Vom Nervengift zum Analgetikum |
23.11.2012 12:45 Uhr |
Von Ulrike Holzgrabe und Jens Schmitz, Würzburg / Ziconotid ist als Analgetikum bei schwersten Schmerzen zugelassen. Der Arzneistoff gehört zur Gruppe der peptidischen Conotoxine aus Kegelschnecken. Weitere Conotoxine und Analoga sind in der Pipeline, vor allem zur Behandlung neuropathischer Schmerzen. Die natürlichen Vorbilder zeigen, wie man stabile Peptide für eine perorale Applikation herstellen kann.
Die Natur hält ein unglaublich großes Arsenal an Arzneistoffen bereit. Weit mehr als die Hälfte unserer Arzneistoffe sind Naturstoffe oder von diesen abgeleitet (1). Die wichtigste Gruppe der Schmerzmittel, die Opioide, hat ihr Vorbild Morphin aus Papaver somniferum (2). Conotoxine gehören zu den aussichtsreichsten marinen Naturstoffen und werden derzeit intensiv erforscht.
Die im Meer lebenden, fleischfressenden Kegelschnecken (Conidae, Conus) ernähren sich räuberisch von Fischen, Weichtieren und Würmern (Abbildung 1). Da sie wesentlich langsamer als ihre Beute sind, haben sie im Lauf der Evolution einen hoch spezialisierten Vergiftungsmechanismus entwickelt. Mit hohlen, mit Widerhaken besetzten Harpunen, die sich aus den Zähnen der Raspelzunge (Radula) entwickelt haben, spritzen sie ein komplexes Gemisch von giftigen Peptiden, sogenannte Conotoxine (abgeleitet von Conus, Kegelschnecke) in das Opfer. Dieses wird binnen Sekunden paralysiert und stirbt. Die Schnecke zieht dann die Radula zurück und saugt dabei die Beute in sich hinein. Da die »abgeschossenen« Harpunen verbraucht sind, haben Kegelschnecken eine große Zahl an Ersatzharpunen (3).
Abbildung 1: Kegelschnecken (Conus) stellen eine große Gruppe beuterischer Seeschnecken dar, die durch ihr buntes konusförmiges Gehäuse auffallen. Sie leben vorwiegend in tropischen Gewässern. Im Bild: Conus magus.
Foto: mit freundlicher Genehmigung aus www.schnecken-und-muscheln.de
Das Gift ist nicht nur für die Beutetiere gefährlich, sondern auch für den Menschen. 1935 wurde der erste Fall einer Vergiftung durch einen Stich von Conus geographus in Australien von einem praktischen Arzt berichtet (4): »Der Patient sah doppelt, nach 30 Minuten waren die Beine paralysiert, nach 60 Minuten wurde der Patient bewusstlos und fiel ins Koma. Kurz vor dem Tod wurde der Puls schwach und schnell, verbunden mit einer langsamen und flachen Atmung. Der Tod trat fünf Stunden nach dem Stich durch die Kegelschnecke ein.« Die geschilderten Curare-ähnlichen Symptome sind auf die Interaktion des Gifts mit dem nikotinischen Acetylcholin-Rezeptor an der neuromuskulären Endplatte zurückzuführen.
Conotoxine dienen nicht nur der Kegelschnecke beim Beutezug und zur Feindabwehr, sondern können auch therapeutisch genutzt werden. Das 2004 in den USA und 2005 in Europa zugelassene ω-Conotoxin MVIIA Ziconotid (Prialt = Primary alternative therapy for morphine) ist ein lineares, polykationisches Peptid aus 25 Aminosäuren, davon sechs Cysteine, die drei Disulfidbrücken ausbilden, die die Struktur stabilisieren (Abbildung 2).
Die Zuordnung der Disulfid-reichen Conotoxine zu Superfamilien und Familien wird in Buchstaben und römischen Zahlen ausgedrückt; sie ist kompliziert und derzeit im Umbruch (8). Die Nomenklatur unterstreicht die Wichtigkeit der Cysteinverknüpfungen, die die dreidimensionale Struktur der Peptide bestimmen und stabilisieren. Hier ein vereinfachter Einblick in die Nomenklatur am Beispiel von MVIIA (Ziconotid).
Der erste Buchstabe bezeichnet die Herkunft. M: aus C. magus; Mr: aus C. marmoreus; P: aus C. purpurascens, G: aus C. geographus.
Die römische Zahl definiert die Struktur des Cysteingerüsts. In den Beispielen (unten) steht »CC« für nebeneinander liegende Cysteine; Cysteine in »C-C« können durch eine oder mehrere Aminosäuren voneinander getrennt sein.
Der letzte Buchstabe steht für die Reihenfolge der Entdeckung; »A« ist das erste Conotoxin der M-VII-Serie
Für weitere Details sei auf den Conoserver (www.conoserver.org) verwiesen (9).
Es wirkt stark analgetisch und wird zur Therapie von starken chronischen Schmerzen eingesetzt. Es wurde in den 1980er-Jahren von der Gruppe Olivera aus C. magus isoliert (5). Heute wird es mittels Festphasensynthese hergestellt. Das Arzneimittel wird dem Patienten intrathekal über ein Pumpensytem injiziert. Inzwischen suchen Forscher weltweit nach Conotoxinen mit pharmakologischer Wirkung, die man durch geschickte Strukturvariationen oral verfügbar machen kann.
Was sind Conotoxine?
Conotoxine sind relativ kleine Peptide aus 10 bis 40 Aminosäuren (< 5 Da), die als Präpropeptide genetisch kodiert sind und mittels Endoproteasen zurechtgeschnitten werden.
Man schätzt, dass in den etwa 600 Kegelschnecken-Spezies mehr als 100 000 verschiedene Conotoxin-Peptide vorkommen. Weniger als 0,1 Prozent davon sind isoliert und strukturell charakterisiert. Eine LC/MS-Studie hat kürzlich ergeben, dass eine Schnecke mehr als 1000 verschiedene Conotoxine herstellen kann, C. marmoreus sogar 1582 (6). Damit gehören die Conotoxine zu den vielfältigsten und aussichtsreichsten marinen Naturstoffen. Die große Diversität öffnet die Tür zu Wirkstoffen mit hoher Selektivität gegenüber molekularen Zielstrukturen und breiten therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten.
Um das riesige Potenzial ausschöpfen zu können, bedarf es raffinierterer Entdeckungsmethoden als die klassische Bioaktivitäts-geleitete Fraktionierung. Die kombinierte Anwendung mehrerer »Omics«-Techniken, die von Dutertre und Mitarbeitern als integrierter Venomics-Ansatz bezeichnet wurde (7), erlaubt die schnelle Identifizierung und Charakterisierung neuer Conotoxine im Gift der Schnecken. Dabei stellte sich heraus, dass das Transkriptom offensichtlich nicht nur von Schneckenart zu Schneckenart verschieden ist, sondern sogar von Schnecke zu Schnecke (7)! Jedoch gibt es strukturell ähnliche »Hotspots«, die für die spezifische Bindung, zum Beispiel an nikotinische Rezeptoren, verantwortlich sind, aber auch hochvariable Bausteine (8).
H-Cys(1S→16S)-Lys-Gly-Lys-Gly-Ala-Lys-Cys(8S→20S)-Ser-Arg-Leu-Met-Tyr-Asp-Cys(15S→25S)-Cys(16S→1S)-Thr-Gly-Ser-Cys(20S→8S)-Arg-Ser-Gly-Lys-Cys(25S→15S)-NH
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Abbildung 2: Aminosäuresequenz von Ziconotid und dreidimensionales Modell (zicono tide@3Dchem.com); der Zylinder stellt das Peptidrückgrat dar, darüber gelegt ist das elektrostatische Potenzial auf der Moleküloberfläche.
Foto: mit freundlicher Genehmigung aus www.3dchem.com
Neben der Variation in der Aminosäuresequenz wird die Diversität weiter erhöht durch vielfältige posttranslationale Modifikationen, zum Beispiel durch das Zurechtschneiden der Präpropeptide mittels Endoproteasen, die Ausbildung von Disulfidbrücken und zahlreiche Derivatisierungen.
Wie stabilisiert man Peptide?
Peptide sind nach oraler Applikation schlecht bioverfügbar, da sie im Magen-Darm-Trakt von Peptidasen schnell abgebaut und damit wirkungslos werden. Pflanzen, Tiere und Bakterien synthetisieren daher zyklische Peptide, die außerordentlich stabil sind.
Dieses Konzept beobachtete der norwegische Arzt Lorents Gran im Kongo. Frauen tranken einen Tee aus der Pflanze Oldenlandia affinis, um die Zeit der Wehen zu verkürzen. Gran fand in diesem Tee ein Peptid mit Uterus-aktiver Wirkung, das aus 29 Aminosäuren besteht (10). Das Peptid, genannt Kalata-B1, war offenbar hitzestabil (Teekochen) und überstand den Angriff der Peptidasen im Magen-Darm-Trakt. Des Rätsels Lösung: Eine Kopf-Schwanz-Verknüpfung durch intramolekulare Disulfidbrücken führt zu zyklischen Peptiden mit knotenartiger Struktur, die durch Peptidasen nicht mehr angegriffen werden kann (11).
Die Struktur von Kalata-B1, das zur Gruppe der häufig in Pflanzen vorkommenden, Cystein-reichen Cyclotide (12, www.cybase.org.au/) gehört, stand Pate für die Entwicklung des oral bioverfügbaren α-Conotoxin Vc1.1 (c: cyclisch). Dieses bei neuropathischem Schmerz analgetisch wirkende Peptid wurde ursprünglich aus Conus victoriae (V) isoliert; mittels Festphasensynthese sind nun größere Mengen zugänglich. Dabei werden die Enden des Peptids entweder durch ein Verbindungsstück (12) oder direkt miteinander verknüpft (13).
Wie erwähnt bestimmen die Disulfidbrücken die dreidimensionale Struktur der Cystein-reichen Conotoxine. Pharmakologisch interessante Peptide werden synthetisch an der Festphase hergestellt, wobei die oxidative Quervernetzung durch die Disulfidbrücken zum Schluss erfolgt. Aufgrund der vielfältigen Cysteine besteht die Gefahr, dass falsche Paarungen gebildet werden, die zu keiner bioaktiven Tertiärstruktur und damit zu unwirksamen Peptiden führen. Ein Peptid mit sechs Cysteinen hat theoretisch immerhin 15 Möglichkeiten, Cysteinbrücken auszubilden. Für die richtige Faltung hält die Natur Faltungsfaktoren (häufig Chaperone genannt) und Disulfidisomerasen vor.
»Im Kolben« kann man die Selenopeptid-Strategie nutzen. Selenocystein wird häufig als 21. proteinogene Aminosäure bezeichnet und kann Cystein ersetzen (14, 15). Da Diselenidbrücken schnell ausgebildet werden, beschleunigen sie den gesamten Faltungsvorgang des Peptids und machen es stabiler (16). Gezieltes Einsetzen von Selenocystein führt also schnell zu stabileren und strukturell richtigen Peptiden (z. B. 17, 18, 19), die in allen Fällen die gleiche pharmakologische Wirkung aufweisen.
Vom Omega bis Alpha
Conotoxine werden nach ihrer Zielstruktur und ihren molekularbiologischen/pharmakologischen Eigenschaften in unterschiedliche Familien eingeteilt (Tabelle). Diese werden mit griechischen Buchstaben benannt. Im Folgenden werden die wichtigsten Vertreter für die Indikationen chronischer und neuropathischer Schmerz vorgestellt.
Familie | Zielstruktur und Eigenschaft | Klinisches Potenzial |
---|---|---|
ω-Conotoxine | N-Typ-spannungsabhängige Calciumkanäle (Inhibitor) | Chronischer und neuropathischer Schmerz |
α-Conotoxine | Neuronale nikotinische Acetylcholin-Rezeptoren (Antagonist) GABAB-Rezeptor, N-Typ-spannungsabhängige Calciumkanäle (Agonist) | Chronischer und neuropathischer Schmerz, M. Parkinson, M. Alzheimer |
χ-Conotoxine | Noradrenalin-Transporter (allosterer Antagonist) | Chronischer und neuropathischer Schmerz |
Contulakine | Neurotensin-Rezeptor (Agonist) | Schmerz |
µ-Conotoxine | Spannungsabhängige Natriumkanäle in Muskeln (VGSC) (Inhibitor) | Schmerz |
Conantokine | NMDA-Rezeptor (Antagonist) | Schmerz, Epilepsie |
δ-Conotoxine | Neuronale Natriumkanäle (Agonist oder zeitverzögerte Inaktivierung) | Noch nicht bekannt |
κ-Contoxine | Neuronale Kaliumkanäle (Inhibitor) | Noch nicht bekannt |
Das erste Conotoxin zur Behandlung starker Schmerzen war Ziconotid. Das Peptid gehört zur Familie der ω-Conotoxine, die selektiv und reversibel neuronale (N-Typ-) Calciumkanäle inhibieren. Dieser Subtyp gehört zur Gruppe der spannungsabhängigen Calciumkanäle (voltage-gated calcium channels, VGCCs) und besteht aus der Primäreinheit α1B, die die Calcium-selektive Pore bildet, und vier weiteren Untereinheiten (α2δ, β1, β3 und β4), die die Funktion der Primäreinheit modulieren können.
N-Typ-Calciumkanäle sind in hoher Dichte in präsynaptischen nozizeptiven afferenten Neuronen im Hinterhorn des Rückenmarks lokalisiert und maßgeblich an der Weiterleitung, Wahrnehmung und Verarbeitung von akutem Schmerz, Hyperalgesie und Allodynie beteiligt. Den postulierten Mechanismus zeigt die Abbildung 3. Ein Nervenimpuls führt in den Nervenendigungen zunächst durch eine erhöhte Öffnungswahrscheinlichkeit der N-Typ-Kanäle zum Einstrom von Calciumionen. Die größere intrazelluläre Calciumkonzentration bedingt die Freisetzung verschiedener Neurotransmitter, zum Beispiel Glutamat oder Substanz P, aus Vesikeln in den synaptischen Spalt. Diese binden an postsynaptische Rezeptoren und lösen über verschiedene Mechanismen eine Depolarisation aus – der Nervenimpuls wird an die nächste Nervenzelle und letztlich ins Gehirn weitergegeben und dort verarbeitet (20).
Abbildung 3: Reizweiterleitung in afferenten Nervenzellen, bedingt durch N-Typ-Calciumkanäle. Hier greifen die ω-Conotoxine und das α-Conotoxin Vc1.1 ein.
Die ω-Conotoxine blockieren durch Bindung an die α1B-Primäreinheit die N-Typ-Calciumkanäle, wodurch die intrazelluläre Calciumkonzentration sinkt. Infolgedessen werden keine exzitatorischen Neurotransmitter freigesetzt; die Signalkaskade und somit die Weiterleitung des Schmerzsignals wird unterbrochen (21).
Kürzlich zeigten Untersuchungen, dass die N-Typ-Calciumkanäle gerade bei neuropathischen Schmerzen eine wichtige Rolle spielen (Kasten). Dies führt man darauf zurück, dass nach Nervenverletzungen, peripheren Gewebeentzündungen oder Polyneuropathien die α2δ-Untereinheit vermehrt gebildet wird. Dies geht einher mit einer erhöhten Expression der Poren-bildenden α1B-Einheit, führt so zu höheren intrazellulären Calciumspiegeln und begünstigt die pathologische Reizweiterleitung (22). Auch Gabapentin und Pregabalin, beide Mittel der ersten Wahl bei neuropathischen Schmerzen, greifen genau in diesen Mechanismus ein. Sie binden mit hoher Affinität an die α2δ-Untereinheit und unterbrechen so die Schmerzweiterleitung (23).
Ziconotid und Analoga
Die Anwendung von Ziconotid ist limitiert. Es wirkt zwar etwa 1000-fach stärker analgetisch als Morphin und löst keine Toleranzentwicklung aus. Jedoch muss der Arzneistoff intrathekal appliziert werden – eine orale Gabe ist aufgrund seiner Instabilität (peptidische Struktur), eine intravenöse Applikation wegen schwerer kardiovaskulärer Nebenwirkungen durch Blockade peripherer VGCCs im Sympathikus nicht möglich (24). Zudem hat Ziconotid nur ein enges therapeutisches Fenster und ein beachtliches Nebenwirkungsprofil. Neben dem aufgrund der intrathekalen Applikation erhöhten Risiko potenzieller Infektionen wie Meningitis treten häufig ZNS-Störungen wie Schwindel, Übelkeit, Nystagmus und Verwirrung auf.
In den letzten Jahren wurden einige neue ω-Conotoxine aus Conus catus isoliert. Erfolg versprechend sind Leconotid (CVID, AM336, CNSB004), CVIE und CVIF. Leconotid kann intravenös verabreicht werden, da die Verbindung eine höhere Affinität zu afferenten als zu sympathischen N-Typ-Calciumkanälen besitzt, wodurch die peripheren kardiovaskulären Nebenwirkungen geringer sind (25). Im Tierversuch war Leconotid hochwirksam bei diabetischen neuropathischen Schmerzen mit moderaten peripheren Nebenwirkungen (26).
Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (International Association for the Study of Pain, IASP) definiert neuropathische Schmerzen als »Schmerzen, die durch Läsionen oder Erkrankungen des somatosensorischen Systems hervorgerufen werden« (38). Im Gegensatz zu nozizeptiven Schmerzen ist das schmerzleitende und/oder schmerzverarbeitende System gestört. Daher sprechen neuropathische Schmerzen meist nicht auf Standard-Analgetika wie Paracetamol oder nicht-steroidale Antiphlogistika an, persistieren oft über die akute Schädigung hinaus und werden zu eigenständigen chronischen Erkrankungen.
Neuropathische Schmerzen äußern sich als Spontanschmerzen ohne direkte Reizauslösung (Brennen, Jucken, Kribbeln) sowie als reizausgelöste abnormale Schmerzen wie Hyperalgesie (übermäßige Schmerzempfindung auf einen üblicherweise nur mild schmerzhaften Reiz) oder Allodynie (starke Schmerzempfindung auf einen normalerweise nicht schmerzhaften Reiz wie das Tragen von Kleidung).
Therapeutika der ersten Wahl sind zurzeit: Inhibitoren von Natrium- (Carbamazepin) und Calciumkanälen (Gabapentin, Pregabalin), Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (trizyklische Antidepressiva, Venlafaxin) und Opioide (Tramadol, Morphin, Oxycodon). Daneben stehen Substanzen zur topischen Applikation in Form von Pflastern (Lidocain) oder Salben (Lidocain, Capsaicin) zur Verfügung (39).
Kürzlich wurde die analgetische Wirksamkeit bei starken Knochenkrebs-induzierten Schmerzen in einer Phase-2-Studie untersucht. Hier war Leconotid zwar dem Morphin unterlegen und nur schwach wirksam; jedoch wirkte die Kombination aus Morphin und Leconotid signifikant besser als die jeweilige Einzelsubstanz (synergistischer Effekt).
Problematisch: Die Affinität von Ziconotid und Leconotid zu den N-Typ-Calciumkanälen ist signifikant vermindert, wenn deren Untereinheit α2δ in hohen Konzentrationen vorhanden ist – wie es gerade bei neuropathischen Schmerzen der Fall ist. Dann sind höhere Dosierungen nötig, um einen analgetischen Effekt zu erzielen, was wiederum zu stärkeren Nebenwirkungen führt. Daraus resultiert die geringe therapeutische Breite.
Die neuen Verbindungen CVIE und CFIF scheinen hier überlegen zu sein. Sie inhibieren selektiv neuronale Calciumkanäle und interagieren nur wenig mit der Hilfsuntereinheit α2δ. Dadurch können sie niedriger dosiert werden. Ob dadurch Nebenwirkungen minimiert werden (27), müssen Studien erst noch zeigen.
α-Conotoxine
Conotoxine, die selektiv neuronale nikotinische Acetylcholinrezeptoren (nAChR) inhibieren, werden der pharmakologischen Familie α zugeordnet. Einzelne nAChR-Subtypen sind in unterschiedlichen Bereichen des Organismus lokalisiert und an einer Reihe von Erkrankungen beteiligt. Eine selektive Inhibierung könnte ein interessanter Ansatzpunkt in der Therapie beispielsweise von Morbus Parkinson, M. Alzheimer und neuropathischen Schmerzen sein (28).
Das erste α-Conotoxin, das eine gute Wirksamkeit bei Schmerzen zeigte, war Vc1.1. Dieses Peptid konnte nach intramuskulärer Injektion in verschiedenen Schmerzmodellen die mechanische Allodynie reduzieren oder aufheben und die Regenerierung verletzter Nerven beschleunigen (4). Der Wirkmechanismus wird kontrovers diskutiert. Die schmerzstillende Wirkung resultiert vermutlich aus der Summe verschiedener Mechanismen (Abbildung 3). Daran beteiligt sind nAChR, GABAB-Rezeptoren und N-Typ-Calciumkanäle.
Das aus Conus geographus isolierte Contulakin-G (CGX-1160) war nach intrathekaler Applikation in mehreren Tierstudien bei akuten und chronischen Schmerzen besser wirksam als Morphin (34). Der Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Man weiß nur, dass die Verbindung mit dem Neurotensin-Rezeptor 1 interagiert, dabei aber 100-fach stärker analgetisch wirksam ist als der endogene Ligand Neurotensin. Zurzeit befindet sich Contulakin-G in Phase-1 der klinischen Entwicklung (35).
Seit über 100 Jahren werden Lokalanästhetika wie Benzocain zur lokalen Schmerztherapie verwendet. Diese wirken durch Blockade peripherer Natriumkanäle anästhetisch und analgetisch, können jedoch aufgrund ihrer fehlenden Selektivität auch Natriumkanäle am Herzen oder ZNS inhibieren. Dies führt zu schweren kardialen Nebenwirkungen und ZNS-Funktionsstörungen und macht eine systemische Anwendung unmöglich. Dagegen inhibieren die µO-Conotoxine MrVIB (aus Conus marmoreus) und MfVIA (aus Conus magnificus) selektiv den spannungsabhängigen Natriumkanal NaV1.8, der hauptsächlich in primären afferenten Neuronen exprimiert wird. Beide Verbindungen waren in ersten Untersuchungen analgetisch wirksam und sind nun attraktive Leitstrukturen für die Entwicklung neuer systemisch anwendbarer Natriumkanalblocker (36).
Ausgehend von Vc1.1 konnten Wissenschaftler das stabile, oral verfügbare, cyclische Analogon cVc1.1 synthetisieren. In einer Tierstudie reduzierte eine einmalige Gabe des Analogons dosisabhängig signifikant eine mechanische Allodynie. Die Verbindung war hundertmal potenter als Gabapentin. Erste Humanstudien sind bei der FDA beantragt.
χ-Conotoxine
Die χ-Conotoxine inhibieren über einen allosterischen Mechanismus selektiv neuronale Noradrenalin-Transporter (NET), die in absteigenden inhibierenden Bahnen des unteren Hirnstamms lokalisiert sind (29). Diese Transporter modulieren die Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA) aus dem synaptischen Spalt und tragen so wesentlich zur NA-Homöostase bei. Durch Inhibition der NET steigt die Konzentration an NA im synaptischen Spalt. Dadurch kommt es zu einer verstärkten Aktivierung präsynaptischer α2-Adrenozeptoren und infolgedessen zur Hemmung nozizeptiver afferenter Schmerzbahnen.
Genau hier greift ein lange bekanntes Analgetikum an: Tramadol, dessen Wirkmechanismus bis heute nicht völlig aufgeklärt wurde. Es inhibiert – neben der Aktivierung von µ-Opioidrezeptoren und der Freisetzung von Serotonin – die Wiederaufnahme von Adrenalin durch NET (30, 31).
In Tierstudien war das aus Conus marmoreus isolierte χ-Conotoxin MrIA nach intrathekaler Applikation in neuropathischen Schmerzmodellen sehr potent wirksam, ohne signifikante Nebenwirkungen zu zeigen. MrIA ist jedoch chemisch sehr instabil. Das synthetische Analogon Xen2174 (Pyroglutamat1-MrIA) war in präklinischen Studien sehr potent wirksam bei chronischen neuropathischen und akuten postoperativen Schmerzen (32). Eine Phase-1-Studie mit gesunden Probanden brachte positive Ergebnisse. Es folgte eine offene Phase-2a-Studie mit 37 Krebspatienten mit starken chronischen Schmerzen, die auf konventionelle Therapien nicht ansprachen. Intrathekal appliziertes Xen2174 war sehr schnell wirksam und wurde in einem großen Dosisbereich (Bolusdosis von 0,1 bis 30 mg) gut vertragen. Zurzeit wird eine doppelblinde Phase-2b-Studie mit Patienten mit postoperativen Schmerzen nach der Entfernung eines Hallux valgus (Schiefstellung des großen Zehs) vorbereitet (33).
Zusammenfassung
Conotoxine könnten aufgrund ihrer einzigartigen pharmakologischen Eigenschaften (hohe Selektivität und hohe Aktivität) künftig einen wichtigen Platz in der Schmerztherapie, vor allem bei neuropathischen Schmerzen einnehmen. Der Grundstein wurde 2005 mit der Zulassung von Ziconotid gelegt; heute befinden sich weitere Erfolg versprechende Conotoxine in der Pipeline. Durch synthetische Modifikationen kann man sogar Analoga erhalten, die aufgrund ihrer höheren Stabilität peroral appliziert werden können.
Aber nicht nur für die Indikation Schmerz bieten Conotoxine neue Ansatzpunkte. Es gibt Anzeichen, dass sie ein großes Potenzial in der Therapie von Morbus Alzheimer und M. Parkinson, Multipler Sklerose oder Epilepsie aufweisen. Daneben wurde erst kürzlich gezeigt, dass das Conotoxin Conkunitzin-S1 die Insulinfreisetzung in der Bauchspeicheldrüse beeinflussen kann. Dies könnte ein neuer Ansatzpunkt für die Therapie von Typ-2-Diabetes sein (37). Es wird spannend, was die Conotoxin-Forscher in den nächsten Jahren herausfinden werden. /
Literatur
... bei den Verfassern
Ulrike Holzgrabe studierte von 1974 bis 1979 Chemie in Marburg und von 1978 bis 1981 Pharmazie in Marburg und Kiel. Es folgten Approbation, Promotion und Habilitation in Pharmazeutischer Chemie sowie 1990 Rufe auf C3-Professuren nach Bonn und Berlin. Als C3-Professorin ging Holzgrabe bis 1999 nach Bonn, bevor sie nach Rufen auf C4-Professuren nach Tübingen, Münster und Würzburg schließlich 1999 Lehrstuhlinhaberin in Würzburg wurde. Den Ruf auf eine C4-Professur 2004 in Berlin lehnte sie ab, gleichermaßen das Angebot zur BfArM-Präsidentschaft 2008. Holzgrabe war von 1997 bis 1999 Prorektorin der Universität Bonn und von 2004 bis 2007 Präsidentin der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG). Seit 2008 ist sie Mitglied des Executive Committees der European Federation for Pharmaceutical Sciences (EUFEPS). Holzgrabe ist Vorsitzende des BfArMAusschusses »Pharmazeutische Chemie« sowie Mitglied der Deutschen Arzneibuchkommission und des wissenschaftlichen Beirats am BfArM. Gleichermaßen ist sie Mitglied der Europäischen Arzneibuchkommission.
Jens Schmitz studierte von 1999 bis 2004 Pharmazie in Würzburg und erhielt 2005 die Approbation als Apotheker. 2008 wurde er in Pharmazeutischer Chemie promoviert und arbeitet seitdem als Postdoc am Lehrstuhl für Pharmazeutische und Medizinische Chemie in Würzburg.
Professor Dr. Ulrike Holzgrabe, Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, Universität Würzburg, Am Hubland, 97074 Würzburg. E-Mail: u.holzgrabe(at)pharmazie.uni-wuerzburg.de