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Alkoholabhängigkeit

Ein steiniger Weg zur Abstinenz

12.12.2017  11:33 Uhr

Von Norbert Wodarz / In puncto Alkohol zählt Deutschland zu den Hochkonsumländern. Doch alkoholabhängige Menschen werden oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Die Erkrankung gilt als kaum behandelbar. Das ist falsch. Doch der Weg zur Reduktion der Trinkmenge und zur Abstinenz ist steinig. Medikamente können Entzugssymptome mildern und Rückfälle teilweise verhindern.

Die Bedeutung von Abhängigkeits­erkrankungen für die Morbidität und Mortalität in unserer Gesellschaft wird häufig stark unterschätzt. Gemäß der Global Burden of Disease Study der WHO ließen sich 2015 in Deutschland 10,6 Prozent der Krankheitslast auf Tabak­konsum und 4,3 Prozent auf schädlichen Alkoholkonsum zurück­führen (1).

 

Deutschland zählt mit etwa 40 Millionen Alkohol konsumierenden Menschen zu den Hochkonsumländern. Etwa 1,6 Millionen (3,1 Prozent der 18- bis 64-Jährigen) zeigen einen »schäd­lichen Gebrauch« und zusätzlich circa 1,8 Millionen (3,4 Prozent) eine Alkohol­abhängigkeit. Alkoholbezogene Störun­gen stellen in Deutschland die häufigste Diagnose für eine Krankenhaus­behandlung dar.

Anders als andere chronische psychische Störungen, zum Beispiel Depression, wird Alkoholabhängigkeit in der Bevölkerung häufig stigmatisiert, als selbstverschuldet und nicht behandlungsbedürftig angesehen. Die Betroffenen selbst neigen krankheitsbedingt dazu, ihren Alkoholkonsum zu verleugnen oder zu bagatellisieren. Ihre Veränderungs- und Therapiemotiva­tion ist oft gering oder schwankt stark. Daher konzentriert sich die ärztliche Behandlung oft eher auf Folge- und Begleit­erkrankungen und weniger auf die ursächliche Suchterkrankung. Hinzu kommen Unsicherheiten bei der Diagnos­tik und im Umgang mit Suchtpatienten. Therapeutischer Nihilismus ist verbreitet und wird mit jedem rückfälligen Patienten scheinbar bestätigt. Daher erstaunt es kaum, dass nur rund 10 bis 15 Prozent der Betroffenen eine spezialisierte Behandlung in Anspruch nehmen.

 

Zwischen dem ersten Auftreten der Symptome einer Abhängigkeit und der ersten Behandlung vergehen im Durchschnitt zehn Jahre ungenutzt. Gelänge es, mehr Betroffene zu erkennen und zum Beispiel 40 Prozent einer Beratung und Behandlung zuzuführen, ließen sich nach einer aktuellen Modell­rechnung pro Jahr rund 2000 alkoholbedingte Todesfälle vermeiden (2).

 

Keine Frage der Dosis

 

Als nach derzeitigem Kenntnisstand unbedenklich definiert die WHO eine tägliche Alkoholzufuhr von 20 g reinem Ethanol pro Tag, bei Frauen physiologisch bedingt die Hälfte (3). Die Menge von 20 g entspricht etwa 0,5 l Bier, 0,25 l Wein oder 0,02 l Schnaps. Allerdings ist die individuelle Vulnerabilität sehr unterschiedlich. Daher ist kein allgemein gültiger Grenzwert vorher­sagbar, ab dem eine Trinkmenge als im Sinne einer Alkoholabhängigkeit pathologisch angesehen werden kann.

 

Gemäß der S3-Leitlinie »Screening, Diagnose und Behandlung alkohol­bezogener Störungen« (Stand Februar 2016) liegen die Grenzwerte in Deutschland für einen »risikoarmen Alkoholkonsum« bei bis zu 24 g Reinalkohol pro Tag für gesunde Männer (etwa zwei Gläser Bier à 0,3 l) und bis zu 12 g für Frauen (4). Von einem »riskanten Konsum« spricht man bei höheren Tageszufuhrmengen. Auch hier betonen die Autoren, dass es keinen risikofreien Alkohol­konsum gibt. Das Erkrankungsrisiko ist intraindividuell verschieden und hängt von der genetischen Prä­disposition sowie Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht oder Bluthochdruck ab.

 

Nachgewiesen ist hingegen ein linearer Anstieg der Häufigkeit alkohol­bedingter Folgeschäden mit Zunahme der täglichen Konsummenge. Dies ist auch bei der Diskussion um potenziell kardioprotektive Effekte des Alkohols zu berücksichtigen.

Diagnostische Kriterien nach ICD-10

Für die Diagnose müssen laut ICD-10 mindestens jeweils drei Kriterien »irgendwann« während der letzten zwölf Monate erfüllt sein:

 

  • starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren (Craving),
  • verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Alkoholkonsums,
  • körperliches Entzugssyndrom oder Konsum von Alkohol oder nahe verwandter Substanzen, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden,
  • Nachweis einer Toleranz mit zunehmend höherer Dosierung,
  • fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Alkoholkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um Alkohol zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen,
  • anhaltender Alkoholkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schäd­licher Folgen körperlicher, sozialer oder psychischer Art

Abhängigkeit hat viele Ursachen

 

Eine Alkoholabhängigkeit ist eine eigenständige, primär chronische und behandlungsbedürftige Erkrankung, die nicht selten (kontinuierlich oder episodisch) progredient verläuft. Charakteristisch ist eine verminderte Kon­trolle über das Trinken, sodass Alkohol schließlich trotz negativer Konsequenzen konsumiert wird. Für die Diagnose müssen laut ICD-10 mehrere Kriterien erfüllt sein (Kasten).

 

Eine Abhängigkeit entwickelt sich im komplexen Zusammenspiel von physischen, psychischen und sozialen Faktoren. Das heißt: Die eine Ursache für eine Abhängigkeitsentwicklung gibt es nicht. Genetisch mitverursachte psychische oder neurobiologische Vulnerabilitäts­faktoren können das indivi­duelle Risiko erhöhen oder sogar vermindern. Tierexperimentelle Befunde belegen als Charakteristikum aller suchterzeugenden Substanzen, inclu­sive Alkohol und Nikotin (!), dass diese durch häufig wiederholte Interaktionen mit den zentralen Strukturen des limbischen »Belohnungssystems«, vor allem im Nucleus accumbens, ein mehr oder weniger ausgeprägtes Sucht­mittelverlangen (Craving) in den spe­zifischen Umgebungssituationen des Konsums hervorrufen können. Dies gilt als eine der wesentlichen Grundlagen der Abhängigkeitsentwicklung.

Tabelle: Grade der Empfehlung; nach (4)

Grad der Empfehlung Bedeutung
A »Soll«-Empfehlung: mindestens eine randomisiert kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia, Ib, Ic)
B »Sollte«-Empfehlung: gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen IIa, IIb, IIc) oder Extrapolation von Evidenzebene I
»Kann«-Empfehlung: Evidenzkategorie III, IV und V. Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten oder Extrapolation von Evidenzebene IIa bis IIc. Diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren.
KKP »Klinischer Konsenspunkt«: empfohlen als gute klinische Praxis (»good clinical practice point«) im Konsens und aufgrund der klinischen Erfahrung der Mitglieder der Leitliniengruppe als ein Standard in der Behandlung, bei dem keine experimentelle Erforschung möglich oder angestrebt ist

Im Folgenden wird häufig auf die evidenzbasierten Empfehlungen der S3-Leitlinie (4) Bezug genommen und der zugehörige Grad der Empfehlung jeweils in eckiger Klammer angegeben (Tabelle).

 

Angesichts der unzureichenden Versorgungslage wäre ein flächendeckendes Screening von alkoholbezogenen Störungen mit dem Fragebogen »Alcohol Use Disorders Identification Test« (AUDIT) [A] oder AUDIT-C [KKP] (zehn oder drei Fragen) wünschenswert. Der Fragebogen ist frei verfügbar (www.auditscreen.org). Bei Patienten mit psychi­schen Störungen findet sich über­zufällig häufig eine begleitende alkoholbezogene Störung; daher soll auch hier der AUDIT zum Screening eingesetzt werden [A].

 

Ist eine hohe Sicherheit beim ­Nachweis eines chronischen Alkoholkonsums gefragt, können direkte Ethanolmetaboliten, zum Beispiel Ethylglucuronid (EtG; Haare) oder Phosphatidyl­ethanol (PEth; Vollblut) bestimmt werden [A]. So gaben zum Beispiel in einer Unter­suchung 91 Prozent der Schwangeren am Ende des zweiten Trimenons an, keinen Alkohol während der Schwangerschaft konsumiert zu haben. Mit AUDIT-Fragebogen und Labormessungen zeigten 25 Prozent jedoch einen Alkoholkonsum, der bei mehr als der Hälfte im Bereich von 20 bis 60 g reinem Ethanol pro Tag lag.

 

Erster Schritt: Kurzinterventionen

 

Sogenannte Kurzinterventionen sind ein erster Schritt, um Menschen mit problematischem Alkoholkonsum zu erreichen. Die Beratungen können persönlich oder computergestützt erfolgen und beinhalten eine individuelle Zielfindung, ein personalisiertes Feedback sowie konkrete Ratschläge. Ziel ist eine Verringerung des Alkoholkonsums und alkoholassoziierter Probleme.

Mehrere (Cochrane-)Metaanalysen belegen die Wirksamkeit zur Reduktion des Alkoholkonsums bei riskant Konsumierenden [A], gerade auch bei Jugendlichen nach Alkoholintoxikation. Für eine langfristig anhaltende Reduktion der Trinkmenge reicht eine solche Inter­vention alleine aber nicht aus [A]. Bei Abhängigen ist die Datenlage zur Wirksamkeit widersprüchlich [0]. Es gibt keine Hinweise auf Geschlechtsunterschiede bei der Wirksamkeit [A].

 

Wollen oder können Patienten aktuell keine Entzugsbehandlung durch­führen, sollte der Arzt sie über die ­Risiken einer plötzlichen Trinkmengen­reduktion aufklären. Zugleich sollte er über weiterführende Angebote infor­mieren und diese gegebenenfalls vermitteln [KKP].

 

Der regelmäßige und langfristige Besuch von Selbsthilfegruppen ist immer empfehlenswert [KKP]. Ebenso ­sollen Angehörige in allen Phasen der Versorgung und Behandlung, insbesondere bereits bei der Kontaktauf­nahme zu den Hilfesystemen, auf Selbsthilfegruppen für Angehörige und Betroffene hingewiesen werden [KKP].

 

Ziel: Abstinenz versus Trinkmengenreduktion

 

Primäres Behandlungsziel ist die Alkohol­abstinenz – vor allem, wenn ­bereits Folgeerkrankungen wie Leberparenchymschäden oder Pankreatitis eingetreten sind [A]. Bei entsprechender Behandlung liegen die Erfolge nach einem Jahr bei 25 bis 49 Prozent.

 

Jedoch zeigte zum Beispiel eine bevölkerungs­bezogene Untersuchung in den USA, dass die Hälfte der Per­sonen mit behandlungsbedürftigen Alkoholproblemen trotz Einsicht in die Notwendigkeit nicht bereit war, das Ziel der vollständigen Abstinenz zu akzep­tieren. So kam die englische Therapie­leitlinie (www.nice.org.uk/guidance/cg115) zu dem Schluss, auch die Reduktion der Trinkmengen als zumin­dest intermediäres Therapieziel anzuerkennen.

Empfehlung: Abstinenz ist bei Alkoholabhängigkeitssyndrom primäres Therapieziel. Ist dies zurzeit nicht ­möglich oder liegt schädlicher oder riskanter Konsum vor, soll eine Reduktion des Konsums (Menge, Zeit, Frequenz) zur Schadensminimierung angestrebt werden [A].

 

Patienten mit einer alkoholbezogenen Störung haben überzufällig häufig auch andere psychische Störungen. Sie haben eine schlechtere Prognose, wenn nicht beide Erkrankungen möglichst leitliniengerecht behandelt ­werden [B]. Die Komorbidität muss bei der Auswahl der psychotherapeu­tischen und/oder medikamentösen Maßnahmen berücksichtigt werden. Eine alleinige Behandlung der psychischen Erkrankung erreicht in der Regel keine anhaltende Reduktion der Trinkmenge. Sehr gut belegt ist das zum ­Beispiel für Antidepressiva wie selek­tive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer [A für Nicht-Wirksamkeit]. Zu beachten ist, dass vor allem affektive Begleit­symptome alkoholinduziert sein können. Ob und wie diese zu behandeln sind, ist daher erst drei bis vier ­Wochen nach dem Entzug sinnvoll überprüfbar [A].

 

Akutbehandlung der Alkoholabhängigkeit

 

Eine Alkoholintoxikation und/oder ein Entzugssyndrom sind eine häufige Komplikation der Grunderkrankung Alkohol­abhängigkeit. Eine »körperliche Entgiftung« soll die Vitalfunktionen sicher­stellen, die vegetativen Entzugssymptome lindern und schwere Ver­läufe, zum Beispiel epileptische Anfälle oder Delirium tremens, vermeiden. Die Rezidivraten liegen jedoch enorm hoch.

 

Daraus resultiert die Empfehlung, dass eine körperliche Entgiftung alleine keine hinreichende Therapie der Sucht­erkrankung darstellt und weitere suchtmedizinische Hilfen vorgehalten und vermittelt werden sollen [KKP]. In der sogenannten »qualifizierten Entzugsbehandlung« (QE) wird die körperliche Entgiftung ergänzt durch psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen, die auf die Grunderkrankung Abhängigkeit abzielen (5).

 

Es gibt Hinweise auf eine bessere Wirksamkeit einer QE im Vergleich zu einer reinen körperlichen Entgiftung. So wiesen Patienten eine höhere Abstinenzrate, eine höhere Rate von Vermittlungen in eine weiterführende Therapie wie die Postakutbehandlung (Rehabilitation), einen besseren Erfolg einer Reha-Behandlung und eine reduzierte Wiederaufnahmerate zur Entzugsbehandlung auf (6). Trotz der länge­ren Behandlungsdauer war die QE kosteneffizient.

 

Leider begrenzen Krankenkassen ihre Leistungspflicht häufig auf die Akutbehandlung von Komplikationen, zum Beispiel den Entzug. Dies führt zur unbefriedigenden Situation, dass weder eine ausreichende Behandlung der häufig länger anhaltenden psychischen Entzugssymptome wie Suchtdruck, Irritabilität, Konzentrations­störung, innere Unruhe (»Nervosität«), Dysphorie, Affektlabilität, Angst und Schlaf­störungen gestattet ist noch eine Mitbehand­lung der Grund­erkrankung Alkohol­abhängigkeit. Dies führt zwangsläufig zu einer besonders ­hohen Rückfallgefahr. Ferner sind die administrativen Hürden und Warte­zeiten für weiterführende Behandlungs- und Reha-Maßnahmen zum Teil erheblich – fatal für die in ihrer Motivationslage oft ambivalenten Patien­ten.

 

Empfehlung: Eine qualifizierte Entzugsbehandlung (QE) sollte statt ­einer reinen körperlichen Entgiftung angeboten werden, insbesondere wenn der Patient weiterführenden Behand­lungen ambivalent gegenübersteht. Die QE dauert in der Regel bis zu drei Wochen, bei kompliziertem Verlauf und in Einzelfällen kann sie bis zu sechs Wochen dauern [KKP].

 

Pharmakotherapie im akuten Entzug

Ein vegetatives Alkoholentzugssyndrom beginnt in der Regel sechs bis acht Stunden nach Ende oder drastischer Reduktion des bisherigen Alkoholkonsums. Die volle Ausprägung wird innerhalb von zwei Tagen erreicht. Dann lässt es langsam nach. Symptome sind allgemeine Hyperaktivität, Ängstlichkeit, Tremor, Schwitzen, Übelkeit, Erbrechen und erhöhter Sympathikotonus mit Tachykardie, Blutdruck­anstieg und subfebrilen Temperaturen. Während die meisten körperlichen Symptome in der Regel nach weiteren vier bis fünf Tagen abklingen, bilden sich psychische Symptome oft erst über Wochen zurück.

 

Eine pharmakologische Behandlung soll in erster Linie die Schwere und Häufigkeit von Entzugserscheinungen und Komplikationen reduzieren. Das schwere Entzugssyndrom wird kompliziert durch delirante Zustände, epileptische Anfälle, Herzrhythmusstörungen, hypertensive Krisen, Elektrolyt­störungen, Hypo- oder Hyper­thermie sowie Rhabdomyolysen.

 

Risikofaktoren für die Entwicklung schwerer Entzugssyndrome sind starke Entzugserscheinungen zum Aufnahmezeitpunkt, Benzodiazepin- oder Drogenbeigebrauch, frühere schwere Entzüge, Delirien oder Entzugskrampf­anfälle in der Vorgeschichte, hohe Alkohol­trink­mengen, somatische Ko­morbidi­tät, Leberwerterhöhungen und Elektrolytverschiebungen. Prinzi­piell lässt sich das Auftreten entzugsbedingter Komplikationen nicht sicher vorhersagen, sodass es auch bei initial vermeintlich leichtem Entzugssyndrom zu Komplikationen wie epileptischen Anfällen oder Delirien kommen kann.

 

Generell ist eine Pharmakotherapie des mittelschweren bis schweren Alkohol­entzugssyndroms einer Nichtbehandlung überlegen. Verschiedene Substanzen und Substanzgruppen werden zur Reduktion von vegetativen Entzugssymptomen sowie zur Prävention und Behandlung von Entzugs­komplikationen wie Krampfanfällen oder Delirien eingesetzt (Grafik).

 

Im stationären Entzug liegt sehr gute Evidenz für Benzodiazepine [A] vor, ohne dass sich eine unterschied­liche Wirksamkeit der einzelnen Wirkstoffe gezeigt hätte. Clomethiazol ist in der Effektivität gleichwertig, aber im anglo-amerikanischen Sprachraum weni­ger gut untersucht [B]. Bei einem Entzugsdelir mit Halluzinationen, Wahn und Agitation sollten diese Wirkstoffe mit niedrig dosierten hochpotenten Neuroleptika wie Haloperidol kombiniert werden [B].

Psychotherapie alkoholbezogener

Antikonvulsiva, besonders Carbamazepin, Valproinsäure, Gabapentin und Oxcarbazepin, verhindern wirksam Alkoholentzugsanfälle [B] und können zur (Mono-)Therapie leicht- bis mittelgradiger Entzugssymptome eingesetzt werden [0]. Betablocker und Clonidin eignen sich nicht zur Monotherapie, können aber begleitend bei vege­tativen Entzugssymptomen gegeben werden [0]. Nach aktuellem Stand sollten Baclofen [0], Gamma-Hydroxy-Butter­säure (GHB) [B] und Alkohol nicht eingesetzt werden [KKP].

 

Im ambulanten Bereich sollte der Arzt vorwiegend Antikonvulsiva, gegebenenfalls kombiniert mit Tiapridex, verordnen. Clomethiazol ist hier kontra­indiziert. Benzodiazepine sollte der Patient aufgrund des Missbrauchspotenzials nur bei täglichen Behandlungs­kontakten mit täglicher Dosiszuteilung bekommen (7).

 

Pharmakotherapie in der Postakutbehandlung

 

Im Anschluss an die Entzugsphase soll dem Patienten eine möglichst nahtlos weiterführende Behandlung (Postakutbehandlung) angeboten werden, im optimalen Fall in Form einer Entwöhnung [KKP]. Vorrangiges Ziel ist die Abstinenz. Nach der Postakutphase wiederum soll nahtlos eine mindestens einjährige suchtbezogene Versorgung folgen [KKP]. Diese dient der nachhaltigen Rückfallprävention.

 

In der Postakutphase werden ebenfalls Arzneimittel eingesetzt, darunter Disulfiram, Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen.

 

Disulfiram (Antabus®) führt nach einmaliger Einnahme zu einer pharmakologisch induzierten Alkoholintoleranz, die etwa eine Woche lang anhält. Umstritten ist, ob die kompetitive Hemmung der Aldehyd-Dehydrogenase mit sukzessivem, allerdings quantitativ nur geringem Anstieg des Alkohol-Abbauprodukts Acetaldehyd im Blut die toxische Reaktion erklärt, die bereits nach geringem Alkoholkonsum auftritt. Diese ist charakterisiert durch ein Flush-Syndrom mit hochgradiger Hautrötung an Gesicht, Brust und Schultern, Hitzegefühl, starkem Kopfschmerz, intensivem Unwohlsein und Tachykardie mit gleichzeitiger Hypotension bis zum Kollaps. Todesfälle durch Zufuhr hoher Alkohol­dosen (vermeintliches »Übertrinken«) sind beschrieben.

 

Die Erfolge im Rahmen ausgefeilter Therapieprogramme sind sehr gut (Beispiel ALITA: Ambulante Langzeit-Intensivtherapie für Alkoholkranke) (8). Problematisch ist, dass der deutsche Hersteller die Produktion eingestellt und die Zulassung zurückgegeben hat, sodass Disulfiram über eine inter­nationale Apotheke bestellt werden muss und die Krankenkassen die Kosten in der Regel nicht übernehmen. Dazu kommen haftungsrechtliche Probleme durch die fehlende Zulassung.

Zu Acamprosat (Calcium-Acetyl-Homotaurinat) liegen 19 placebokon­trollierte randomisierte klinische Studien (RCT) mit insgesamt 4629 Patienten mit einer mittleren bis schweren Abhängigkeitserkrankung vor. Diese zeigten einen signifikanten, aber kleinen Effekt bezüglich der Aufrechterhaltung der Abstinenz über sechs bis zwölf Mona­te bei relativ geringen Nebenwirkungen. Allerdings muss der Patient aufgrund der schlechten oralen Bioverfügbarkeit und kurzen Halbwertszeit dreimal täglich zwei Kapseln einnehmen. Daher erfordert die regelmäßige Einnahme viel Motivation vom Patienten. Der genaue Wirkmechanismus ist unklar und wird kontrovers diskutiert. Seit 1996 ist die Substanz in Deutschland zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen.

 

Naltrexon wirkt als Antagonist am µ-Opiat-Rezeptor und wurde in 27 RCT (N = 4296) mit Placebo und in vier weiteren RCT (N = 957) mit Acamprosat verglichen. Es zeigten sich signifikante, jedoch kleine Effekte bezüglich des Zeitraums bis zum ersten Rückfall sowie der Anzahl schwerer Trinktage.

 

In der Postakutphase sollte alkohol­abhängigen Patienten eine ambulante pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden [B].

 

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Medikamente immer nur supportiven Charakter haben können, für einige Betroffene aber eine wichtige Stütze darstellen. Grundsätzlich ist auch bei zukünftigen Substanzentwicklungen zu beachten, dass ein ein­dimensionales, nur medikamentöses Therapiekonzept dazu führen kann, dass der Patient seine aktive Mitarbeit auf die Medikamenteneinnahme beschränkt. Die Verantwortung für die Erkrankung wird auf den Therapeuten delegiert, und krankheitsimmanente Verdrängungstendenzen verfestigen sich. Darüber hinaus besteht noch kein Konsens über die optimale Einbettung der medikamentösen Behandlung in den Gesamtbehandlungsplan, zum ­Beispiel Dauer und Absetzprocedere. Gleiches gilt für differenzialtherapeu­tische Gesichtspunkte, zum Beispiel: Wer profitiert von der Medikation und wer nicht?

 

Nalmefen ist ähnlich wie Naltrexon als µ-Opiat-Rezeptor-Antagonist wirksam. Es reduzierte in vier placebo­kontrollierten RCT (N = etwa 2500) in geringem Umfang die Anzahl schwerer Trinktage sowie die pro Trinktag konsumierte Menge. Es ist zugelassen zur inter­mediären Trinkmengenreduktion.

 

Ist das Behandlungsziel zunächst eine Trinkmengenreduktion, dann kann Alkoholabhängigen außerhalb der stationären Entwöhnung Nalmefen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden [KKP].

 

Suche nach Anti-Craving-Substanzen

 

In den letzten Jahren gewann die Suche nach Substanzen ohne eigenes Suchtpotenzial zur pharmakologischen Rückfallprophylaxe zunehmend an Bedeutung. Begünstigt wurde dies durch die Fortschritte der experimentellen Grund­lagen­forschung, unter anderem tierexperimentelle Modelle der Abhängigkeit und die daraus resultierende Charakterisierung des zerebralen Belohnungs­systems. An dessen Regulation sind diver­se Neurotransmitter beteiligt.

 

Verschiedene hier modulierend eingreifende Substanzen wurden in klinisch-therapeutischen Studien geprüft. Behandlungsziel war die »Normalisierung« der durch fortgesetzte Alko­holzufuhr fixierten neurochemischen Veränderungen im Belohnungssystem, die zu einem erhöhten (abnormen) Substanz­verlangen (Craving) zumindest in bestimmten Schlüsselsituationen führen sollen. Hieraus resultiert auch der Sammelbegriff Anti-Craving-Mittel. Jedoch haben die bislang hierunter subsummier­ten Substanzen völlig unterschiedliche Wirkmechanismen, und es ist völlig offen, welche Bedeutung dem Konstrukt Craving tatsächlich für deren Wirksamkeit zukommt. /

 

Literatur beim Verfasser

Der Autor

Norbert Wodarz studierte Medizin an der Universität Würzburg und arbeitete von 1988 bis 1997 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitäts­klinik Würzburg. Seit 1995 ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1997 ist er an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirks­klinikum Regensburg tätig. Seit 2011 ist Professor Wodarz Chefarzt des dortigen Zentrums für Suchtmedizin. Er ist Vorsitzender der Bayerischen Akademie für Suchtfragen (BAS) und war maßgeblich beteiligt an Konzeption, Aufbau und Koordi­nierung der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern.

 

Wodarz ist Mit­autor der interdisziplinären deutschen S3-Leitlinie »Screening, Diagnostik und Behandlung von Intoxikation, riskantem schädlichen und abhängigen Alkoholgebrauch«. Einer seiner wissenschaftlichen Schwerpunkte sind klinische Studien zur Verbesserung der Behand­lung der Alkoholabhängigkeit sowie der besseren Versorgung von Abhängi­gen mit komorbiden Störungen.

 

Professor Dr. Norbert Wodarz

Zentrum für Suchtmedizin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psycho­therapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum

Universitätsstraße 84

93053 Regensburg

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