Überreagiert oder zu lange gewartet? |
05.11.2013 16:50 Uhr |
Von Annette Mende, Hamburg / Das Schmerzmittel Flupirtin darf seit einem Beschluss der europäischen Arzneimittelagentur EMA Ende Juni nur noch kurzzeitig und unter engmaschiger Kontrolle der Leberwerte verordnet werden. Diese Einschränkung kam zu spät, kritisiert jetzt die ARD-Sendung »Kontraste«. Im Gegenteil: Die Behörde hat damit überreagiert, sagt ein Schmerztherapeut.
»Eigentlich vertrauen wir doch darauf, dass Arzneimittel von den zuständigen Behörden streng kontrolliert werden und dass die Pharmakonzerne alle Risiken offenlegen müssen. Doch unsere Autoren haben gefährliche Mängel in diesem angeblich sicheren System entdeckt.« Bereits nach dieser Anmoderation in der »Kontraste«-Sendung am 24. Oktober war klar, wie die Rollen in dem folgenden Beitrag verteilt sein würden: Armer Patient hier, böse Pharmaindustrie und schlampige Behörde dort.
Klare Rollenverteilung
Die Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Den Fall eines Patienten, der wegen chronischer Rückenschmerzen mit Flupirtin behandelt wurde und der in der Folge nach einem Leberversagen eine Organtransplantation benötigte, nahm der Beitrag zum Anlass, um das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wegen angeblicher Untätigkeit scharf zu kritisieren. Bereits 2007 habe die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) »alarmierende Zahlen« veröffentlicht. Das BfArM sei jedoch untätig geblieben.
Gesundheitsthemen im Fernsehen sind beliebt. Gerade deshalb wäre es wünschenswert, dass die Zuschauer die gesamte Wahrheit erfahren.
Foto: Fotolia/Brian Jackson
Die AkdÄ hatte damals eine Auswertung der Verdachtsfälle unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) des Spontanmeldesystems vorgelegt, der zufolge 151 von 449 gemeldeten Fällen die Leber betrafen, darunter 70 Hepatitiden, sieben Fälle von Leberversagen und vier Todesfälle. Da Transaminasenerhöhungen und Hepatitiden in der Fachinformation als »sehr seltene«, also in weniger als 1 von 10 000 Fällen zu erwartende UAW aufgeführt waren, kam die AkdÄ zu der Einschätzung, »dass die Inzidenz Flupirtin-induzierter Leberschäden bislang möglicherweise unterschätzt wurde«, und rief dazu auf, weitere Verdachtsfälle zu melden. Geboten war das vor allem angesichts steigender Verordnungszahlen – 2006 wurden in Deutschland 17,1 Millionen definierte Tagesdosen (DDD) verordnet, was gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme um 40 Prozent bedeutete.
Gleichzeitig erinnerte die AkdÄ daran, dass die Substanz laut Fachinformation bei Patienten mit vorbestehender Lebererkrankung oder Alkoholmissbrauch kontraindiziert sei und bei längerer Anwendung die Leberwerte regelmäßig kontrolliert werden sollten. Diesen Hinweis verschwiegen jedoch die »Kontraste«-Macher und behaupteten erstens, es habe keine Warnhinweise gegeben und zweitens, das BfArM habe keinen Anlass gesehen zu handeln und stattdessen »weiter Fälle von geschädigten Patienten gesammelt«. Diesen Vorwurf weist das BfArM in einer aktuellen Stellungnahme zurück und betont, dass sich aus damaliger Sicht keine Änderung der Risikobewertung von Flupirtin ergeben habe.
BfArM beantragte Überprüfung
Weiter kritisierte »Kontraste«, dass die Anwendung des Arzneistoffs erst 2013 in einem Rote-Hand-Brief auf »Ausnahmefälle« und eine maximale Therapiedauer von zwei Wochen beschränkt worden sei. Durch seine zögerliche Haltung und das Versäumnis, frühzeitig eine Überprüfung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses einzuleiten, habe das BfArM weitere Leberschäden von Patienten durch Flupirtin und sogar Todesfälle in Kauf genommen. »Dieser Vorwurf ist ungerecht«, sagte jedoch Dr. Eckhard Beubler, Pharmakologie-Professor an der Universität Graz, gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung. »Die Lebertoxizität von Flupirtin war schon lange bekannt. Nur der enorme Zuwachs an Verschreibungen machte die Häufigkeit deutlicher sichtbar.« Die Behörde könne man für den Anstieg der Verschreibungen nicht verantwortlich machen.
Der Vorwurf der Untätigkeit erstaunt auch insofern, als das BfArM diejenige nationale Behörde innerhalb der EU ist, die das Verfahren beim Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz der EMA (PRAC) beantragte, dessen Ergebnis die genannten Anwendungsbeschränkungen sind.
Der PRAC empfahl Mitte Juni, Flupirtin nur noch zur maximal zweiwöchigen Behandlung akuter Schmerzen bei Erwachsenen einzusetzen, die nicht mit anderen Schmerzmitteln wie NSAR oder schwach wirksamen Opioiden therapiert werden können. Die Patienten dürfen nicht unter vorbestehenden Erkrankungen der Leber leiden, Alkohol missbräuchlich konsumieren oder andere Arzneimittel einnehmen, die möglicherweise die Leber schädigen. Während der Anwendung sind die Leberwerte wöchentlich zu bestimmen.
Experte kritisiert Einschränkungen
Das sind strenge Vorschriften – zu streng, wie Privatdozent Dr. Michael A. Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, auf dem Schmerzkongress in Hamburg bei einer von Teva unterstützten Veranstaltung monierte. Sein Vorwurf: Die Mitglieder des PRAC seien zwar hochkompetent, aber leider nur in einem einzigen Gebiet, nämlich der Pharmakovigilanz. Ihr oberstes Ziel sei Sicherheit, und zwar in der Theorie, nicht jedoch in der praktischen Anwendung. »Der PRAC macht Medikamente so sicher, dass er sie uns wegnimmt, weil er uns nicht mehr zutraut, dass wir damit arbeiten können«, so Überall.
Die Vorschrift, nach der die Behandlungsdauer zwei Wochen nicht überschreiten darf, gleichzeitig aber wöchentlich die Leberwerte zu bestimmen sind, nannte Überall »in sich nicht logisch«. »Entweder nimmt der PRAC an, dass der Wirkstoff in der Kurzzeitanwendung sicher ist. Oder die Empfehlung lautet, regelmäßige Kontrollen zu machen, um Auffälligkeiten zu bemerken und die Therapie rechtzeitig abzusetzen. Beides zu fordern ist, als würde man Gürtel und Hosenträger gleichzeitig tragen. Am Ende weiß man nicht, warum die Hose hält«, so der Schmerztherapeut.
Die Empfehlung des PRAC, Flupirtin nur dann einzusetzen, wenn NSAR oder schwach wirksame Opioide nicht infrage kommen, konnte Überall ebenso wenig nachvollziehen. Mit seiner dualen Wirkung der Schmerzlinderung einerseits und der Muskelentspannung andererseits eigne sich Flupirtin besonders zur Behandlung von Patienten mit schmerzhaften Muskelverspannungen. »Wir wissen aber aus Studien, dass NSAR und Opioide bei muskulär bedingten Schmerzen nicht wirken. Diese Medikamente sind daher bei dieser Schmerzform überhaupt nicht indiziert.« Zudem seien auch sie nicht frei von – teilweise ebenfalls lebensbedrohlichen – Nebenwirkungen.
Beubler sieht das anders: »Ich bin ganz auf der Seite des PRAC. Die Einschränkung bringt in Erinnerung, dass Analgetika Nebenwirkungen haben, die von Patienten und Ärzten zu wenig beachtet werden«, sagte er der PZ. Überalls Argumentation sei zwar pointenreich, aber gefährlich, zumal auch andere Analgetika bei Muskelschmerzen wirksam seien. Besonders gefährlich würden Nebenwirkungen bei längerer Einnahme, wenn noch andere (OTC-)Präparate hinzukämen. /
Der falsche Skandal
Vereinfachen, zuspitzen, polarisieren: Davon leben Magazin-Sendungen im Fernsehen. In ihrem Beitrag über Flupirtin hat die »Kontraste«-Redaktion dabei allerdings den falschen Skandal zum Thema gemacht. Nicht die vermeintliche Untätigkeit des BfArM in Bezug auf die Lebertoxizität von Flupirtin ist empörend. Skandalös ist vielmehr, dass der Arzneistoff offenbar häufig ohne die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen eingesetzt wurde. Unter Beachtung der Kontraindikationen und bei engmaschiger Kontrolle der Leberwerte ist die Anwendung von Flupirtin sicher. Das bestätigt die Einschätzung des PRAC, der zwar den Einsatz rigoros beschränkte, aber eben nicht unterband. Hoffentlich führt diese Warnung von höchster Stelle dazu, dass künftig alle Ärzte die Fachinformation lesen und beachten, bevor sie ein Flupirtin-Rezept ausstellen. Dazu sind sie eigentlich sowieso verpflichtet. Tun sie es nicht, ist das wirklich ein Skandal.
Annette Mende
Redakteurin Pharmazie