Wechselwirkungen verhindern |
06.12.2011 14:44 Uhr |
Von Thomas Fiß und Wolfgang Hoffmann / Werden mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen, besteht das Risiko für das Auftreten von Arzneimittelwechselwirkungen. Bislang fehlten jedoch Studien aus dem Kontext der Versorgungsforschung, die Risikofaktoren für das Auftreten von Arzneimittelwechselwirkungen identifizieren.
Bei Medikamentenanwendung besteht das Risiko für das Auftreten von Arzneimittelbezogenen Problemen (ABP). Das häufigste ABP in deutschen Offizin-Apotheken ist das Auftreten von Arzneimittelwechselwirkungen (1). Sie führen häufig zu Hospitalisierungen, Mortalität und Morbidität. Bekannt ist, dass vor allem ältere Menschen aufgrund ihrer häufigen Multimorbidität und damit assoziierter Polypharmakotherapie von Arzneimittelwechselwirkungen betroffen sind. Unbekannt ist jedoch, wie hoch das Risiko für das Auftreten von Arzneimittelwechselwirkungen bei Hausbesuchspatienten ist und welche Faktoren deren Auftreten begünstigen. Hausbesuchspatienten können nicht selbstständig die Apotheke besuchen und können demzufolge nicht von der vollständigen Pharmazeutischen Betreuung profitieren.
Diese offenen Fragen veranlassten Wolfgang Hoffmann aus Greifswald und Kollegen zu einer spezifischen Untersuchung der Daten aus den AGnES-Studien (2). Die AGnES-Studien (Arzt-entlastende, Gemeinde-nahe, E-health-gestützte, systemische Intervention) dienten der Hausarztentlastung in ländlichen Regionen, die von medizinischer Unterversorgung bedroht sind, durch Delegation von Standardhausbesuchen an zusätzlich qualifiziertes Praxispersonal (AGnES-Fachkräfte). Die Hausbesuche der AGnES-Fachkräfte waren modular aufgebaut und beinhalteten in enger Kooperation mit der lokalen Apotheke und dem Hausarzt eine systematische Arzneimittelüberprüfung (3). Der Studienzeitraum erstreckte sich vom Juni 2006 bis Dezember 2008. Bei insgesamt 779 Patienten wurde ein vollständiger Medikamentendatensatz inklusive aller in der Häuslichkeit befindlichen OTC-Präparate erhoben. Die Studienautoren nutzten die Interaktionsmonographien der ABDA-Datenbank (Stand März 2009); um potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen der Schweregrade leicht bis schwerwiegend zu identifizieren. Aufgrund einer internationalen Untersuchung zur klinischen Relevanz der Interaktionsmonographien wurde ein besonderer Schwerpunkt auf Wechselwirkungen der Schweregrade mittelschwer und schwerwiegend gelegt (potenziell klinisch relevant) (4).
Hinter dem Akronym steckt das Projekt »Arzt-entlastende, Gemeinde-nahe, E-Health gestützte Systemische Intervention«, das mit »AGnES« auf eine Fernseh-Krankenschwester anspielt. Initiiert wurde AGnES im August 2005 vom Institut für Community Medicine der Universität Greifswald. Treibende Kraft des Projekts waren die demografische Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern sowie der eklatante Ärztemangel in ländlichen Gebieten.
Mit einem mittleren Alter von 78,8 Jahren und 6,8 regelmäßig eingenommenen Wirkstoffen handelte es sich bei den Patienten um ein typisches geriatrisches Patientenkollektiv. Die mittlere Anzahl der Behandlungsdiagnosen betrug 6,3 und 38,7 Prozent der Patienten (n = 302) hatten eine Pflegestufe. Unter Berücksichtigung aller Phytopharmaka und OTC-Präparate wurde bei 454 Patienten (58,3 Prozent) mindestens eine potenziell klinisch relevante Arzneimittelwechselwirkung identifiziert. Insgesamt hatten diese Patienten 3025 Interaktionen. Der Anteil Patienten mit schwerwiegenden Wechselwirkungen betrug 1,2 Prozent (n = 9). Am häufigsten wurde die Kombination von Kalium-ausscheidenen Diuretika (Furosemid, HCT, Torasemid) mit nicht-steroidalen Antiphlogistika (NSAIDS: ASS, Naproxen, Ibuprofen) als problematisch identifiziert (n = 258; 8,5 Prozent) (Tabelle).
Interaktionsmonographie | Häufigkeit |
---|---|
Kaliumausscheidende Diuretika (Furosemid; Hydrochlorothiazid; Torasemid) mit nicht-steroidalen Antiphlogistika (ASS, Naproxen, Ibuprofen, Indometacin) | 258 (8,5%) |
ACE-Hemmer (Enalapril, Captopril, Lisinopril) mit nicht-steroidalen Antiphlogistika (ASS, Naproxen, Ibuprofen, Indometacin) | 158 (5,2%) |
β-Adrenorezeptor Antagonisten (Bisoprolol, Propranolol, Atenolol, Metoprolol mit nicht-steroidalen Antiphlogistika (ASS, Naproxen, Ibuprofen, Indometacin) | 137 (4,5%) |
Insuline mit β-Adrenorezeptor Antagonisten, kardioselektive (Atenolol, Bisoprolol, Metoprolol) | 92 (3%) |
ACE-Hemmer (Captopril, Enalapril, Lisinopril, Ramipril) mit Allopurinol | 71 (2,4%) |
Angiotensin II Antagonisten (Losartan, Candesartan, Olmesartan) mit nicht-steroidalen Antiphlogistika (ASS, Naproxen, Ibuprofen, Indometacin) | 57 (1,9%) |
Tabelle entnommen aus: [3] |
Um herauszufinden, welche Ko-Faktoren das Auftreten von Wechselwirkungen begünstigen, wurde ein multivariates, binomiales Regressionsmodell berechnet. Unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, Pflegegrad und Behandlungsdiagnosen erwies sich die Anzahl eingenommener Wirkstoffe als signifikanter Hauptrisikofaktor. Mit jedem weiteren eingenommen Wirkstoff erhöht sich das Risiko für das Auftreten von Arzneimittelwechselwirkungen um 48 Prozent (95 %-CI 38 %-58 %) für den Patienten. Ein weiterer Risikofaktor war das Vorhandensein einer Muskel-Skelett-Erkrankung (OR 1,74; 95 %-CI 1,2-2,5), vermutlich wegen des Zusammenhangs mit einer Behandlung mit NSAIDS, die häufig an Interaktionen beteiligt sind.
Die Untersuchung zeigt, dass ältere Hausbesuchspatienten unter einem besonderen Risiko für das Auftreten von Arzneimittelwechselwirkungen stehen. Auf Basis der erhobenen Daten konnten die Autoren jedoch keine Aussagen zu klinischen Folgen der Arzneimittelwechselwirkungen machen. Nichtsdestotrotz bestätigt die Analyse generell, dass vor allem die Anzahl eingenommener Medikamente problematisch ist. Es wurde nicht in jedem Fall dem Grundsatz des möglichst sparsamen Medikamentengebrauchs in der geriatrischen Pharmakotherapie Rechnung getragen. Aufgrund des großen Mangels an geriatrischen Behandlungs- und Priorisierungsleitlinien für Ärzte und Apotheker ist es schwierig, die Forderung nach einer rationalen Pharmakotherapie des älteren Menschen in der ambulanten Praxis umzusetzen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion (ABDA/KBV-Modell) zur Einführung eines systematischen Medikationsmanagements in Deutschland liefern Hoffmann und Kollegen eine wichtige, wissenschaftliche Diskussionsgrundlage zu Arzneimittelbezogenen Problemen der ambulanten Pharmakotherapie. Die erhobenen Daten wurden im Kontext der Versorgungsforschung erfasst und sind demzufolge gut auf die ambulante Versorgungsrealität übertragbar. Gerade angesichts des hohen Anteils OTC-Präparate an den identifizierten Arzneimittelwechselwirkungen bedarf es eines interdisziplinären Medikationsmanagements in Kooperation von Arzt und Apotheker mit der regelmäßigen, systematischen Medikamentendokumentation in der Hausapotheke. Würde die systematische Medikamentendokumentation im Sinne einer gemeinsamen elektronischen Patientenakte von Arzt und Apotheker noch um Behandlungsdiagnosen und verordnete Dosierungen angereichert werden, ließen sich potenziell inadäquate Medikamente und weitere arzneimittelbezogene Probleme noch besser identifizieren. /
Literatur
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