Kampf der Immunsysteme |
20.10.2008 11:08 Uhr |
Kampf der Immunsysteme
Von Christina Hohmann, Mainz
Bei der Leukämiebehandlung haben Mediziner bislang das Knochenmark der Patienten durch aggressive Chemo- und Radiotherapie zerstört. Heute gehen sie dazu über, das kranke Knochenmark durch das Immunsystem des Spenders beseitigen zu lassen.
Die Knochenmarktransplantation, auch als Blutstammzelltransplantation bezeichnet, ist ein sehr kompliziertes Verfahren, das immer noch mit einem hohen Risiko und einer hohen Mortalität verbunden ist. Dabei werden Blutstammzellen, die sich in verschiedene Blutzelltypen differenzieren können, einem Spender entnommen und einem Empfänger transfundiert. »Der klassische Weg ist, Stammzellen über die Punktion von Beckenknochen zu gewinnen«, sagte Privatdozent Dr. Wolfgang Herr von der Universitätsklinik Mainz auf dem Symposium »Therapeutische Innovationen« der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Hierfür wird dem Spender unter Vollnarkose durch mehrfache Punktion des Beckenkamms etwa ein Liter Knochenmark-Blut-Gemisch entnommen. »Dies ist sehr schmerzhaft«, sagte Herr. »Heute können Blutstammzellen eleganter gewonnen werden, nämlich aus dem Blut.« Dies enthält die benötigten Zellen aber nicht in ausreichender Zahl. Daher werden die Spender mit einem Hormon, dem sogenannten Granulozyten-Kolonien-stimulierenden Faktor (G-CSF), vorbehandelt. Dies bewirkt, dass die Blutstammzellen aus dem Knochenmark vermehrt in den Blutstrom übertreten. Eine Woche nach dieser Mobilisierung lassen sich die Stammzellen mittels Leukapherese (Zellauftrennungsverfahren) isolieren. »Seitdem sich dieses Verfahren etabliert hat, ist die Zahl der Spendewilligen weltweit stark angestiegen«, berichtete der Mediziner. In Deutschland sind in den verschiedenen Spenderregistern mittlerweile etwa 3,3 Millionen Menschen gelistet. Weltweit sind etwa 12,5 Millionen zu einer Spende bereit.
Neben diesen beiden Wegen gibt es noch die Möglichkeit, Blutstammzellen aus Nabelschnurblut zu gewinnen. Direkt nach der Geburt wird das Blut aus der abgeklemmten Nabelschnur abgesaugt und aus diesem die Zellen isoliert. Erstmals transplantiert wurden auf diese Weise gewonnene Zellen bereits 1988. Seitdem sind mehr als 7700 Menschen weltweit mit Stammzellen aus Nabelschnurblut behandelt worden. Diese haben den Vorteil, dass sie seltener mit Krankheitserregern verunreinigt sind. Zudem ist bei den sehr unreifen Zellen der Abstoßungseffekt nicht so stark ausgeprägt wie bei Stammzellen von erwachsenen Spendern. Das Transplantat steht schneller zur Verfügung, da die Stammzellen nicht erst vom Spender gewonnen werden müssen. Ein Nachteil ist jedoch, dass die Zellen im Nabelschnurblut nur in begrenzter Zahl vorhanden sind.
Bei der Blutstammzelltransplantation gibt es zwei verschiedene Arten. Entweder sind Spender und Empfänger dieselbe Person (autologe Transplantation) oder die Stammzellen können von einem auf den anderen Menschen übertragen werden (allogene Transplantation). Eine autologe Transplantation ist dann nötig, wenn zum Beispiel wegen eines soliden Tumors eine Chemotherapie oder Bestrahlung durchgeführt werden muss, die das Knochenmark des Patienten zerstört. Dann werden ihm vor der Therapie Stammzellen entnommen, um sie ihm nach der Prozedur wieder zu verabreichen. Indikationen für allogene Stammzelltransplantationen sind vor allem akute und chronische Leukämien, aber auch Lymphome und Myelome. Dabei sollte eine Transplantation nur erfolgen, wenn andere Therapieoptionen nicht erfolgreich waren, zum Beispiel bei Patienten mit Rezidiven.
Den Passenden finden
Für eine allogene Blutstammzelltransplantation muss in den Spenderegistern ein passender Spender gesucht werden. Kompatibel ist ein Fremdspender, wenn er möglichst ähnliche Gewebemerkmale, die sogenannten humanen Leukozyten-Antigene (HLA), aufweist wie der Empfänger. Das HLA-System ist die Bezeichnung für den humanen Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC). Dies ist eine Gruppe von mehr als 75 Genen, die sich auf Chromosom 6 befinden. Die codierten Proteine können in die drei Klassen I, II und III aufgeteilt werden, die wichtige Funktionen in der Immunabwehr erfüllen. Aus dem HLA-System exprimiert jeder Mensch sechs Gene der Klasse I und sechs Gene der Klasse II. Von jedem dieser Genorte kommt in der Bevölkerung eine Vielzahl (in der Regel über 50) von Allelen (Genvarianten) vor. Dadurch sind mehr als 8 x 1015 HLA-Kombinationen möglich, sagte Herr.
Identische HLA-Merkmale haben nur eineiige Zwillinge. Unter Geschwistern besteht immerhin noch eine Chance von 25 Prozent, ein passendes HLA-Profil zu finden, sagte Herr. Wenn in der näheren Verwandtschaft niemand als Spender infrage kommt, muss in den Registern ein Fremdspender gesucht werden. Die Chance, fündig zu werden, liege bei etwa 80 Prozent.
Stimmen die für die Transplantation entscheidenden HLA-Merkmale von Spender und Empfänger überein, spricht man von einem HLA-identischen Transplantat. Abweichungen werden als Mismatches bezeichnet. Je größer die Ähnlichkeit ist, desto geringer ist das Risiko einer Abstoßung des Transplantats und einer Graft-versus-Host-Reaktion (Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion), bei der sich die mitübertragenen Immunzellen des Spenders gegen das Gewebe des Empfängers richten.
Übertragung der Stammzellen
Bevor der Patient die Blutstammzellen erhält, muss er für die Transplantation vorbereitet werden. In dieser Phase der »Konditionierung« wird das Knochenmark des Patienten durch eine intensive Chemo- und Strahlentherapie weitestgehend zerstört. Dies hat zwei Gründe. Zum einen schaltet dies das Immunsystem des Patienten aus, um Abstoßungsreaktionen gegen das Transplantat zu verhindern. Zum anderen sollen so möglichst alle Krebszellen vernichtet werden. Nach dieser Vorbehandlung erhält der Patient das Transplantat, das neben den Stammzellen in der Regel auch andere Blutzellen enthält, direkt in die Vene transfundiert. Es wird wie eine Blutspende aus dem Blutbeutel verabreicht, sagte Herr. »Den Weg in die Markhöhlen finden die hämatopoetischen Stammzellen dann allein.« Dort wachsen sie in der Regel an und bauen ein neues, gesundes Immunsystem auf.
Das dauert aber einige Zeit, erklärte der Mediziner. Nach einigen Wochen kommen die Neutrophilen zurück. Bis das B- und T-Zell-System wieder aufgebaut ist, kann es allerdings ein bis zwei Jahre dauern. In dieser Zeit nach der Transplantation ist der Patient entsprechend anfällig für Infektionen, vor allem durch Pilze und Viren. Die Patienten sind daher in einer geschützten, möglichst keimfreien Umgebung untergebracht und erhalten zudem eine Antibiotikaprophylaxe und Ganciclovir gegen virale Infektionen (hauptsächlich mit dem Cytomegalievirus).
Neben der Infektanfälligkeit kommt als weitere Komplikation das Risiko für eine Graft-versus-Host-Erkrankung (GvH-Erkrankung) hinzu. Hier erkennen die mit dem Transplantat übertragenen Immunzellen (vor allem T-Lymphozyten) des Spenders die Körperzellen des Empfängers als fremd und gehen gegen diese vor. Besonders stark betroffen sind in der Regel der Darm, die Haut und die Leber. Eine schwere GvH-Erkrankung kann tödlich sein. Eine Gabe von immunsuppressiven Medikamenten wie Ciclosporin soll die Reaktion in Schranken halten. Doch in mehr oder minder schwerer Form tritt eine GvH-Reaktion bei fast allen Transplantierten auf.
Die möglichen Komplikationen machen die Blutstammzelltransplantation zu einem komplizierten Eingriff. Die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Kindern liegt bei etwa 60 bis 80 Prozent. Bei Erwachsenen beträgt sie nur etwa 50 Prozent.
Transplantat bekämpft Leukämie
Obwohl die GvH-Reaktion in ihrer schweren Ausprägung tödlich sein kann, ist eine milde Form erwünscht. Denn die T-Lymphozyten und die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) des Spenders, die im Transplantat enthalten sind, greifen verbleibende Reste des Patienten-Knochenmarks an und beseitigen diese. Mediziner hatten beobachtet, dass Patienten, die eine GvH-Erkrankung überstanden hatten, deutlich seltener Rezidive erlitten, als andere Patienten. Bei Transplantationen von einem eineiigen Zwilling auf den anderen, bei denen aufgrund der HLA-Gleichheit keine GvH-Reaktion auftritt, kam es in 60 Prozent der Fälle zu Rezidiven. Die T-Zellen des Transplantats helfen, verbliebene Tumorzellen des Patienten zu beseitigen, was als Graft-versus-Leukemia-Effekt (GvL) bezeichnet wird, erklärte Herr. »Ein optimaler Graft-versus-Leukemia-Effekt lässt sich nur bei einer milden Form der Graft-versus-Host-Erkrankung erreichen.«
Dieser Effekt der T-Zellen hat zu einem Umdenken in der Stammzelltransplantation geführt. Bislang galt: Je vollständiger das Knochenmark beseitigt wird, desto stärker sind zwar die Nebenwirkungen, aber desto geringer fällt das Rezidiv-Risiko aus. Nun gehen Mediziner verstärkt zu einer Transplantation mit weniger aggressiver Vorbehandlung über, die für den Patienten deutlich besser verträglich ist. Die reduzierte Konditionierung soll vor allem das Immunsystems unterdrücken und nicht sämtliche Krebszellen zerstören. Das verbleibende Knochenmark inklusive der Tumorzellen des Patienten wird dann von den Spenderimmunzellen beseitigt. »Hier hat ein echter Paradigmenwechsel stattgefunden«, sagte Herr. Vorteil der milderen Konditionierung ist, dass nun auch Patienten behandelt werden können, die früher wegen zu hohen Alters, Infektionen oder schlechtem Allgemeinzustand keine Transplantationen erhalten konnten.
Ein weiterer Weg, die Blutstammzelltransplantation zu optimieren, ist, die T-Zellen aus dem Transplantat zu entfernen, da diese in erster Linie für die GvH-Erkrankung verantwortlich sind. Doch bei dieser T-Zell-Depletion steigt das Rezidiv-Risiko drastisch an, weil auch der gewünschte Graft-versus-Leukemia-Effekt geschwächt wird. Rezidive lassen sich aber vermeiden, indem dem Patienten wenige Wochen nach der Transplantation T-Lymphozyten des Stammzellspenders infundiert werden. »Das beseitigt die Rezidive«, sagte Herr. Er arbeitet mit seiner Mainzer Arbeitsgruppe an weiteren Möglichkeiten, den Graft-versus-Leukemia-Effekt zu optimieren. So ließen sich die Spenderlymphozyten zum Beispiel vor der Transfusion speziell gegen Leukämiezellen aktivieren.