung des Bernsteins gab es bereits in der Antike diverse Quellen und entsprechend viele »Theorien«. Eine Zusammenfassung ist in der »Naturgeschichte« Plinius’ des Älteren (23/24 bis 79 nach Christus) zu lesen. Plinius selber vertritt die aus heutiger Perspektive nicht ganz falsche Ansicht, der Bernstein stamme von nordeuropäischen Inseln und werde aus dem Harz dort vorkommender Fichtenarten gebildet. Das Harz fließe ins Meer, erhärte dort und werde von der Strömung wieder an den Strand gespült.
In gewissenhafter enzyklopädischer Manier referiert Plinius aber nicht nur die naturkundlich nachvollziehbare Herleitung, sondern auch, »was die Schriftsteller von dem Bernstein gelogen haben«. Zwei Ideen zur Entstehung des Bernsteins erwiesen sich dabei für die Rezeptionsgeschichte als besonders bedeutend; die erste wurzelt sogar in der griechischen Mythologie.
Bernsteinpastillus nach Mesue im Dispensatorium des Valerius Cordus, Nürnberg 1546, Faksimile / Foto: Deutsches ApothekenMuseum
Als nämlich der Halbgott Phaeton, Sohn des Sonnengottes Helios, auf seiner außer Rand und Band geratenen Fahrt mit dem Sonnenwagen vom Blitz erschlagen wurde, weinten seine Schwestern über seinen Tod so sehr, dass sie sich in (Schwarz-)Pappeln am Fluss Eridanus (den die Römer mit dem Po identifizierten) verwandelten und das tränengleich weiter an ihnen herabfließende Harz im Fluss zu Bernstein wurde. Die zweite Herleitung ist nicht mythologischen Ursprungs, aber nicht minder kurios: Der Bernstein heiße Lyngurion, Luchsstein, weil er aus dem im Sand vergrabenen erhärteten Urinstrahl des Luchses entstehe.
In der für die Pharmaziegeschichte so bedeutsamen »Materia medica in quinque libris« des Pedanios Dioskurides, die 68 nach Christus zeitgleich mit Plinius’ Naturgeschichte abgeschlossen wurde – Plinius und Dioskurides waren Zeitgenossen –, wird der Bernstein als Arzneidroge an zwei Stellen genannt. Als Lyngurion wird er folgerichtig unter den tierischen Exkreten Galle, Blut, Kot und Urin (allerdings mit dem Hinweis, dass das falsch sei und es sich dabei um den »federtragenden« Bernstein handle) eingeordnet und als Harz unter dem Stichwort Schwarzpappel mit den Indikationen Dysenterie und Bauchfluss. Dies wiederum verweist auf den Mythos von Phaeton und seinen Schwestern.
Während die Theorie vom Luchsurin später auch auf andere »Steine« übertragen wurde, hielt sich die Herleitung vom geronnenen Harz der Schwarzpappel bis in die Kräuterbücher der frühen Neuzeit. Erst unter dem kritischen Blick von Humanisten wie Hieronymus Bock begann sie allmählich zu bröckeln.