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Impfmüdigkeit

Aufklärung statt Impfpflicht

18.12.2006  13:10 Uhr

Impfmüdigkeit

Aufklärung statt Impfpflicht

Von Birgit Masekowitz

 

Impfungen gehören zu den wichtigsten Fortschritten der Medizin. In Deutschland werden sie aus Angst vor Nebenwirkungen aber immer weniger in Anspruch genommen. Daher könnten Infektionskrankheiten Experten zufolge in den nächsten Jahren wieder zunehmen.

 

Erfolgreiches Impfen leistet einen wesentlichen Beitrag, um Infektionskrankheiten einzudämmen oder sogar auszurotten. Beispiele sind hier die Eradikation der Pocken, die Eliminierung der Poliomyelitis in Europa sowie das Zurückdrängen der Diphtherie. Impfen schützt nicht nur den Impfling selbst, sondern auch ungeimpfte Personen, denn das Unterbrechen der Infektionskette hilft, das Risiko von Epidemien zu senken. Heute stehen bereits gegen mehr als 20 Krankheiten Aktiv-Impfstoffe zur Verfügung.

 

Seit dem Jahr 2000 sind eine Reihe von neuen oder verbesserten Vakzinen auf den Markt gekommen und haben zum Teil Eingang in die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) gefunden. Nach der Einführung der Sechsfachimpfung für Säuglinge wurden 2005 die Varizellenimpfung und 2006 neue Konjugatimpfstoffe gegen Pneumokokken und Meningokokken C als allgemein empfohlene Impfungen in den Impfkalender aufgenommen. Im Jahr 2006 wurden gleich drei neue Vakzinen zugelassen. Nun stehen Schutzimpfungen gegen humane Papillomviren (HPV), die für die Entstehung des Zervixkarzinoms verantwortlich sind, gegen Herpes-Zoster-Erkrankungen (Gürtelrose) und gegen Rotaviren, die bei Kindern schwere Brechdurchfälle verursachen, zur Verfügung (siehe Kasten).

Neue Impfstoffe

Impfung gegen HPV

Mehr als 70 Prozent der Gebärmutterhalskrebsfälle in Deutschland lassen sich auf eine Infektion mit humanen Papillomaviren (HPV) zurückführen, die durch Geschlechtsverkehr übertragen werden. Von den mehr als hundert HPV-Typen gelten HPV 16 und HPV 18 als besonders gefährlich. Zwei neu entwickelte Impfstoffe richten sich daher gegen diese Virustypen. Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass sie das Immunsystem auch gegen weitere Typen aktivieren, die HPV 16 und 18 ähneln. Derzeit ist noch nicht absehbar, nach welchem Zeitintervall eine Auffrischimpfung erfolgen muss, um einen zuverlässigen Schutz aufrechtzuerhalten. Der Impfstoff Gardasil® ist seit Oktober in Deutschland verfügbar und kann bei Jungen und Mädchen im Alter von 9 bis 15 Jahren, sowie bei Frauen bis zum Alter von 26 Jahren angewendet werden. Er schützt zusätzlich vor den HPV-Typen 6 und 11, die bei beiden Geschlechtern 90 Prozent der Genitalwarzen verursachen. Für den zweiten Impfstoff, Cervarix, hat der Hersteller in diesem Jahr einen Zulassungsantrag gestellt und rechnet für Mitte 2007 mit der Zulassung für Europa.

 

Impfung gegen Rotaviren

Rotaviren gelten als Hauptverursacher schwerer Brechdurchfälle (Gastroenteritiden) bei Säuglingen und Kleinkindern. In Deutschland sind Rotavirus-bedingte Erkrankungen jedes Jahr der Grund für 25.000 Krankenhauseinweisungen, in Entwicklungsländern sind sie sogar eine häufige Todesursache bei Kindern. Seit 2006 sind mit Rotarix® und Rotateq® zwei Schluckimpfungen gegen die hoch infektiösen Erreger erhältlich.

 

Impfung gegen Gürtelrose

Gürtelrose, beziehungsweise Herpes Zoster, betrifft 20 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Leben. Der Erreger des schmerzhaften Hautausschlages ist das Varizella-zoster-Virus (VZV). Beim Erstkontakt löst es die Windpocken aus und nach dem Abklingen der Symptome bleibt es in den Nerven zurück. Bei einer Reaktivierung des Virus bildet sich eine Gürtelrose aus. Meist sind Menschen über 50 Jahre betroffen, aber auch bei Jüngeren mit geschwächtem Immunsystem kann die Krankheit auftreten. Der Gürtelrose-Impfstoff ZostavaxTM halbiert nach Angaben des Herstellers die Erkrankungshäufigkeit und lindert deutlich zosterbedingte Schmerzen. Er ist seit Mai 2006 in Deutschland zugelassen und soll Anfang 2007 auf den Markt kommen.

Impfmüdigkeit in Deutschland

 

Doch Erfolge beim Zurückdrängen von Infektionskrankheiten können nur durch möglichst hohe Impfraten in der Bevölkerung erreicht und aufrechterhalten werden. Die Akzeptanz ist aber sowohl für die verschiedenen Impfungen, als auch in verschiedenen Regionen Deutschlands sehr unterschiedlich, erklärte Dr. Christiane Meyer, Mitarbeiterin der STIKO, auf einer Veranstaltung des Forums Impfen. Die Daten der bundesweiten Schuleingangsuntersuchungen im Jahr 2005, die dem Robert-Koch-Institut (RKI) vorliegen, zeigen dies sehr deutlich. Erfreulich sind die Impfquoten für Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, die das RKI weiterhin als sehr gut einstuft. Anders sieht es bei Pertussis aus: Hier sind die Impfquoten in den alten Bundesländern zwar gestiegen, liegen aber weiterhin deutlich unter denen der neuen Bundesländer. Großer Nachholbedarf besteht außerdem bei den Impfungen gegen Masern, Grippe und Hepatitis B.

 

Vor allem die Skepsis und Ablehnung vieler Eltern, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen, findet Dr. Michael Bröker besorgniserregend. »Viele unterschätzen die Erkrankung, nur weil sie sie selbst unbeschadet überstanden haben«, sagte er auf einer Pressekonferenz des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) in Berlin. Masernerkrankungen stellen in Deutschland wegen der unzureichend umgesetzten Impfempfehlung unverändert eine akute Bedrohung für die Gesundheit vor allem von Säuglingen und Kindern, aber auch von Erwachsenen dar. Im Jahr 2006 erkrankten bis Ende November 2271 Personen, 2005 waren es bis zum selben Zeitpunkt 763. Ausbruchsuntersuchungen und Meldezahlen zeigten, dass die Betroffenen entweder gar keine oder nur eine der beiden empfohlenen Impfungen erhalten hatten. Bei dieser Bilanz dürfte es schwer werden, das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Masern bis 2010 in Europa auszurotten, zu erreichen.

 

Verschiedene Erhebungen und Studien für einzelne Bundesländer sowie die beobachteten Ausbrüche impfpräventabler Erkrankungen weisen auf erhebliche Impfdefizite besonders bei Jugendlichen hin. Aber auch von Erwachsenen, Senioren und bestimmten Risikogruppen werden die von der STIKO empfohlenen Impfungen nur unzureichend wahrgenommen. So zeigen Daten aus dem Jahr 2003, dass sich in den Niederlanden 81 Prozent der über 65-Jährigen gegen Grippe impfen ließen. In Deutschland waren es dagegen nur 50 Prozent.

 

Die geringen Impfraten öffnen verschiedenen Infektionskrankheiten Tür und Tor. Einer aktuellen Umfrage zum Thema »Impfungen und Impfverhalten« zufolge, die GfK Health Care im Auftrag des VFA mit 50 führenden Impfexperten aus Industrie und Wissenschaft durchführte, glauben 80\x0fProzent der Befragten, dass es in den nächsten fünf Jahren zu einem Anstieg von Infektionskrankheiten kommen wird. Besonders hoch schätzten sie das Risiko bei HIV, der echten Virusgrippe (Influenza) und Tuberkulose ein, aber auch Masern und die durch Zecken übertragene Hirnhautentzündung (FSME) werden nach ihrer Einschätzung wieder gehäuft auftreten.

 

»Wir beobachten ein mangelndes Bewusstsein für die Gefährlichkeit der verschiedenen Infektionskrankheiten«, sagte Meyer. Es sei so normal geworden, diese Krankheiten beherrschen zu können, dass vielen Menschen das Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht mehr bewusst sei. In dieser Situation gelte den seltenen Impfkomplikationen ein weitaus höheres Interesse als dem Schutz vor Krankheiten, was zu einer mangelnden Akzeptanz von Impfungen führe. »Die Toleranz gegenüber Nebenwirkungen, die im Zusammenhang mit Impfungen auftreten, ist äußerst gering, dabei handelt es sich in den meisten Fällen um bloße Hypothesen«, so Meyer.

 

Für jeden Verdacht auf Impfschäden, die über das übliche Maß hinausgehen, besteht eine Meldepflicht. Nach § 6 des Infektionsschutzgesetzes müssen Ärzte und Heilpraktiker sogenannte Impfkrankheiten und die noch seltener auftretenden, aber schwerwiegenderen Impfkomplikationen an die Gesundheitsämter melden. Auf diese Weise kann zwischen den Erkrankungen und Symptomen, bei denen ein Kausalzusammenhang mit einer Impfung plausibel ist, und unbewiesenen Vermutungen unterschieden werden. In den seltensten Fällen konnte ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Symptomen und Impfungen festgestellt werden, erläuterte Brigitte Keller-Stanislawski vom Paul-Ehrlich-Institut. Zu den seltenen Impfkrankheiten gehören zum Beispiel die Impfmasern, die durch den abgeschwächten Lebendimpfstoff verursacht werden können. Eine durch die Masernvakzine hervorgerufene Impfkomplikation ist zum Beispiel die Thrombozytopenie. Nicht bestätigt hat sich dagegen der hartnäckig postulierte Zusammenhang zwischen Impfungen und dem Auftreten von Diabetes mellitus Typ I. Auch die Behauptung, dass eine Impfung mit der kombinierten Masern-Mumps-Röteln-Vakzine (MMR) oder mit quecksilberhaltigen Impfstoffen zu Autismus führe, ist mittlerweile wissenschaftlich widerlegt.

 

Aufklärung verstärken

 

Für die Experten ist das Informationsdefizit der Bevölkerung das größte Hindernis zur Verbesserung der Impfraten. »Was wir brauchen, ist eine verstärkte Aufklärung über den medizinischen und gesellschaftlichen Nutzen von Impfungen«, forderte Bröker. Auch Ärzte sollten bessere Fortbildungen zum Thema Impfen erhalten. Es sei völlig unverständlich, dass einige Kinderärzte zu den Gegnern des Impfens gehören.

 

Sinnvoll wäre ein gut organisiertes Impfprogramm, bei dem sich Deutschland an den Impfsystemen von Finnland oder Großbritannien orientieren könnte, schlug Professor Dr. Heinz-Josef Schmitt, ehemaliger Vorsitzender der STIKO, vor. Als Beispiel nannte er Finnland, das zur Bekämpfung der Masern 1982 eine intensive Impf- und Aufklärungskampagne durchführte und dadurch eine Impfrate von mehr als 96 Prozent erreichte. Seit 1996 hat es dort nur noch vier Masernfälle gegeben, die allesamt eingeschleppt wurden. Damit hat Finnland das WHO-Ziel sogar mehr als zehn Jahre vor der Frist erreicht. In Großbritannien bekommen Ärzte ein zusätzliches Honorar, wenn sie eine bestimmte Impfquote erreichen und haben so selbst ein Interesse daran, die Bevölkerung über die Notwendigkeit des Impfens aufzuklären.

 

Einige Experten befürworten sogar die Einführung der Impfpflicht in Kinderkrippen, Vorschulen und Schulen, wie es sie in den USA gibt. Dort heißt es: »no vaccination, no school«. Über eine Impfpflicht müsse sehr vorsichtig diskutiert werden, sagte Bröker. Bei einer gut geführten Aufklärungskampagne wäre eine Pflicht zum Impfen gar nicht nötig, denn die Menschen würden das Angebot freiwillig annehmen.

 

Impfinnovationen in der Pipeline

 

Nach Meinung der Experten ist das Potenzial des Impfens noch lange nicht ausgeschöpft. Weitere wichtige Impfstoffe sind bereits in der Pipeline, zum Beispiel gegen Meningokokken B. Die Bakterien der Art Neisseria meningitidis, die zu Meningitiden oder Sepsis führen können, werden in zwölf Serogruppen unterschieden. Während in Deutschland vor allem Erreger der Gruppe B (68 Prozent) und C (22 Prozent) vorkommen, überwiegen in Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika die Gruppen A und C. Gegen Meningokokken B ist bislang noch keine Impfung auf dem europäischen Markt. Allerdings ist ein speziell für Neuseeland wirksamer Impfstoff bereits seit 2004 im Einsatz, sodass die Entwicklung einer Variante für Europa absehbar ist.

 

Auch ein Impfstoff gegen Herpes genitalis ist bereits in der klinischen Entwicklung. Der Genitalherpes gehört zu den häufigsten sexuell übertragenen Erkrankungen und wird durch Herpes-simplex-Viren (HSV) vom Typ 1 oder 2 ausgelöst. Derzeit befindet sich ein Impfstoff mit einem gentechnisch hergestellten Antigen (HSV-2gD Truncated) in klinischen Studien der Phase III.

 

Die Entwicklung eines Malaria-Impfstoffes scheiterte jahrzehntelang an der Komplexität des einzelligen Erregers. Ein Etappensieg gelang Forschern allerdings 2004/2005 mit einer gentechnisch hergestellten Vakzine, die sich in einer umfangreichen Studie in Mosambik, an der rund 2000 Kinder im Alter von ein bis vier Jahren teilnahmen, als vielversprechend erwies. Trotz der ermutigenden Ergebnisse wird mit einer Zulassung nicht vor 2010 gerechnet.

 

Weitere langfristigere Entwicklungsprojekte sind Impfstoffe gegen HIV, Hepatitis C, Tuberkulose, Pfeiffersches Drüsenfieber und das fast ausschließlich in Entwicklungsländern vorkommende Dengue-Fieber. Wann Vakzinen zur Verfügung stehen werden, ist derzeit jedoch noch nicht abzusehen.

 

In Zukunft sollen Impfstoffe nicht nur prophylaktisch, sondern verstärkt auch gegen schon bestehende Krankheiten eingesetzt werden. Die sogenannten therapeutischen Impfstoffe sollen das Immunsystem bei der Abwehr von Krankheiten unterstützen. Vor allem bei Krebserkrankungen erhoffen sich die Forscher hiervon Fortschritte in der Therapie.

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