Brennbares Gold aus dem Meer |
Mit den Indikationen Durchfall, Stärkung des Magens, Harnverhalt, Schwerhörigkeit und Sehschwäche finden sich bei Plinius und Dioskurides bereits wichtige Indikationen für die Bernsteintherapie. Zur Stärkung des Magens empfiehlt Plinius, den Bernstein verrieben mit Mastix einzunehmen.
Die Hauptindikationen, die den Bernstein als Rohdroge und später auch seine chemischen Derivate bis ins 20. Jahrhundert begleiten sollten, sind jedoch Atemwegserkrankungen und Katarrhe. Diese Indikationen finden sich spätestens bei Galenos von Pergamon – im einzigen Bernsteinrezept, das überhaupt in Galens Werk überliefert ist.
Es handelt sich dabei um das Rezept für einen Pastillus (trochiskos), der neben geschabtem Bernstein und Mastix – wie bei Plinius – Flohsamen, Iris, Safran und Opium enthält. Verschrieben werden sollte der Pastillus bei Bluthusten, chronischem Husten, Schwind-sucht/Tuberkulose, Schluckbeschwerden, Dysenterie, Blähungen und Ohrenkrankheiten. Gegen Bronchial- und Lungenleiden sowie Dysenterie mag die Medikation in erster Linie wegen des Opiums geholfen haben. Die Inhaltsstoffe des Schlafmohnsafts wirken hustenstillend (Codein) und krampflösend (Papaverin), insbesondere im Magen-Darm-Trakt. Durch die Erschlaffung der Darmmuskulatur kommt der Durchfall zum Stillstand.
Sowohl in der griechisch-römischen als auch in der byzantinischen Medizin stellt der Galen’sche Bernstein-Pastillus eine Ausnahme dar. Er wurde in die Werke späterer Galen-Bearbeiter, insbesondere der byzantinischen Ärzte Alexander von Tralleis und Paulos von Aigina, aufgenommen und später ins Arabische übersetzt.
Der Siegeszug des Bernsteins in der Medizin begann erst hier: in der Assimilation griechischer Fachliteratur durch persische und arabische Ärzte im Frühmittelalter. Hier fand eine Diversifizierung der aus der Antike überlieferten Rezepte statt; diese wurden nicht nur übersetzt, sondern auch variiert, neu zusammengestellt und häufig stark erweitert.
Bereits bei Avicenna findet sich ein beachtliches Angebot bernsteinhaltiger Arzneien im 5. Buch des »Canon medicinae«, dem Antidotarium. Ihren Höhepunkt erreichte die mittelalterliche Bernsteinmedizin jedoch erst im sogenannten »Grabadin« des Pseudo-Mesue. Der vermutlich aus Oberitalien stammende Pseudo-Mesue ist nicht zu verwechseln mit dem »echten« syrischen Mesue; er lebte vermutlich im 13. Jahrhundert in Italien.
Holzstandgefäße mit gepulvertem und geraspeltem Bernstein zur Arzneibereitung, 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts (Inv.-Nr. I A 0734, II G 0339) / Foto: Deutsches ApothekenMuseum
Der Grabadin beruhte auf arabischsprachigen Quellen und war das einflussreichste lateinische Rezeptbuch des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Hier findet sich natürlich auch Galens Bernsteinpastillus. Allerdings ist er kaum noch wiederzuerkennen, denn spätestens hier wurde das zunächst recht bescheidene Rezept nach arabistischer Manier kräftig ausgebaut und veredelt. Zu den ursprünglichen sechs Ingredienzen kommen gebranntes Hirschhorn, gebrannte Korallen, Weihrauch, Tragant, Gummi arabicum, Labdanum, Gummi laccae, Granatapfel und Schwarzmohn hinzu. Somit stieg die Anzahl der Inhaltsstoffe um 150 Prozent.
Neben dem Bernsteinpastillus führt der Grabadin zahlreiche weitere Rezepturen mit dem kostbaren Harz auf. Pseudo-Mesue bevorzugt bernsteinhaltige Rezeptvarianten, fügt den Bernstein mancherorts sogar eigenmächtig hinzu und erfindet neue Rezepte, die ebenfalls dieses fossile Harz enthalten. Vorsichtig ausgedrückt, ist bei Pseudo-Mesue eine gewisse Vorliebe für den Bernstein zu beobachten; für die europäische Medizin wurde er damit zum eigentlichen »Superspreader« für Bernsteinpräparate.
Geht man von Plinius’ Naturgeschichte und Zedlers Universallexikon, verfasst knapp 1700 Jahre später, aus, scheint in der italienischen Poebene das Tragen von Bernsteinketten zur Abwehr bestimmter Krankheiten bei lombardischen Frauen eine Tradition gewesen zu sein. Offensichtlich war Oberitalien eine »Bernsteinregion«, in der dieser insbesondere im Brauchtum auf eine Jahrtausende alte Tradition zurückblicken konnte. Vielleicht lässt sich darüber ein Bogen zu Pseudo-Mesues Rezeptbuch schlagen. Hier rückt eine Droge stärker in den Vordergrund, die zwar exotisch anmutet, aber offensichtlich in Oberitalien gut bekannt und weitverbreitet war – und in Oberitalien wird schließlich die Heimat des Pseudo-Mesue vermutet.