Crizotinib, Decitabin und Tianeptin |
04.12.2012 16:16 Uhr |
Von Brigitte M. Gensthaler, Kerstin A. Gräfe und Sven Siebenand / Im November kamen drei neue Arzneistoffe auf den Markt. Ein Tyrosinkinase-Hemmer zur personalisierten Lungenkrebstherapie, ein Krebsmedikament zur Behandlung einer seltenen Leukämieform und ein trizyklisches Antidepressivum.
Lungenkrebs ist die dritthäufigste Krebserkrankung bei Männern und Frauen in Deutschland. Jährlich erkranken etwa 50 000 Menschen.
Crizotinib
Seit Mitte November ist mit Crizotinib (Xalkori®, Pfizer) ein neuer Wirkstoff für Lungenkrebspatienten auf dem Markt verfügbar. Der Tyrosinkinase-Inhibitor macht eine personalisierte Lungenkrebsbehandlung möglich. Die Europäische Kommission hat dem Wirkstoff eine bedingte Zulassung erteilt. Pfizer ist gefordert, weitere Studiendaten nachzureichen.
Foto: Fotolia/frank peters
Crizotinib darf zur Behandlung von Erwachsenen mit vorbehandeltem ALK-positivem fortgeschrittenem nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom (NSCLC) angewendet werden. ALK ist eine Abkürzung für das Enzym Anaplastische-Lymphom-Kinase. Diese Tyrosinkinase ist bei den betroffenen Lungenkrebspatienten überaktiv und sorgt für Wachstum und Vermehrung der Krebszellen. Bei 3 bis 5 Prozent aller NSCLC-Patienten lässt sich diese nachweisen. Meistens handelt es sich dabei um jüngere Patienten und Nichtraucher.
Der Kinase-Inhibitor Crizotinib hemmt ALK und zeigt dadurch Wirksamkeit gegen Lungenkrebs. Dies wurde in zwei einarmigen Studien mit knapp 400 vorbehandelten ALK-positiven NSCLC-Patienten untersucht. Sie erhielten zweimal täglich peroral 250 mg Crizotinib. Primärer Endpunkt war jeweils die objektive Ansprechrate gemäß der »Response Evaluation Criteria in Solid Tumours« (RECIST). Diesen erreichten in der ersten Studie 60 Prozent, in der zweiten 53 Prozent der Patienten. Sekundäre Endpunkte waren unter anderem die Dauer des Ansprechens und die progressionsfreie Überlebenszeit. Erstere lag in den Studien bei 48 beziehungsweise 43 Wochen und das progressionsfreie Überleben betrug 9,2 beziehungsweise 8,5 Monate.
Die empfohlene Dosis ist mit der Studienmedikation identisch: zweimal täglich peroral 250 mg. Das Steady State wird innerhalb von 15 Tagen erreicht. Die Behandlung sollte bis zur Progression oder bis zum Auftreten inakzeptabler Toxizität fortgeführt werden. Die Einnahme einer doppelten Dosis, um eine vergessene Dosis nachzuholen, ist nicht erlaubt. Nur wenn der Zeitabstand zur nächsten, planmäßigen Dosis größer als sechs Stunden ist, sollten Patienten die Einnahme einer vergessenen Dosis überhaupt nachholen.
Abhängig von der individuellen Sicherheit und Verträglichkeit kann eine Therapiepause und/oder Dosisreduktion, zum Beispiel auf zweimal täglich 200 mg oder einmal täglich 250 mg, notwendig werden. Bei schwerer Leberfunktionsstörung darf Crizotinib nicht eingenommen werden, bei leichter oder mäßiger ist Vorsicht geboten.
In-vitro-Studien zeigen, dass im Wesentlichen die CYP3A4/5-Enzyme am Metabolismus von Crizotinib beteiligt sind. Grapefruit-haltige Lebensmittel sind zu meiden, da sie den Blutspiegel von Crizotinib erhöhen können. Gleiches gilt für andere starke CYP3A4-Hemmer. Da sie den Blutspiegel von Crizotinib senken können, sind zudem starke CYP3A4-Induktoren inklusive Johanniskrautpräparate zu meiden.
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Crizotinib selbst ist ein mäßiger Hemmstoff von CYP3A4. Die gleichzeitige Gabe mit CYP3A4-Substraten mit enger therapeutischer Breite sollte daher unterbleiben. Eine enge klinische Überwachung wird in der Fachinformation zudem angeraten, wenn der neue Wirkstoff mit Digoxin, Dabigatran, Colchicin oder Pravastatin kombiniert wird. Vorsicht ist auch bei der Kombination mit Paracetamol, Morphin oder Irinotecan geboten.
In Studien traten unter Behandlung mit Crizotinib Fälle von schwerer, lebensbedrohlicher oder tödlicher Pneumonitis auf. Deshalb sollte der Arzt Patienten mit pulmonalen Symptomen überwachen. Zu bedenken ist auch die Verlängerung des QT-Intervalls durch Crizotinib. Der Wirkstoff sollte daher nur mit Vorsicht zum Einsatz kommen, wenn Patienten bereits früher von einer QT-Zeit-Verlängerung betroffen waren, eine Prädisposition dafür haben oder Arzneimittel einnehmen, von denen bekannt ist, dass sie das QT-Intervall verlängern. Crizotinib kann zudem Bradykardien auslösen. Deshalb sollte eine Kombination mit anderen Bradykardie-auslösenden Arzneimitteln, zum Beispiel Verapamil, Diltiazem, Clonidin und Mefloquin, nur mit Vorsicht erfolgen. In den Zulassungsstudien traten zudem sehr häufig Sehstörungen auf. Weitere Nebenwirkungen, die sehr häufig beobachtet wurden, sind Magen-Darm-Beschwerden, verminderter Appetit, Neuropathie, Schwindel, Dysgeusie, Müdigkeit, Ödeme und Neutropenien.
Fetale Schädigungen durch Crizotinib sind möglich. Deshalb darf der Arzneistoff in der Schwangerschaft nicht zum Einsatz kommen, es sei denn, die Behandlung der Mutter ist unbedingt erforderlich. Frauen im gebärfähigen Alter müssen während und mindestens 90 Tage nach der Behandlung eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Zudem sollten Frauen unter Einnahme von Crizotinib nicht stillen.
Vorläufige Bewertung: Sprunginnovation
Decitabin
Ende September 2012 erteilte die europäische Arzneimittelbehörde EMA die Zulassung für Decitabin. Im November kam das Arzneimittel auf den deutschen Markt (Dacogen® 50 mg Pulver für ein Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Janssen-Cilag). Es ist indiziert zur Behandlung von Erwachsenen ab 65 Jahren, die an neu diagnostizierter, akuter myeloischer Leukämie (AML) leiden und für die eine Erstbehandlung mit einer Standard-Chemotherapie nicht infrage kommt. Die AML ist eine Krebserkrankung der weißen Blutkörperchen und hat vor allem bei Älteren eine schlechte Prognose. Sie gilt als seltene Krankheit; daher wurde Decitabin 2006 als Orphan Drug eingestuft.
Der neue Wirkstoff wird in Zyklen an fünf aufeinander folgenden Tagen verabreicht. Die empfohlene Tagesdosis beträgt 20 mg/m2 Körperoberfläche und wird als einstündige Infusion intravenös gegeben. Die Gesamtdosis darf 100 mg/m2 pro Behandlungszyklus nicht überschreiten. Diese fünftägige Behandlung sollte – abhängig vom Ansprechen und von der Verträglichkeit – alle vier Wochen wiederholt werden. Ein Patient sollte mindestens vier Zyklen bekommen, bevor der Therapieerfolg bewertet wird. Der Arzt kann die Therapie so lange fortsetzen, wie sie dem Patienten nützt.
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Decitabin ist ein Pyrimidin-Analogon, genauer ein Cytidin-Desoxynucleosid-Analogon, und wirkt als Antimetabolit zum natürlichen Cytidin-Desoxynucleosid. Intrazellulär wird es zum Triphosphat umgewandelt, das dann durch die DNA-Polymerase in die Erbsubstanz eingebaut wird. Dort blockiert es die Aktivität von DNA-Methyltransferasen und führt so zu einer Genpromotor-Hypomethylierung. Dadurch kann es zur Reaktivierung von Tumorsuppressor-Genen und zur Induktion der Zelldifferenzierung kommen. In der Folge sterben Tumorzellen ab (Apoptose).
Decitabin wurde in einer offenen randomisierten multizentrischen Phase-III-Studie an 485 Erwachsenen über 65 Jahren mit neu diagnostizierter AML untersucht. Die Patienten bekamen entweder eine unterstützende Behandlung oder niedrig dosiertes Cytarabin (zehn Tage lang einmal täglich 20 mg/m2 subkutan) oder Decitabin (einmal täglich 20 mg/m2 intravenös über fünf Tage). Die Gabe der Krebsmedikamente wurde alle vier Wochen wiederholt. Primärer Endpunkt war das Gesamtüberleben der Patienten, sekundärer Endpunkt die komplette Remission (CR).
Patienten im Decitabin-Arm überlebten im Durchschnitt 7,7 Monate im Vergleich zu 5,0 Monaten bei den Patienten, die eine der anderen Behandlungen erhielten. Dies war statistisch nicht signifikant, zeigte aber einen Trend zu einer längeren Lebenszeit. Fast 18 Prozent der Patienten mit Decitabin, aber nur knapp 8 Prozent der anderen Patienten erreichten eine CR. Das progressionsfreie Überleben war mit 3,7 Monaten (versus 2,1 Monate) unter Decitabin deutlich länger. Beide Zielparameter unterschieden sich statistisch signifikant.
In einer offenen einarmigen Phase-II-Studie bekamen 55 ältere AML-Patienten das neue Medikament. Hauptzielparameter war die CR. Fast ein Viertel erreichte eine CR, die durchschnittlich 18,2 Monate anhielt. Das Gesamtüberleben lag – ähnlich wie in der Phase-III-Studie – bei 7,6 Monaten.
Es gab zahlreiche, teils schwere Nebenwirkungen. Mehr als 35 Prozent der Patienten bekamen Fieber, litten an Anämie oder Thrombozytopenie. Schwere Nebenwirkungen, die sehr häufig (bei mehr als 20 Prozent der Patienten) auftraten, waren Pneumonie, Thrombozytopenie, Neutropenie ohne oder mit Fieber sowie Anämie. Laut EMA ähnelte das Sicherheitsprofil von Decitabin dem von niedrig dosiertem Cytarabin mit Ausnahme einiger Nebenwirkungen wie Infektionen oder Neutropenie, die unter dem Neuling häufiger waren.
Das Nutzenbewertungsverfahren beim GBA hat am 1. November 2012 begonnen; die Beschlussfassung soll im Mai 2013 erfolgen (www.g-ba.de).
Vorläufige Bewertung: Analogpräparat
Tianeptin
Anfang November kam ein neues Antidepressivum für Erwachsene auf den Markt: Tianeptin-Natrium (Tianeurax® 12,5 mg Filmtabletten, Neuraxpharm). »Neu« ist der Wirkstoff allerdings nicht. Bereits in den 1980er-Jahren wurde in Frankreich und Österreich ein Tianeptin- haltiges Präparat (Stablon®) eingeführt. Nun ist der Wirkstoff erstmals auch in Deutschland erhältlich.
Tianeptin ist ein trizyklisches Antidepressivum. Im Gegensatz zu anderen Antidepressiva verstärkt es jedoch die Wiederaufnahme von Serotonin in den Neuronen, ist also ein Serotonin- Reuptake-Enhancer (SRE). Dieser Effekt steht im Widerspruch zu konventionellen Depressionstheorien und wird durch neuere Untersuchungen auch infrage gestellt. Vielmehr scheint für die Wirkung der modulierende Einfluss von Tianeptin auf das glutamaterge System verantwortlich zu sein.
Glutamat ist einer der Neurotransmitter, die eine Rolle bei der Genese der Depression und auch der Neuroneogenese spielen. In diesem Zusammenhang konnte im Tierversuch gezeigt werden, dass Tianeptin stressbedingte strukturelle und zelluläre Veränderungen im Gehirn verhindern oder sogar rückgängig machen kann und so den Hippocampus und den präfrontalen Cortex vor den nachteiligen Folgen des mit der Depression verbundenen Stresses schützt.
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Grafiken: Wurglics
Die empfohlene Dosis von Tianeptin beträgt dreimal 12,5 mg, eingenommen vor den Mahlzeiten. Bei älteren Patienten (über 70 Jahre) und bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion sollte die Dosis auf zweimal 12,5 mg reduziert werden. Das Apothekenpersonal kann den Hinweis geben, dass die Wirkung nach sieben bis 14 Tagen einsetzt. Bei einer Depression nach Alkoholentzug ist mit einem Wirkeintritt nach vier bis acht Wochen zu rechnen.
Wie bei anderen psychotropen Arzneimitteln sollte kein abruptes Absetzen von Tianeptin erfolgen. Die Dosis sollte stattdessen über einen Zeitraum von einer bis zwei Wochen schrittweise reduziert werden. Wenn eine Allgemeinanästhesie notwendig ist, sollte der Narkosearzt über die Einnahme des neuen Antidepressivums informiert sein und das Mittel sollte möglichst einen bis zwei Tage vor dem Eingriff abgesetzt werden.
Der Wirkstoff darf nicht gleichzeitig mit MAO-Hemmern eingenommen werden, da dadurch das Risiko für Kreislaufkollaps, Bluthochdruck, Hyperthermie, Krämpfe und Tod verstärkt wird. Falls eine Behandlung mit einem MAO-Hemmer nötig ist, sollten Patienten Tianeptin mindestens 15 Tage zuvor absetzen. Bei mit SSRI oder SNRI vorbehandelten Patienten sollten diese Substanzen langsam, um Absetzphänomene gering zu halten, reduziert und abgesetzt werden, bevor eine Behandlung mit Tianeptin begonnen wird. Dies gilt auch für stark anticholinerg wirksame Trizyklika wie Amitriptylin oder Doxepin. Auch eine Kombination von Tianeptin und Mianserin wird wegen antagonistischer Wirkungen, die in Tierstudien beobachtet wurden, nicht empfohlen. Die Einnahme während der Schwangerschaft und Stillzeit wird nicht empfohlen.
Die Wirksamkeit wurde in zwei placebokontrollierten Studien überprüft. Primärer Studienendpunkt war eine Abnahme der Werte in der Montgomery-Åsberg Depressionsskala (MADRS). In beiden Studien war Tianeptin signifikant wirksamer als Placebo. Des Weiteren liegen Studien versus Amitriptylin (50 bis 100 mg/Tag), Clomipramin (100 bis 200 mg/Tag), Dothiepin (150 bis 225 mg/Tag), Imipramin (100 bis 200 mg/Tag), Maprotilin (75 mg/Tag) und Mianserin (30 bis 80 mg/Tag) vor. Hier erwies sich Tianeptin (25 bis 50 mg/Tag) hinsichtlich der antidepressiven und anxiolytischen Wirkung gegenüber den tri- und tetrazyklischen Antidepressiva als ebenbürtig.
In eine Metaanalyse wurden fünf Studien eingeschlossen, in denen die Wirksamkeit von Tianeptin mit derjenigen der SSRI Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin verglichen wurde. Auch hier wurde die Wirksamkeit anhand des Einflusses auf die MADRS-Scores ermittelt. Auch bei der Gruppe der schwer depressiven Studienteilnehmer (Ausgangs-MADRS ≥ 28) war Tianeptin ebenso effektiv wie die Vergleichs-SSRI.
Als besonderen Vorteil führt der Hersteller die bessere Verträglichkeit an. Verglichen mit anderen Trizyklika kam es signifikant seltener zu autonomen und ZNS-Nebenwirkungen. Auch gastrointestinale Störungen, eine Zunahme von Gewicht und Herzfrequenz und ein Tremor wurden signifikant seltener unter der Einnahme von Tianeptin beobachtet.
Verglichen mit SSRI weist das neue Antidepressivum ein ähnliches Profil auf. Unter ihm traten seltener gastrointestinale Nebenwirkungen, Tremor und Palpitationen auf (allerdings nicht signifikant), dagegen trat Mundtrockenheit häufiger als unter Fluoxetin auf. Im Vergleich zu Paroxetin war das neue Antidepressivum signifikant verträglicher. Insgesamt kommt es weniger häufig zu sexuellen Funktionsstörungen als unter SSRI. /
Vorläufige Bewertung: Analogpräparat
Eine Sprunginnovation und zwei Analogprodukte
Mit Crizotinib ist ein Zytostatikum auf den Markt gekommen, das eine individuelle Lungenkrebstherapie ermöglicht. Es kann damit vorläufig als Sprunginnovation bewertet werden. Decitabin hat dagegen als Antimetabolit bei der Therapie von akuter myeloischer Leukämie keinen Alleinvertretungsanspruch. Es ist vergleichbar mit Azacytidin und Cytarabin und muss deshalb als Analogprodukt gewertet werden. Auch die Einschränkung der Indikation auf erwachsene Patienten ab 65 Jahre ändert nichts an der Bewertung.
Auch Tianeptin, ein in Deutschland neues Antidepressivum, erfüllt nicht die Ansprüche an eine Sprung- oder Schrittinnovation. Abgesehen davon, dass Tianeptin seit 1988 in Frankreich und Österreich in die Therapie eingeführt – also uralt – ist, kann auch der postulierte, aber nicht endgültig nachgewiesene Wirkungsmechanismus als Serotonin-Enhancer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die klinischen Ergebisse keine Vorteile gegenüber den bekannten Antidepressiva ergaben. Tianeptin kann deshalb nur als Analogprodukt eingestuft werden.
Professor Dr. Hartmut Morck
Ehemaliger PZ-Chefredakteur