Wirkung ohne Wirkstoff |
15.11.2017 10:35 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Der Placebo-Effekt ist keine reine Kopfsache, sondern basiert auf messbaren physiologischen Veränderungen im Körper. Wie er in der medizinischen Praxis noch besser genutzt werden könnte, wurde auf einer Tagung in Berlin diskutiert.
In klinischen Studien haben Placebos üblicherweise die Rolle der inaktiven Kontrolle, mit der Arzneistoffe verglichen werden. Tatsächlich sind Placebos aber auch selbst wirksam, wie Professor Dr. Ulrike Bingel vom Universitätsklinikum Essen erklärte: »Vergleicht man Patienten, die im Rahmen von klinischen Studien mit Placebos behandelt wurden, mit Patienten in Wartekontrollgruppen, die gar keine Behandlung erhielten, geht es denen mit Placebo-Therapie besser.« Das sei für viele Indikationen gezeigt worden.
Erwartung und Lernen
Placebo- und Nocebo-Effekte sind immer vorhanden, auch bei Medikamenten, die Wirkstoffe enthalten. Wichtig für die Wirkung ist die Erwartung des Patienten.
Foto: iStock/Paul Bradbury
Der Placebo-Effekt basiert auf der Erwartung, die ein Patient auf eine Behandlung richtet und die durch Faktoren wie Vorerfahrung und Lernen verstärkt werden kann. Solche kognitiven und emotionalen Faktoren gelten in der Medizin eigentlich als weich; im Fall des Placebo-Effekts stoßen sie aber handfeste physiologische Prozesse an, wie Bingel ausführte. Bereits Ende der 1970er-Jahren sei in einer bahnbrechenden Arbeit gezeigt worden, dass man den analgetischen Effekt von Placebos bei Zahnschmerz-Patienten löschen oder reduzieren kann, wenn man diesen gleichzeitig einen Opioid-Antagonisten gibt.
Die Placebo-Analgesie, der am besten verstandene Placebo-Effekt, werde über das schmerzmodulierende absteigende System vermittelt. Verschiedene körpereigene Neurotransmitter seien hier involviert, darunter Opioide, Dopamin und Cannabinoide. Diese blockierten die Schmerzleitung bereits auf Ebene des Rückenmarks.
Doch der Placebo-Effekt ist nicht auf die Schmerzlinderung beschränkt. »Wir kennen heute kein System im Körper, für das keine Placebo-Effekte beschrieben sind«, informierte die Neurologin, die die Wirkung von Placebos im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschergruppe ergründet. Als Beispiele nannte sie die durch Placebo ausgelöste Ausschüttung von Dopamin im Gehirn von Parkinson-Patienten und eine Placebo-induzierte Drosselung des Immunsystems nach vorheriger Konditionierung mit Ciclosporin A (»Nature Neuroscience« 2004, DOI: 10.1038/nn1250 und »FASEB« 2002, DOI: 10.1096/fj.02-0389com).
Solche experimentellen Studien sind meist nur von kurzer Dauer, aber Placebo-Effekte können auch lange anhalten. Das lässt sich wiederum anhand von Patienten zeigen, die in Kontrollgruppen von randomisierten klinischen Studien mit Placebos behandelt wurden. Eine Metaanalyse ergab 2008, dass bei diabetischer Polyneuropathie die Placebo-Analgesie mit der Dauer der Behandlung über mehrere Wochen sogar stärker wurde (»Pain«, DOI: 10.1016/j.pain.2008.06.024).
»Alle diese Erkenntnisse über die Reaktionen auf Placebos haben aber einen großen Haken: Sie sind in Situationen entstanden, in denen Patienten entweder nur partiell informiert waren oder sogar gezielt in die Irre geführt wurden«, sagte Bingel. In der klinischen Praxis sei das jedoch mit einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung nicht vereinbar und sowohl juristisch als auch ethisch nicht vertretbar. Dennoch lasse sich der Placebo-Effekt auch hier nutzen, weil er nämlich erstaunlicherweise auch dann vorhanden ist, wenn der Patient weiß, dass er gerade ein Placebo erhält.
Auch bei offener Placebo-Gabe
Das wurde unter anderem 2014 in einer Studie mit 66 Migräne-Patienten nachgewiesen (»Science Translational Medicine«, DOI: 10.1126/scitranslmed. 3006175). Die Patienten erhielten bei einer Attacke entweder Placebo oder Rizatriptan, die jeweils unterschiedlich gelabelt waren: als Placebo, Verum oder unbekannt (Verum oder Placebo). Insgesamt sechs Migräne-Attacken pro Patient wurden behandelt, sodass jeder Teilnehmer randomisiert jede Kombination aus Inhalt der Tablette und Label einmal erhielt. Das Ergebnis: Ein als Placebo gelabeltes Verum war gleich wirksam wie ein als Verum gelabeltes Placebo. 50 Prozent der Wirkung gingen auf das Etikett, also die Erwartung zurück. Auch ein Placebo, auf dem Placebo draufstand, wirkte besser als keine Behandlung.
»Aktuelle Bestrebungen gehen in die Richtung, solche Effekte zu nutzen, obwohl wir ehrlich gesagt noch kaum verstehen, wie sie zustande kommen«, sagte Bingel. Die Wirkung offen verabreichter Placebos sei außer bei Migräne an kleinen Fallzahlen auch schon bei Reizdarm, Depression und chronischem Rückenschmerz gezeigt worden. Hier sei allerdings noch viel Forschungsarbeit notwendig. Bereits heute könne man jedoch den Placebo-Effekt schon gezielt einsetzen, weil er nämlich auch bei Verum-Behandlungen einen nennenswerten Anteil an der Wirkung hat.
Das konnte unter anderem der italienische Placebo-Forscher Fabrizio Benedetti in mehreren Studien nachweisen (lesen Sie dazu auch www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php? id=44589). »Wird ein Patient darüber informiert, dass er gerade ein Schmerzmittel erhält, verdoppelt das gegenüber einer verdeckten Gabe den analgetischen Effekt«, fasste Bingel zusammen. Der Placebo-Effekt von Verum-Therapeutika – korrekterweise vielleicht eher als Erwartungs-Effekt zu bezeichnen, weil es sich ja nicht um Placebos handelt – trage im klinischen Alltag substanziell zur Wirkung bei.
Vor diesem Hintergrund muss es erschrecken, dass viele Patienten de facto mit verdeckten Therapien behandelt werden, weil sie nicht verstehen oder vergessen haben, wogegen ihre Medikamente wirken. »In einer US-amerikanischen Untersuchung konnten nach einem Hausarztbesuch nur 50 Prozent der nicht dementen Patienten adäquat wiedergeben, was gerade mit ihnen besprochen worden war«, sagte Bingel. Beim Wissen von Patienten über ihre Medikation bestehe auch hierzulande eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Nocebo-Effekt durch Lesen der Packungsbeilage
Nur wenn Patienten gut über die Wirkung ihrer Medikamente informiert werden, können diese optimal wirken.
Foto: iStock/Steve Debenport
Die Packungsbeilage, die dem Patienten eigentlich neutrale Informationen über das Medikament liefern sollte, weckt in ihrer heutigen Form jedoch eher negative als positive Erwartungen, löst also einen Nocebo- statt eines Placebo-Effekts aus. Der Nocebo-Effekt kann so stark sein, dass er die die eigentlich vorhandene Wirksamkeit eines Medikaments aufhebt, wie Bingel in einer eigenen Studie zeigen konnte (»Science Translational Medicine« 2011, DOI: 10.1126/scitranslmed.3001244). Positive Erwartung verdoppelte darin die Wirkung des Opioids Remifentanil, negative nivellierte sie.
»Ich glaube, dass solche Experimente das tatsächliche Ausmaß dieses Effekts nicht über-, sondern sogar unterschätzen«, sagte Bingel. Viele Patienten akkumulierten über Monate und Jahre frustrane Erfahrungen mit erfolglosen Therapieversuchen. Die Folge sei eine extrem negative Erwartung gegenüber neuen Behandlungen. »Dieser Effekt trägt stark dazu bei, dass in der Klinik manchmal Dinge, die wir aus pharmakologischer Sicht für sehr Erfolg versprechend halten, nicht funktionieren.« /
Potenzial nutzen
Der Placebo-Effekt, den auch Medikamente mit einem Wirkstoff haben, muss besser genutzt werden. Erwarten Patienten von einer Behandlung, dass sie ihnen hilft, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das tatsächlich tut, sehr viel größer als bei einer negativen Erwartungshaltung. Um den Placebo-Effekt bewusst einzusetzen und gleichzeitig den Nocebo-Effekt zu vermeiden, müssen aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens müssen Ärzte und Apotheker sich bewusst sein, dass die Art und Weise, wie sie über ein Medikament sprechen, über dessen Erfolgsaussichten mitentscheidet. Positive Effekte hervorzuheben, ohne mögliche negative Wirkungen zu verschweigen, ist eine Gratwanderung, die viel Einfühlungsvermögen erfordert. Dazu – und das ist die zweite Voraussetzung – braucht man Zeit. Zeit, um sich dem Patienten zuzuwenden, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und darauf einzugehen. Zeit ist jedoch im modernen Medizinbetrieb eine knappe Ressource. Unter anderem deshalb müssten die sprechende Medizin und die beratende Pharmazie besser bezahlt werden.
Annette Mende
Redakteurin Pharmazie