Kilos mit Krankheitswert |
06.11.2012 12:30 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Adipositas ist nicht nur ein Risikofaktor für Folgekrankheiten wie Typ-2-Diabetes und Atherosklerose, sondern selbst eine chronische Erkrankung. An ihrer Entstehung sind auch genetische Varianten beteiligt.
Fast ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands ist fettleibig. Die Zahl der Adipösen ist in den vergangenen Jahren zwar langsam, aber stetig gestiegen. Die Fettleibigkeit hat sich zu einem enormen Kostenfaktor im Gesundheitswesen entwickelt: Schätzungen gehen davon aus, dass sie in Deutschland jährlich Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro verursacht. Dringend gesucht sind daher erfolgversprechende Konzepte zur Bekämpfung des Problems.
Adipositas wird in Deutschland nicht als eigene Erkrankung anerkannt. Krankenkassen sind daher nicht dazu verpflichtet, Behandlungskosten zu übernehmen.
Foto: imago/UPI Photo
Um Adipositas zielgerichtet zu behandeln, muss man zunächst einmal verstehen, wie sie entsteht. Daran sind bis zu einem gewissen Grad die Gene beteiligt. »Mindestens 50 Prozent, manche sagen sogar bis zu 80 Prozent der Varianz des Körpergewichts ist erblich bedingt«, sagte Professor Dr. Anke Hinney, Universität Duisburg-Essen, auf einem Fachsymposium des Kompetenznetzes Adipositas in Berlin. Das hätten Zwillingsstudien bereits in den 1950er-Jahren ergeben.
»Schwere« Genfehler
Einige dieser sogenannten Adipositas-Gene konnten in den vergangenen Jahren identifiziert werden. Dabei unterscheidet man Hinney zufolge zwischen mono- und polygenen Effekten. Ein Beispiel, in dem die Mutation eines einzigen Gens gleich zu extremer Adipositas führt, ist der Melanokortin-4- Rezeptor (MC4R). Über diesen Rezeptor läuft die Verarbeitung Leptin-vermittelter Signale im Gehirn. Dieser von den Fettzellen ausgeschüttete Botenstoff wirkt appetithemmend. Bei einer Mutation im MC4R-Gen bleibt die dämpfende Wirkung des Leptins auf das Hungergefühl aus. »Das Körpergewicht von Trägern dieser Mutation ist um durchschnittlich 15 bis 30 kg erhöht«, so Hinney.
Durch Zufall kamen Hinney und Kollegen einer Möglichkeit zur medikamentösen Behandlung dieser Form der Adipositas auf die Spur. »Wir hatten in unserer Klink einen jugendlichen Patienten mit MC4R-Mutation, der gleichzeitig an ADHS litt«, erklärte die Psychiaterin. Auf die eingesetzte Therapie mit Methylphenidat (Ritalin®) besserten sich nicht nur die Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, der Patient nahm auch extrem viel Gewicht ab. »Wir vermuten, dass es eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen Neurotransmittern im Gehirn gibt, die das erklärt«, sagte Hinney. Allerdings sei die Aussagekraft eines solchen Einzelfallberichts begrenzt und reiche keinesfalls für eine generelle Therapieempfehlung.
Bei den allermeisten Adipösen lässt sich ohnehin nicht ein einziges Gen als Ursache für die Fettleibigkeit ausmachen. Weitaus häufiger sind polygene Effekte. Das bedeutet, dass an der Entstehung der Adipositas viele Gene beteiligt sind. Jede einzelne genetische Variante hat dann keinen so starken Einfluss, sondern bewirkt durchschnittlich nur eine Erhöhung des Körpergewichts um 500 g. »Diese Gene findet man durch genomweite Assoziationsstudien mit sehr vielen Probanden«, erklärte Hinney. Vor zwei Jahren veröffentlichte ein internationales Forscherteam im Fachjournal »Nature Genomics« das Ergebnis einer riesigen Metaanalyse (doi: 10.1038/ng.686). Es sind 32 Genorte, die nachweislich mit einem erhöhten Body-Mass-Index (BMI) assoziiert sind.
Doch trotzdem der maximale Effekt all dieser 32 Genvarianten 5,5 BMI-Einheiten ausmacht, erklären sie nur etwa 5 Prozent der genetischen Varianz des BMI. »Ruft man sich in Erinnerung, dass wahrscheinlich die Hälfte der Ausprägung des Körpergewichts durch genetische Varianten bestimmt wird, besteht hier also eine Riesendiskrepanz«, sagte Hinney. Weitere Forschung sei daher dringend erforderlich, um diese Wissenslücke zu schließen.
Gute und schlechte Adipositas
Unabhängig davon, welche genetischen Varianten zur Entstehung der Adipositas geführt haben, müssen Ärzte bei der Behandlung der Fettleibigkeit verschiedene Formen unterscheiden. Das betonte Professor Dr. Hans Hauner von der Technischen Universität München. Der BMI, anhand dessen die Adipositas definiert ist (siehe Kasten), beschreibe zwar grob die Körperfettmasse. »Über die Risiken sagt er aber nicht allzu viel aus«, so Hauner.
Etwa 10 bis 30 Prozent der betroffenen Erwachsenen hätten eine sogenannte benigne Adipositas, seien also trotz stark erhöhter BMI-Werte ansonsten gesund. Vor allem eine viszerale Fettakkumulation führe dagegen häufig zu Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes und Atherosklerose. Daher werde diese Form auch als maligne Adipositas bezeichnet. »Ihre Prognose ist sogar schlechter als beim Durchschnitt aller Krebserkrankungen«, sagte Hauner.
Der Ernährungsmediziner kritisierte, dass trotz des Krankheitswerts der überschüssigen Kilos Fettleibigkeit in Deutschland nicht als Krankheit anerkannt werde. »Und das, obwohl die Weltgesundheitsorganisation die Adipositas bereits im Jahr 2000 als eine chronische Erkrankung definiert hat«, so Hauner. Da hierzulande die Anerkennung als eigenständige Krankheit fehle, seien die Krankenkassen nicht dazu verpflichtet, die Kosten konservativer Gewichtsreduktionsprogramme oder einer chirurgischen Therapie zu übernehmen. Häufig lehnten die Krankenkassen die Kostenübernahme von Adipositas-Therapien mit dem Argument ab, dass die Patienten ihren Zustand selbst verschuldet hätten.
In diesen Fällen kann es sich lohnen, gegen den ablehnenden Bescheid zu klagen. Darauf wies Dr. Wolfgang Voit, Jura-Professor an der Universität Marburg, hin: »Die Sozialgerichte verwenden das Argument, dass Adipositas ein selbst herbeigeführter Zustand ist, in ihren Entscheidungen nicht.« Sollten einzelne Krankenkassen die Bezahlung mit dieser Begründung ablehnen, entspräche das nicht der aktuellen Rechtsprechung.
Aus Sicht des Juristen sind zunächst einmal die Ärzte gefordert: Sie müssten einheitlich definieren, in welchen Fällen eine Behandlung notwendig ist, um Folgeerkrankungen zu vermeiden. »Sobald darüber Konsens herrscht, werden die Kassen auch zur Kostenübernahme bereit sein«, glaubt Voit. /